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03.12.2009
Mittelfranken
Unaufgeklärte Episode aus der Geschichte der Rechtschreibreform
Im Jahre 1997 reichte die Junge Union Mittelfranken bei der bayerischen Staatsregierung folgenden Text ein:
»Junge Union
Bezirksverband Mittelfranken
Geschäftsstelle Mittelfranken
Ansbacher Str. 20
91413 Neustadt
Beschluß der Bezirksvorstandschaft vom 17.09.1997
Beschluß:
Die Bezirksvorstandschaft der Jungen Union Mittelfranken spricht sich nachdrücklich gegen die geplante Rechtschreibreform aus
Begründung:
Die deutsche Sprache ist wie jede Sprache etwas Gewachsenes. Sie kann nicht so einfach und radikal „verbessert“ werden.
Die Reform stellt zudem keine Vereinfachung dar, wie vielfach behauptet wurde, sondern sorgt nur für Verwirrung. Die Regeln sind kompliziert und in sich widersprüchlich („Es tut mir weh : „Es tut mir Leid“, „segelfliegen“ : Rad fahren“). Weiterhin sind extrem viele Ausnahmen zu diesen Regeln zu finden, was die Rechtschreibung nicht eben vereinfacht.
Eine wirkliche Vereinfachung wäre es zum Beispiel gewesen, das unbeliebte ß ganz durch ss zu ersetzen. Statt dessen soll es nach kurzem betontem Vokal wegfallen (Fass statt Faß, Fluss statt Fluß, aber: Maß, fließend). Da in den verschiedenen Regionen Deutschlands unterschiedliche Dialekte und Sprachweisen verbreitet sind, dürfte es schwer werden, diese Regelung durchzusetzen.
Eine weitere Schwierigkeit taucht bei der Schreibung von Fremdwörtern auf. Fremde Worte werden ungeachtet ihrer Herkunft eingedeutscht. Dies entspricht nicht dem europäischen Geist. Man sollte entweder mehr Respekt vor anderen Sprachen haben, oder gleich so konsequent wie Frankreich auf eine reine Sprache achten (Delphin : Delfin, Spaghetti : Spagetti. Thunfisch : Tunfisch, Orthographie : Orthografie, aber: Apotheke, Strophe).
Für die Bevölkerung ergeben sich Nachteile: Ältere Mitbürger müssen sich radikal umstellen, da ansonsten eine Schüler- und Amtssprache entsteht. Im ungünstigsten Fall gibt es dann also zwei deutsche Sprachen, wie dies in der „Dresdner Erklärung der Kultusministerkonferenz zur Neuregelung der Rechtschreibung“ vom 24./25 Oktober 1996 in Punkt 2 erwähnt ist („Tatsächlich betrifft die geplante Neuregelung ausschließlich das Schreiben in Behörden und Schulen“). Dies sollte nicht die Absicht dieser „Reform“ sein.
Es erscheint unsinnig, ein Vorhaben, mit derart weitreichenden finanziellen Konsequenzen zu realisieren. Schließlich müssen nicht nur die Lese- und Sprachbücher in den Schulen ausgetauscht werden, was ja sowieso einen immensen Kostenaufwand bedeutet, sondern nach und nach die gesamte Literatur. Wie sonst soll man es einem Schulkind erklären, daß das Jugendbuch, das es gerade liest, falsch geschrieben ist?
Zu kritisieren ist auch die Vorgehensweise der Kultusministerkonferenz. Bis zur „Gemeinsamen Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ wurde jede ernsthafte öffentliche Diskussion darüber vermieden. Dies ist den Verantwortlichen insofern vorzuwerfen, als die Neuregelung jeden Bürger betrifft. Diese Vorgehensweise fördert die so oft beklagte Politikverdrossenheit.
An vielen Schulen wird bereits nach der neuen Rechtschreibung unterrichtet, was angesichts des offiziellen Einführungstermins am 01.08.98 ebenfalls auf Unverständnis stößt.
Bei näherer Betrachtung entsteht also der Eindruck, daß diese Reform eine „Kabarettnummer“ oder auch ein „politisches Intermezzo“ darstellt.
Das Einführungsdatum für die Rechtschreibreform ist auf den 01.08.1998 festgelegt. Es ist also noch nicht zu spät, die Neuregelung zu stoppen. Daher sind die Schul- und Wörterbuchverlage, die bereits nach den neuen Regeln arbeiten, auch keineswegs zu bemitleiden bezüglich der nach den neuen Regeln gedruckten Auflagen und des ihnen durch Rücknahme der Bücher eventuell entstehenden Schadens, da alle Neuausgaben mit veränderter Rechtschreibung auf eigenes Risiko entstanden sind. Hinzu kommt, daß sich auch die neuen Regelungen durch Überarbeitung ständig ändern, so daß letztlich die „neuen“ Schulbücher auch schon wieder veraltet sind. Dies gilt ebenso für die Wörterbücher (z.B. Duden etc.).
Die Junge Union Mittelfranken wendet sich nicht gegen eine Vereinfachung der Rechtschreibung. Sie hat jedoch weder für eine unverständliche, unlogische und gewaltsame Umschreibung der Rechtschreibregeln Verständnis, noch für die seltsame Vorgehensweise der Kultusministerkonferenz bei der Durchsetzung der Neuregelung.«
Dazu hatte ich auf Wunsch der stellvertretenden Vorsitzenden Stephanie Jacobs (natürlich gratis) ein ausführliches Gutachten verfaßt, das dem Text beigegeben wurde.
Nur zufällig erfuhr ich einige Zeit später, daß der Bezirksverband diese Eingabe zurückgenommen hatte, und nebenbei auch, daß Markus Söder dazu beigetragen haben soll, der wahrscheinlich seine Karriere nicht gefährden wollte. Der Bezirksverband hielt es nicht für nötig, mich von der Rücknahme zu benachrichtigen.
Mir fiel diese Episode wieder ein, weil die bayerische Bevölkerung dem Gesundheitsminister Söder gerade eine "schallende Ohrfeige" (Presse) verabreicht hat und dem Ministerpräsidenten Seehofer gleich dazu. Zur Erläuterung für Nichtbayern sei gesagt, daß sehr viele Bürger gar nicht so sehr wegen der geringfügigen Unterschiede der alternativen Raucherschutzgesetze abgestimmt haben, sondern wegen der Ohrfeige. Söder hat vorab bekanntgegeben, daß ihn das Votum der Bevölkerung nicht im mindesten beeindrucken werde, und damit bewiesen, daß er die Ohrfeige verdient hat. Hier in Erlangen und besonders meinem lieben Spardorf haben 25 Prozent gegen die Regierung votiert, es sind eben besonders gescheite Leute (Universität, Siemens, ...). Nun wird es zu einem kostspieligen Volksentscheid kommen, und da die Nichtraucher leichter zur Abstimmung zu motivieren sind als die Raucher, wird es wohl eine weitere Watschn geben.
Übrigens habe ich den Eindruck, daß das von Seehofer durchgesetzte Milliardengeschenk für die Hoteliers auch die Bundesregierung bzw. die Koalition einen so hohen Preis kosten wird, wie sie es wohl selbst nicht für möglich gehalten hat. So schnell kann es abwärts gehen!
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Kommentare zu »Mittelfranken« |
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.12.2009 um 07.09 Uhr
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Wenn der Volksentscheid in Bayern Erfolg haben sollte, wird es interessant sein zu beobachten, ob der bayerische Landtag dem Vorbild des schleswig-holsteinischen folgt und die Volksgesetzgebung nach einigen Monaten aus den Angeln hebt. Es läge ganz auf der Linie Seehofers und Söders.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.07.2010 um 09.25 Uhr
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Markus Söder hat gestern den Bayerischen Verdienstorden bekommen. Antragsberechtigt ist das bayerische Kabinett. Ihm gehört Söder als Umwelt- und Gesundheitsminister an.
Wie die Süddeutsche Zeitung sagt, werden die Gründe der Auszeichnung weder der Öffentlichkeit noch dem Ausgezeichneten mitgeteilt.
Jeder dritte CSU-Landtagsabgeordnete hat diesen Orden, von den übrigen Parteien nur ein verschwindende Anzahl.
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Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 30.07.2010 um 11.37 Uhr
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Mehr Freude geht sicherlich von der Verleihung des Ordens wider den tierischen Ernst aus. Da geht es parteipolitisch gerechter zu, und man erkennt auch gleich die wirklichen Schwergewichte. In den letzten gut 20 Jahren zeichnete der Aachener Karnevalsverein folgende CSU-Politiker mit seinem Orden aus: Franz Josef Strauß (1989), Theo Waigel (1997) und Edmund Stoiber (2000). Nur wenn Markus Söder sich da eines Tages einreihen kann, hat er eine gute Figur gemacht.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.06.2011 um 09.33 Uhr
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Die Frauenbeauftragte der Universität schickt ein Schreiben der Staatsregierung herum, in dem die Absicht bekundet wird, mehr Frauen mit Orden auszuzeichnen. Darin heißt es:
"Nach wie vor werden Leistungen von Frauen oft weniger wahrgenommen als Leistungen von Männern."
Das kann man so nicht sagen. Die Leistungen von Herrn Söder zum Beispiel wurden überhaupt nicht wahrgenommen, obwohl er ein Mann ist.
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Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 17.06.2011 um 13.01 Uhr
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Dagegen wurde durchaus anerkannt, was sich Herr Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg geleistet hat (Orden wider den tierischen Ernst verliehen 2011). Wikipedia: "Mit Tatendrang und Tacheles bringe er Politikerkollegen ins Schwitzen und Bürger zu Begeisterungsstürmen. Sich selber nehme er erfrischend wenig wichtig."
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Kommentar von R. M., verfaßt am 17.06.2011 um 13.24 Uhr
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Die Leistungen von Frau Koch-Mehrin wurden auch nicht wahrgenommen, obwohl sie blond ist.
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Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 17.06.2011 um 17.36 Uhr
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Einspruch, Herr Markner!
Die Leistungen der Frau Koch-Mehrin wurden sehr wohl und zudem sehr unterhaltend wahrgenommen. Neben Silvanas Tortenrezept (auf das ich hier in einem anderen Strang verwiesen habe), werden ihre Solidaritäts-Ouzos und vor allem ihr besonderes Talent im Schätzen der deutschen Staatsverschuldung (vorübergehend) im kollektiven Unterhaltunsgedächtnis bleiben.
(Ob man sich freilich ihre Leistungen wegen der blonden Haare umso leichter merken kann, vermag ich nicht zu sagen.)
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.06.2012 um 08.34 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1255#20906
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Markus Söder, inzwischen bayerischer Finanzminister (warum nicht!), hat sinngemäß verkündet: Wir respektieren den Volksentscheid gegen die dritte Startbahn des Münchner Flughafens, aber die Planungen der Staatsregierung gehen selbstverständlich unverändert weiter. Auch Ministerpräsident Seehofer weiß, daß die Startbahn gebaut wird. Gleichzeitig wirbt er für Volksbegehren in Europafragen, aber sicher nur, um die Bundeskanzlerin zu ärgern. Man muß mitverstehen: Natürlich werden wir uns an Volksentscheide nicht halten.
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Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 20.06.2012 um 22.29 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1255#20913
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Leute wie Söder brauchen nur ein paar Journalisten, die singemäß Dinge über ihn schreiben, wie: "Er steht auch zu unpopulären Maßnahmen, ..." oder: "Er schwimmt nicht mit dem Mainstream mit ...", und schon wird er zur Lichtgestalt. So einfach ist das.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.07.2015 um 12.24 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1255#29424
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Neulich sollte hier wieder mal der "Tag der Franken" begangen werden. Der Erlanger Oberbürgermeister hatte schon vorab verkündet, so ein Tag sei nicht nötig. Die Erlanger haben das Ganze denn auch kaum beachtet, nicht geflaggt usw. Die beiden Staatsminister und Rechtschreibkünstler Herrmann und Söder (beide wollten in jungen Jahren mal was gegen die Rechtschreibreform tun, haben es aber dann vergessen) nutzten die Gelegenheit, sich dem Volk zu zeigen. In einer nun wieder von der SPD regierten Stadt ist das nötig. Andere Aborigines (O-Ton Leserbrief) bedauerten, daß viel Weißblau und ganz viel Migrationshintergrund zu sehen war. Unsere Töchter hatten als kleine Mädchen viel Freude an jenem Wanderwort, dessen hiesige Variante so geht:
It's nice to be a Preiß.
it's higher to be a Bayer,
but the highest you can denk
is to be a Middlefrank.
Der Tag der Franken erinnert mich an den "Hessentag" aus meiner Kinderzeit. Der war geschaffen worden, um das Nachkriegsgebilde Hessen mit den vielen Heimatvertriebenen aus den Ostgebieten zusammenzuführen. Entsprechendes Brauchtum wurde auch entwickelt.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.03.2017 um 18.10 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1255#34666
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Heute las ich bei nordbayern.de zwei Leserbriefe:
Es geht um Kleinkinder im Grippenalter
Es geht um den Transport von Kindern aus Kindergrippen.
Dann stellte ich fest, daß es bei Google Tausende von Belegen gibt. Liegt wohl daran, daß Krippen kaum noch bekannt sind oder die Metapher nicht mehr lebendig ist.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.12.2017 um 10.50 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1255#37181
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Aus gegebenem Anlaß (s. Haupteintrag) habe ich seit 20 Jahren ein Auge auf Markus Söder. Seine Strategie bestand darin, alle paar Wochen mit irgend etwas in die Presse zu kommen, so daß er die ganze Zeit wahrgenommen und schließlich unübersehbar und unübergehbar wurde. Nun steht er vor dem Ziel seiner Wünsche: bayerischer Ministerpräsident zu werden.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.10.2018 um 06.25 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1255#39777
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Zu Söder und auch zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=592#25981
Söder zeigt sich gern im Trachtenjanker (https://www.facebook.com/markus.soder.75/photos/pcb.1207726519301023/1207726285967713/?type=3&theater), allerdings nicht in der Tracht seiner Heimat. Ein Besucher stellt denn auch fest, daß die Jacke ihm nicht steht. Sie wirkt ein bißchen wie die vielen Faschingsverkleidungen, für die Söder bekannt ist. Beliebter hat es ihn nicht gemacht.
Schwierige semiotische Frage: Ist Tracht zeichenhaft? Überhaupt Verkleidung (eine Form der Verstellung, Simulation), Mimikry.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.09.2020 um 05.53 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1255#44238
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Zum Haupteintrag:
Die Münchner Gesundheitsreferentin Stephanie Jacobs wechselt ins Staatsministerium für Gesundheit. (1.9.20)
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.04.2023 um 19.06 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1255#50873
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In Erlangen stellte ein Radfahrer eine Radfahrerin, die ihm auf dem Radweg in der falschen Richtung entgegenkam, zur Rede, und es entwickelte sich eine Diskusssion, die auch die Polizi nicht schlichten konnte. „Welchen Inhalt das nahezu fünfstündige Wortgefecht hatte, konnten die Polizeibeamten nicht ermitteln. Nachdem beide Parteien auch nach Ansprache durch die Polizeibeamten nicht einsichtig waren, erhielten sie einen Platzverweis.“
(Das Ganze wohlgemerkt nachts zwischen halb elf und halb vier!)
Tja, wir Middlefranks machen alles gründlich!
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