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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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25.05.2005
 

Dialektik der Empörung

Die Schriften der Reformer, besonders der Frühzeit, glühen von heiligem Zorn gegen den Duden.
Noch heute empören sie sich gern über die Standardbeispiele radfahren/Auto fahren, in bezug/mit Bezug und sitzenbleiben/sitzen bleiben.

Aber genau besehen, sind der Zorn über den Duden und das Frohlocken über seine Entmachtung nur die Kehrseite des Gesetzesfetischismus deutscher Männer (Frauen waren nie beteiligt). Irgendwo, so dachten die notorischen Prozeßhanseln, muß doch für jeden Fall, und sei er noch so entlegen, die eine und wahre Gesetzesvorschrift zu finden sein. Der Duden war der Gott, der uns in seiner Unerforschlichkeit Gesetze auferlegte, die wir niemals alle befolgen konnten, schon weil sie kafkaesk verborgen waren, so daß wir ständig und überall sündigten, ohne es zu wissen. Ein theologischer Gedanke. Ich übertreibe nicht, bei Schaeder ist es ja nachzulesen.



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Kommentare zu »Dialektik der Empörung«
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Kommentar von Karsten Bolz, verfaßt am 25.05.2005 um 17.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=104#235

Komischerweise hat sich die Verletzung dieser Gesetzesvorschriften des Duden während der Schulausbildung nach meiner Erinnerung nie an mir gerächt. Ich wüßte nicht, daß einer meiner Deutschlehrer den Duden quasi als Gesetzestext auf dem Pult stehen gehabt hätte, und doch haben eben diese Lehrer uns ein ganz passables Schriftdeutsch beigebracht. Mein Vater, der das Fach Deutsch an einer Hauptschule unterrichtete, brauchte den Duden, so weit mir erinnerlich ist, zum Korrigieren nicht.

Ich sollte in Selbstzweifel verfallen und mir Gedanken machen, wie ich auch nur zwei gerade deutsche Zeilen zustande bringe, wo doch der Duden in meinem Bücherschrank aus dem Jahre 1973 stammt!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.05.2005 um 18.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=104#236

Die Schüler brauchen über Rechtschreibung nicht mehr zu wissen als ihr Deutschlehrer. Folglich ist der Duden in der Hand des Lehrers ein Armutszeugnis: er versteht entweder nicht genug von Rechtschreibung oder vom Sinn seines pädagogischen Tuns.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 27.05.2005 um 12.47 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=104#250

Einerseits war es ein Hauptziel der Reformer, das Monopol des Dudens zu brechen, andererseits sind sie der Dudentradition weitgehend verhaftet geblieben. Allein schon die Vorstellung, die Rechtschreibung durch ein kompliziertes Geflecht von normativen Regeln festlegen zu müssen, ist ohne die Dudentradition und die in einem großen Teil der Bevölkerung herrschende Vorstellung vom Duden als dem Gesetzgeber der deutschen Sprache nicht zu verstehen.

Anstatt sich von dieser Tradition zu lösen, haben die Reformer diese Tradition weiterverfolgt, ja auf die Spitze getrieben und, was noch schlimmer ist, ihr einen staatlichen Zwangscharakter verliehen. Dieser Aspekt der Rechtschreibreform ist meines Wissens noch nicht ausreichend gewürdigt worden.

In den letzten Jahrzehnten hat der Duden sein Regelwerk ständig verfeinert und systematisiert. In meinem Duden von 1961 sind die Regeln noch recht formlos und - alles in allem - in einer allgemeinverständlichen Sprache ohne Pedanterie verfaßt. Erst später hat sich das Regelwerk zu einer durchnumerierten Systematik von über 200 Regeln weiterentwickelt. Die in weiten Teilen kaum verständlichen und häufig belehrend-pedantischen "Amtlichen Regeln" der RSR haben dies so weit auf die Spitze getrieben, daß man sie geradezu als eine Parodie der Dudenregeln verstehen könnte.

Die Reformer haben nicht nur den Duktus des Duden sondern auch viele Einzelheiten, darunter auch Fehler, übernommen. Dazu gehört auch die Bewertung von "leid" (in "leid tun") als Substantiv. Schon mein Duden sah darin nämlich ein "verblaßtes Substantiv".
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 27.05.2005 um 12.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=104#251

Im Mannheimer Duden von 1973 ist der Sachverhalt richtig dargestellt.
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 27.05.2005 um 13.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=104#252

Daß gerade in Deutschland die Rechtschreibung wie ein strafbewehrtes Gesetz daherkommt, liegt vielleicht auch daran, daß viele, wenn nicht die meisten, Orthographie während ihrer Schulzeit als etwas von außen Aufgezwungenes, eigentlich Fremdes und Unverstandenes erlebt haben. Die (oft pedantische) Benotung trägt ein übriges dazu bei. Diese schülerhafte Sicht auf die Rechtschreibung prägt fast durchgängig die Argumentation der Reformbefürworter und der Reformer selbst. - Prof. Ickler hat u.a. im "Schildbürgerstreich" darauf hingewiesen.
 
 

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