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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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05.11.2009
 

Das Sprachsystem
Tautologische Argumentation

Eine Germanistin schreibt:
"Die Unsicherheiten im Kasusgebrauch bei einzelnen Präpositionen sind also darauf zurückzuführen, dass das Sprachsystem zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch zwei Optionen zulässt."

Solche Pseudoerklärungen findet man oft. Das Sprachsytem wird hypostasiert und tritt dann als Instanz auf, die über den Sprachgebrauch entscheidet. In Wirklichkeit ist es zweimal dasselbe, eine Tautologie.



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Kommentare zu »Das Sprachsystem«
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Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 06.11.2009 um 09.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1239#15220

Die Kritik, die Sprache werde unpassend als eine autoritäre, separate Instanz dargestellt, mag zutreffen, aber die Argumentation ist deshalb nicht gleich tautologisch. Wenn man den Satz um diese Zutat bereinigt, bleibt übrig: "Die Unsicherheiten im Kasusgebrauch bei einzelnen Präpositionen sind also darauf zurückzuführen, dass es tatsächlich mehrere Optionen gibt."

Optionen ziehen schwankende Entscheidungen nach sich; oder: Wahlmöglichkeit erzeugt Unsicherheit, jedenfalls mehr Unsicherheit als Eindeutigkeit. Das ist banal, aber ebenfalls nicht tautologisch. So erlebe ich es auch selbst: Ich frage mich, welcher Kasus besser geeignet ist, und ich frage mich auch oft, warum ich mich schlecht entscheiden kann. Dann verschaffe ich mir ein Bild über den allgemeinen Gebrauch und finde die Antwort: "Ach so, es gibt tatsächlich beides – deshalb war ich unsicher."
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 06.11.2009 um 12.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1239#15222

"Die Unsicherheiten im Kasusgebrauch bei einzelnen Präpositionen sind also darauf zurückzuführen, dass es tatsächlich mehrere Optionen gibt."

Aber das ist doch gerade die Tautologie, lieber Herr Wrase. Um unsicher zu sein genügt es zu glauben, daß es mehrere Optionen gibt. Ob die Germanistin diese Auffassung teilt, ist unerheblich.
 
 

Kommentar von Aus Gründen namenlos, verfaßt am 06.11.2009 um 12.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1239#15223

Das eigentlich Störende ist dieses "noch". Es suggeriert, daß irgendwann einmal ein Zustand der Sicherheit, also der Einheitlichkeit existieren wird bzw. sogar soll.

Vielleicht irre ich mich da, aber meiner Ansicht nach beißt sich diese Auffassung gänzlich mit einem jedweden Hypostasieren:

Entweder ich erkenne das Sprachsystem als "naturgegebenes" System. Dann kann ich es beschreiben. Dann muß ich mich aber nicht wundern, wenn es für mich – zum gegenwärtigen Zeitpunkt – Ungereimtheiten bereithält, die ich noch erkunden muß. Letztlich werde ich Uneinheitlichkeit im System dadurch aber nicht ausmerzen, sondern durch besseres Verständnis eine Variable zum Parameter machen.

Oder aber, ich erhebe ein von mir erkanntes Sprachsystem aktiv in den Rang einer Instanz, die ich nutzbar mache und nicht bloß beschreibe. Dann ist es ab einem gewissen Punkt der Kenntnis kein System mehr, daß ich überhaupt noch beschreiben muß. Dann muß ich mich nämlich über nichts augenscheinlich Merkwürdiges im System mehr wundern, denn dann kann ich Wunderliches selbst austilgen. Das Sytem dient mir dann nur als grobe Skizze.

Wenn ich jedoch das naturgegebene System als Instanz per se ansehe, dann muß ich nicht mit diesem "noch" ankommen; das kann mir dann egal sein, denn dann muß ich damit leben, daß es ein gewisses Maß an Uneinheitlichkeit gibt. Und das werde ich auch können.

Wenn ich also feststelle, daß das System für die Anwendung einerseits Unbestimmtes bereithält, und dann noch feststelle, daß das System sozusagen noch Unbestimmtes bereithält – dann hab ich wirklich zweimal dasselbe gesagt.

Ist es das, was Sie meinten, Herr Ickler?

Abgesehen davon bildet doch erst der Sprachgebrauch das Sprachsystem, und nicht umgekehrt. Oder bin ich jetzt total verwirrt...?
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 06.11.2009 um 12.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1239#15224

Wir sind versucht, banale Zusammenhänge zwischen A und B als so selbstverständlich anzusehen, daß wir keinen Unterschied zwischen A und B anerkennen wollen und dann sagen: "Das ist doch dasselbe" oder "eine Tautologie".

Anna freut sich, wenn sie Bernd sieht, weil Anna Bernd liebt. Das ist banal, aber doch nicht dasselbe. Der Zusammenhang ist nicht ganz selbstverständlich. Es könnte ja auch sein, daß Anna aus demselben Grund in Sorge gerät, wenn sie Bernd sieht, oder daß sie sich dann schämt, oder, oder, oder. Wenn man genauer hinsieht, handelt es sich nicht um einen zwingenden Zusammenhang und deshalb auch nicht um eine Tautologie.

Freilich kann man nun die mehr oder weniger große Selbstverständlichkeit eines Zusammenhangs herauskehren, indem man der Deutlichkeit halber zuspitzend von einer Tautologie redet. So verstehe ich Professor Ickler.

Wir können uns hier nicht einig werden, weil nicht klar ist, was die Verfasserin mit "Unsicherheiten" gemeint hat. Wenn sie damit nur die Variation des Gebrauchs meint, sind wir schon näher dran an der Tautologie. Wenn sie die mehr oder weniger bewußt wahrgenommene Unsicherheit von Schreibern meint, die sich bei der Entscheidung für einen Kasus schwertun (zum Beispiel bei der Abfrage im Rahmen einer systematischen Untersuchung des Sprachgebrauchs, wie sie die Verfasserin vielleicht angestellt hat), kann man kaum von einer Tautologie sprechen; auf diesen Fall habe ich mich mit meiner eigenen Erfahrung bezogen.

Übrigens erzeugt nicht das Wissen um die Wahlmöglichkeit Unsicherheit; ich habe beschrieben, daß eher das Gegenteil zutrifft (Erleichterung). Unsicher fühlt sich der Schreiber, wenn er sich nicht sicher ist, daß es tatsächlich eine Wahlmöglichkeit gibt, und anhand seiner überwiegenden Erfahrung vermutet, daß es nur eine richtige oder zumindest nur eine gute Wahl gebe.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 07.11.2009 um 11.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1239#15225

In Wirklichkeit ging es Professor Ickler ja um die Feststellung, daß "das Sprachsystem" nichts anderes ist als die Sprache, wie sie gebraucht wird. Die Sprache ist die Sprache, das ist die Tautologie.

Man kann aber auch daran zweifeln. Soll man etwa die verstümmelten Äußerungen eines Betrunkenen zum "Sprachsystem" rechnen, die ersten Versuche von Kleinkindern und das Radebrechen von Ausländern, die sich erst ein paar Brocken angeeignet haben? Gibt es nicht auch so etwas wie einen fehlerhaften Gebrauch?

Gemeinhin geht man doch davon aus, daß es bestimmte grammatische Konstruktionen gibt; wer anders spricht, tut etwas, was "das Sprachsystem" eigentlich nicht erlaubt. Die Grenzen des "Erlaubten", des Üblichen sind dabei nicht scharf bestimmbar.

Gerade las ich auf SPIEGEL Online, formuliert von Hasnain Kazim, der immerhin schon ein autobiographisches Werk veröffentlicht hat: Sicherheit hat seinen Preis.

www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,659202,00.html

Die Google-Suche ergibt für diesen Satz 87 Treffer. Der Satz Sicherheit hat ihren Preis ist mit ungefähr 22.000 Fundstellen ausgestattet.

Diesem ...hat seinen Preis auch bei einem femininen Subjekt begegnet man zwar nicht täglich, aber doch hier und dort.

Ähnlich die Kasuswahl bei bestimmten Präpositionen: Teilweise gibt es zwei brauchbare Möglichkeiten, in anderen Fällen mutet ein selten verwendeter Kasus falsch an. Auf diese Unterscheidung zwischen etablierter Varianz und vereinzelten Ausrutschern bezog sich möglicherweise die tautologisch klingende Feststellung unserer Germanistin.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 08.11.2009 um 05.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1239#15226

Darüber zu sinnieren, was die zitierte Germanistin gemeint haben mag, bleibt fruchtlos, solange der Zusammenhang nicht näher bekannt ist.
So wirkt die zitierte Äußerung auf mich doch stark tautologisch. Sie klingt auch stark nach Imponiergehabe. Was ist denn dieses abstrakte "Sprachsystem"? Doch wohl nichts anderes als der Sprachgebrauch, der in manchen Fällen eben nicht einheitlich ist.
Ein uneinheitlicher Sprachgebrauch bewirkt ja auch nicht notwendigerweise eine subjektive Unsicherheit. Ich verwende wegen und trotz immer mit dem Genitiv, obwohl ich weiß, daß viele den Dativ verwenden. Ich sage auch immer größer als und empfinde größer wie als "falsch", obwohl ich weiß, daß seit jeher viele das so sagen und gesagt haben (z.B. Bismarck) und auch nicht wenige größer als wie sagen.
Eine viel wichtigere Quelle der Unsicherheit scheinen mir neue oder selten gebrauchte Wörter und Formen zu sein.
Was ist der Konjunktiv von schwimmem? Schwömme oder schwämme? Wenn ich mich da unsicher fühle, dann nicht weil das "Sprachsystem zwei Optionen zuläßt", sondern weil ich eine derartige Form noch nie gehört habe.
Eine andere Quelle der Unsicherheit liegt in der Willkür bei der Verwendung der Dehnungsbuchstaben. Gelegentlich muß ich selbst bei Wörtern, die ich zigmal gesehen habe, überlegen: Kommt da ein Dehnungs-h rein oder nicht? Heißt es gebären oder gebähren? Ach richtig: man schreibt doch geboren, also auch gebären. Vielleicht leide ich ja an einer leichten Form von Legasthenie.
Dann gibt es die Wörter, die man hört aber nie liest, und die, die man liest aber nie hört. Eines der wenigen unvergeßlichen Bildungserlebnisse im Deutschunterricht war für mich die bei der Lektüre von "Götz von Berlichingen" gewonnene Erkenntnis, daß man A.... mit r schreibt.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 08.11.2009 um 09.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1239#15227

Die Frage ist einerseits, ob die Germanistin ein "Sprachsystem" konstruiert hat, das eigentlich nichts anderes ist als der Sprachgebrauch.

Ist ihre Argumentation, abgesehen davon, tautologisch, ein Zirkelschluß? Mir kommt es nicht so vor. Um die Frage zu beantworten, muß man zunächst ihre Aussage um die fragliche Formulierung bereinigen, zum Beispiel: "Die Unsicherheiten im Kasusgebrauch sind darauf zurückzuführen, dass die Sprache zwei verschiedene Konstruktionen erlaubt."

Fall 1:
Ich werde gefragt, ob es heißt dank seinem Einsatz oder dank seines Einsatzes. Ich könnte antworten: "Beide Konstruktionen sind erlaubt, die Sprache hält beide Optionen bereit."

Fall 2:
Ich werde gefragt (das kommt tatsächlich ab und zu vor), ob es heißt seinem engagiertem Einsatz oder seinem engagierten Einsatz. Ich antworte: Richtig ist engagierten.

In beiden Fällen ist der Schreiber unsicher. Im ersten Fall deshalb, weil es zwei Konstruktionen zur Auswahl gibt. Im zweiten Fall ist er unsicher, obwohl es nur eine richtige Konstruktion gibt.

Es gibt also auch einen zweiten Fall. Deshalb ist die Argumentation in unserem Zitat (nach meinem Geschmack) kein Zirkelschluß. Tautologisch könnte man sie dennoch nennen, nämlich dann, wenn vorausgesetzt wird, daß nur Fall 1 betrachtet wird.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 09.11.2009 um 08.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1239#15228

Lieber Herr Wrase,

welchen Unterschied macht es, ob man "dass das Sprachsystem .... zwei Optionen zulässt" oder "dass die Sprache zwei verschiedene Konstruktionen erlaubt" oder "die Sprache hält beide Optionen bereit" sagt? Bestenfalls handelt es sich um metaphorische Redeweisen, sonst um irreführende Verdinglichung oder Scheinobjektivität.

Ob hier eine Tautologie vorliegt oder nicht, hängt doch allein davon ab, was die zitierte Germanistin unter "Unsicherheiten" versteht. Da wir die Quelle des Zitats nicht kennen, könnte uns wohl nur Prof. Ickler in dieser Frage weiterhelfen. Da er in Kenntnis des Zusammenhangs eine Tautologie empfunden hat, spricht eine begründete Vermutung dafür, daß er recht hat.

Was Ihr zweites Beispiel anbetrifft, so würde ich zögern, mit einem apodiktischen "richtig" oder "falsch" zu antworten. Wenn die Antwort so eindeutig wäre, so wäre es doch etwas rätselhaft, warum überhaupt eine "Unsicherheit" bestehen kann.

Ich hätte vielleicht eher geantwortet: Das hängt davon ab, ob Sie seinem engagierten Einsatz oder seinem, engagiertem Einsatz meinen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.11.2009 um 16.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1239#15229

Ich war ein paar Tage verreist, daher schalte ich mich erst jetzt wieder ein. Herr Wrase hat eigentlich den Weg schon gewiesen, auf dem man die Argumentation allenfalls retten könnte. (Er ist im konkreten Fall nicht gangbar, aber ich will das auf sich beruhen lassen, es ist ja ohne allgemeineres Interesse.) Das geht so: Die Unsicherheit des einzelnen Sprechers erklärt sich daraus, daß die anderen es mal so und mal so machen. Letzteres ist der Usus. Deshalb kann ich auch kein Problem darin sehen, daß es Versprecher, betrunkenes Gestammel und kindliche Fehler gibt, denn sie sind ja gerade wegen ihrer Irregularität auffällig und erkennbar. Der Usus ist das Übliche.

Und das ist nun ein sehr wichtiger Gesichtspunkt, denn er widerlegt die Ansicht von Generativisten (das sind die Chomsky-Anhänger), man müsse die Sprecher befragen und dürfe sich nicht auf Textbelege oder Korpora verlassen, denn diese enthielten ja auch Fehler. Selbst der kluge Manfred Bierwisch (einer unserer Mitstreiter) hat mal sinngemäß argumentiert: Wenn es keine angeborenen Sprachprinzipien gäbe, könnte das Kind niemals die Semantik von Dimensionsadjektiven lernen, denn die tatsächliche Rede enthält nicht nur Äußerungen wie "siebzehn Jahre alt", sondern auch abweichende wie "siebzehn Jahre jung". Solche Abweichungen sind aber meistens durch besondere Signale als abweichend markiert, so daß das Argument nicht zieht. Alle Daten, die das Kind zum Spracherwerb braucht, sind im Usus seiner Umgebung enthalten.

Und hier knüpfe ich gleich einen neuen Tagebucheintrag an, der sich mit Nature und Nurture beschäftigt (s. Tagebuch).
 
 

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