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24.06.2009
Kritischer Deutschunterricht
Eine Erinnerung
Vom geistigen Klima der siebziger Jahre, als die Pläne zur Rechtschreibreform reiften (Frankfurter Kongreß "vernünftiger schreiben"), können sich Jüngere kaum eine zutreffende Vorstellung machen.
Vor mir liegt:
Kritisches Lesen – Lesebuch für das 6. Schuljahr. Diesterweg 1975. Darin ist Mao Tse-tungs "Yü Gung versetzt Berge" abgedruckt, also die chinesische Fabel mit aktueller Anwendung von 1945. Die Einleitung schließt: "Maos Appell blieb nicht ohne Wirkung: im August 1945 mußten die Japaner kapitulieren; im Jahre 1949 konnte sich das chinesische Volk nach einem dreijährigen Bürgerkrieg auch von den einheimischen Unterdrückern befreien."
Glückliches chinesisches Volk! Über Mao war auch damals schon alles Nötige bekannt. (In Marburg, wo ich damals Griechisch-Lektor war, gab es eine maoistische Buchhandlung, in der man die wunderlichsten Veröffentlichungen aus dem roten Paradies kaufen konnte, alles spottbillig natürlich.)
Als Frage zum Text fällt den Herausgebern des "kritischen" Lesebuches nur ein: "Warum bedient sich der Redner eines Gleichnisses? Wozu möchte er auffordern?" Stalin war passé, aber die chinesische Diktatur erschien vielen durchaus als Vorbild.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.10.2017 um 18.02 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1179#36820
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Der Standpunkt des alten Materialismus ist die bürgerliche Gesellschaft; der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft, oder die gesellschaftliche Menschheit. (10. Feuerbach-These)
Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen.
Diese typische „Spiegelung“ zweigliedriger Ausdrücke (Antimetabole) haben die Marx-Anhänger dann nachgeahmt. Auch kleinere Geister können so immer ein Pointe herausschlagen.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.10.2017 um 17.51 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1179#36818
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Noch eine Erinnerung aus jener Zeit (1968):
Die Germanistik verhindert die Reflexion auf den Warencharakter literarischer Erzeugnisse, den sie im Spätkapitalismus zwangsläufig annehmen: Durch ihr immanentes Vorgehen verfällt sie dem Fetischcharakter der zu Waren gewordenen geistigen Produkte, insofern sie deren Geschichte nicht dechiffrieren kann... („Schafft die Germanistik ab!“ Basisgruppe Walter-Benjamin-Institut 1968) (1968 – Eine Enzyklopädie. Frankfurt 2008:434)
Unendliche Mengen Papier wurden mit solcher Kilometerware bedruckt, mit den Kennwörtern in jeder Zeile.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.01.2017 um 03.42 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1179#34362
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In welchem Klima die Rechtschreibreform entstand, kann man sich heute kaum noch vorstellen, deshalb einige Zitate aus einem damals sehr einflußreichen Buch:
Heinz Ide (Hg.) (1970/72): Bestandsaufnahme Deutschunterricht. 3., unv. Aufl. Stuttgart 1970/72
„Die demokratische Reform hingegen setzt die radikale Kritik der Inhalte voraus, damit ein demokratisches Bewußtsein einer demokratisch werdenden Gesellschaft die demokratische Schule schaffen kann.“
Literaturunterricht „soll nicht mehr integrieren, sondern emanzipatorische Funktion haben, er soll nicht der inneren Bereicherung der Individualität dienen, sondern den Lernenden zu rationaler Einsicht in den gesellschaftlichen Werdegang führen, damit er als Erkennender und Denkender fähig wird, kritisch die eigene Gegenwart zu messen und die in ihr angelegten Möglichkeiten der Zukunft zu begreifen, an der er mitwirken soll.“
„Im emanzipierenden Deutschunterricht, d. h. in einem Deutschunterricht, der autonome, gegen absichtliche oder faktische Manipulation durch Sprache und Literatur immunisierte Menschen heranbilden soll, müssen Sprache und Literatur als Herrschaftsinstrumente betrachtet und behandelt werden. Da Herrschaft immer auch mit Hilfe von Sprache praktiziert wird, ist solch gleichzeitig aufklärender und gegen das Beherrschtwerden wappnender Deutschunterricht nicht nur wünschenswert, sondern unbedingt erforderlich, wenn man durch Unterricht und Erziehung dazu beitragen will, daß die Verbrechen von Auschwitz nicht noch einmal begangen werden können.“
Reste dieses Eifers findet man heute in der Politischen Korrektheit und dem Gender mainstreaming, aber die wahnsinnige Überschätzung des Deutschunterrichts nicht mehr.
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Kommentar von W. U., verfaßt am 25.06.2009 um 10.47 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1179#14683
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Ich war zu dieser Zeit Schüler und fand Fragen wie "Warum bedient sich der Redner eines Gleichnisses?" eigentlich vollkommen deplaziert. Heute schreibe ich selbst sehr viel und bediene mich gerne mancher Gleichnisse, aber warum ich das tue, weiß ich nichtmal selber genau. Solche Hermeneutik bei Sextanern fördert nur die Schwallerei.
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Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 24.06.2009 um 10.24 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1179#14677
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Ganz recht, Herr Wrase – und dabei hat unsere Demokratie das dieser Tage ausgiebig gefeierte Glück, daß ihr "Niveau" durch Jürgen Habermas "verbessert" worden ist. So jedenfalls steht es im Feuilleton der SZ vom 18. Juni. Wie sähe die Demokratie ohne Jürgen Habermas aus? Nicht auszudenken!
Das ist zwar kein Gegenstand der Sprachforschung, aber vielleicht doch.
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Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 24.06.2009 um 09.43 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1179#14676
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Mindestens so merkwürdig ist das heutige geistige Klima in Deutschland, in der die Rechtschreibreform durchgesetzt und aufrechterhalten werden konnte. Motto: "Im Jahr 1996 wurde das Volk von seiner traditionellen Rechtschreibung befreit." Oder: "Zwar war das Volk mit der Reform nie einverstanden, ist aber der Meinung, daß sie nicht abgeschafft werden kann." Und so etwas nennt sich Demokratie. Hallo?
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