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25.07.2008
Genitiv als Subjekt
Sprachgeschichtliche Anmerkung
Wo der Genitiv als Subjekt aufzutreten scheint (und auch in vielen Fällen der genitivischen Objekte), handelt es sich in der Tat um den Genitivus partitivus, unter Wegfall des Bezugselements.
Da ist zunächst das ursprünglich substantivische nicht, das wir heute anders verstehen, weshalb manchmal das Bezugswort zu fehlen scheint (und hätten der Liebe nicht). Analog dann auch andere Konstruktionen. Der Genitiv kann durch eine Konstruktion mit von ersetzt werden. Hermann Paul vermutet französischen Einfluß (Dt. Gr. IV, 5, § 247 mit Beispiel von Goethe: hier kommen von den alten redlichen wackern Männern). Sütterlin (Die deutsche Sprache 302) sieht darin Mundartliches (mit weiteren Goethe-Zitaten sowie von dem grauen Papier ist noch da u. ä.). Vgl. auch Blatz II, 383: meines Bleibens ist kaum noch lange usw.
Man hat den Genitiv und die Präpositionalgruppe auch als verschobenes Attribut deuten wollen (Fernattribut, Distanzstellung, "Floating"), was aber in vielen Fällen formal gar nicht möglich ist. Ihrer Hühner waren drei kann ja nicht auf Drei ihrer Hühner waren zurückgeführt werden.
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Kommentare zu »Genitiv als Subjekt« |
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.11.2016 um 14.23 Uhr
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Zum Beispiel Ihrer Hühner waren drei. Hier sehen manche ein Vollverb im Sinne von "existieren", und man kann es ja auch mit es gab umschreiben. Das ist aber kein Beweis. Das Prädikativum ist notwendig (*Ihre drei Hühner waren.) Also wohl doch Kopulaverb. Nicht die Existenz der Hühner, sondern ihre Dreizahl wird ausgedrückt.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.03.2014 um 09.41 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1033#25349
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Eine marginale Struktur, die sich außerhalb der gängigsten Phraseologismen (ein Bild von einem Mann) nur selten belegen läßt:
Nun fuhr mich mein Postkerl eine Ewigkeit von Straße gerade hinunter und hinauf bis an den Kreml ... (Johann Gottfried Seume: Prosaschriften. Darmstadt 1974:222)
Ein Trotzkopf von Stadt. (Carl Ludwig Schleich: Besonnte Vergangenheit. Berlin 1931:12 [über Stettin])
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.02.2013 um 06.55 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1033#22556
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Fernattribute haben es in sich:
Das Bild, mit dem ich als Kind von Dinosauriern aufgewachsen bin, war das von kaltblütigen Giganten von bescheidener Intelligenz. (SZ 5.2.13)
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.06.2011 um 17.29 Uhr
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In der ausgedehnten Literatur zur "Extraktion" hat man beobachtet, daß manches weniger gut geht als anderes, jedenfalls ohne besonderen Kontext:
Über Grammatik hat er ein Buch gelesen.
Über Grammatik hat er ein Buch ausgeliehen.
Über Grammatik hat er ein Buch gekauft.
?Über Grammatik hat er ein Buch gestohlen.
Meiner Ansicht nach liegt das daran, daß Lesen, Ausleihen und Kaufen sozusagen übliche Phasen der Rezeption eines Textes sind, Stehlen aber nicht. Das Stehlen bezieht sich nicht auf den Text, sondern auf den materiellen Gegenstand. Aber nur von den Texten kann man sagen, daß sie über etwas sind, nicht von Büchern als Gegenständen. Besser wäre also:
In Ganzleinen hat er ein Buch gestohlen.
Das Ganze ist natürlich überhaupt ein bißchen exzentrisch und verlangt viel guten Willen.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.12.2009 um 12.00 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1033#15452
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Weitere Beispiele starker Topikalisierung und nachträglicher Einrenkung, die sich mit schulgrammatischen Mitteln nicht konstruieren lassen, sind vom folgenden Typ, der überwiegend der gesprochenen Sprache angehört:
Fleisch esse ich nur noch Pute.
Fisch gibt es bei uns nur noch Hering.
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Kommentar von Runa, verfaßt am 05.04.2009 um 19.05 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1033#14255
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Daß in slawischen und baltischen Sprachen das Objekt im Genitiv steht und Litauisch zudem als besonders altertümlich bekannt ist, ist mitnichten ein Beleg dafür, daß der Genitiv hier altertümlicher wäre als der Akkusativ. Es handelt sich vielmehr um eine Neuerung dieser Sprachen, die auf religiösen Tabus beruht.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.07.2008 um 09.24 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1033#12740
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Zum größeren Zusammenhang hier eine vorläufige Kurzdarstellung:
„Fernattribute“, „Distanzstellung“, „Extraktion“ und Verwandtes
1. Gruppe („Floating“, Zusatzfokus):
In einigen Fällen scheinen Quantoren, Determinative und Attribute aus ihrer normalen Position vor dem Substantiv verschoben zu sein:
Sieger dürfte es keinen geben. (SZ 14.5.84)
Blumen hat er sehr schöne.
Bei genauerer Betrachtung erkennt man, daß diese Deutung nicht zutrifft:
Literaturkritiker ist Karl Kraus keiner geworden. (FAZ 17.5.86)
Hier steht nicht der pränominal zu erwartende Artikel, sondern das anders flektierte Pronomen. Das Indefinitum welcher hat nicht einmal eine entsprechende pränominale Verwendung:
Filterzigaretten hat es kaum welche gegeben. (Erlanger Nachrichten 20.5.89)
Eine Herleitung aus *welche Filterzigaretten ist offenbar unmöglich.
Ein Determinativ kann zusätzlich stehen:
Ein verlorenes Schaf ist er keins. (Zeit-Magazin 30.8.91:20)
Das zurückbleibende Adjektivattribut hat nicht die vom Determinativ geforderte Form:
Wirksames Medikament gegen die Viren gibt es keines.
In dieser Gruppe von Fällen ist also das „verschobene“ Element in Wirklichkeit eine pronominale Zweiterwähnung der meist im Vorfeld bereits genannten, besonders betonten Größe. Die jeweilige syntaktische Rolle ist doppelt besetzt, es ist eine zusätzliche Akzentstelle geschaffen.
2. Gruppe („Extraktion“, Gliederungsverschiebung):
In anderen Fällen wird ein präpositionales oder ein Genitivattribut zum primären Satzglied umgedeutet und entfernt sich gegebenfalls von seinem ursprünglichen Bezugselement:
Das Bundeskanzleramt zeigte an der Klärung von Barschels Tod wenig Interesse. (SZ 11.1.95)
Die italienische Regierung wird der steigenden Ausgabenflut nicht mehr Herr. (FAZ 12.11.90)
Aus der valenzbestimmten attributiven Verbindung [Interesse an der Klärung] [zeigen] wird das Substantiv Interesse herausgezogen und näher mit dem Verb verbunden: Interesse zeigen, und dieser neue Verbkomplex erbt die Valenz des Substantivs: [Interesse zeigen] [an etwas]. Es handelt sich also um einen Fall von Gliederungsverschiebung. Vollständig abgeschlossen ist die Umdeutung, wenn die Rektion sich ändert wie in folgendem Fall: Aus [einer Sache Herr] [werden] wird [einer Sache] [Herr werden]; dann kann statt des Genitivs der Dativ gesetzt werden:
Wie nun die Menschen dem Schmerz Herr zu werden versuchen ... (Aviso 2/2007)
Das höhergestufte Attribut kann in einen Nebensatz „verschoben“ auftreten:
Das Schlafzimmer der Eltern, an das sich keine Erinnerung wecken läßt (...) (Ch. Wolf: Kindheitsmuster. Darmstadt 1979:23)
Aus [Erinnerung an etwas] [wecken] wird [Erinnerung wecken] [an etwas].
Gleich zwei Präpositionalattribute scheinen in folgendem Fall extrahiert:
Die wenigen Briefe jedenfalls, die wir von ihr an ihren Mann besitzen ... (Inge und Walter Jens: Frau Thomas Mann. 2. Aufl. Reinbek 2003:134)
Anmerkungen:
1. Zur ersten Gruppe bemerkt Ulrich Engel richtig, daß statt der Determinative Pronomina gesetzt werden, hält aber inkonsequenterweise am Begriff der „Distanzstellung“ fest. (Deutsche Grammatik 2004:302 und 364)
2. Nichtvalent angeschlossene Präpositionalphrasen (Supplemente) können laut IDS-Grammatik 2066 nicht durch Gliederungsverschiebung abgespalten werden:
*Aus Porzellan ist die Vase heruntergefallen
Wohl aber ist die Bildung eines zusätzlichen Fokus möglich:
Aus Porzellan besitze ich verschiedene chinesische Vasen.
Die IDS-Grammatik selbst erwähnt als Ausnahme „schwach argumentselektierte von-Phrasen (...)
Von Kujau hängen einige Bilder in der Galerie.“
3. Nicht hierher gehören partitive Prädikationen wie:
Der Fehler waren viele.
Ihrer Hühner waren drei.
Vgl. *Viele der Fehler waren. *Drei ihrer Hühner waren.
4. Keine Gliederungsverschiebung, sondern eine Herausstellungsstruktur (Rechtsversetzung, Nachtrag) liegt vor in Fällen wie:
Da steckt ein tiefer Tadel drin an der Unvernunft einer Menschheit, die... (SZ 12.6.82)
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 27.07.2008 um 13.44 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1033#12737
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Ich vergaß Litauisch. Bei der Verneinung eines Objekts wird der Genitiv verwendet. Litauisch gilt als die altertümlichste lebende indogermanische Sprache.
Im Slowenischen steht das Subjekt in Verbindung mit dem Verb biti = sein in den Bedeutungen sich befinden bzw. existieren im Genitiv. Bei Verneinung steht das Objekt ohne Präposition statt im Akkusativ im Genitiv. Slowenisch gilt als altertümliche slawische Sprache.
In der (heute veralteten) serbokroatischen Grammatik von Josip Hamm, erste Auflage 1967, letzte 1981, werden ausdrücklich noch Aorist und Imperfekt und außerdem der Genitiv als Form des direkten Objekts nach verneinten Zeitwörtern gelehrt. Letzterer wird als partitive Betrachtungsweise (keine Spur von ..., kein Stück von ...) erklärt.
Das Bairische hat einige Ähnlichkeiten mit den slawischen Sprachen: Die mehrfache Verneinung, der Nichtgebrauch des Präteritums oder Imperfekts, das Weglassen des expliziten Personalpronomens und stattdessen sein Anhängen als Suffix an die finite Verbform. Bairisch ist kürzer als Hochdeutsch.
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Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 26.07.2008 um 23.52 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1033#12736
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Das Deutsche setzt heute kaum noch Fehlendes, Projiziertes, Gewünschtes, Erwartetes, Mangelndes etc. in den Genitiv, das Polnische indes wie andere slawische Spachen nach wie vor (abgesehen vom recht durchgemischten Bulgarischen). Liest man Luthers Bibelübersetzung, überzeugt man sich davon, daß vor noch nicht langer Zeit das Deutsche ähnlich kategorisierte. Heute haben wir – der DDR und dem "Lehrgang Sprache" sei´s gedankt! – neben Alle gedenken Lenins auch Das ermangelt jeden Sinn(e)s und jeder Bedeutung.
Seit Jahren kann man polnischen Grammatikern die Frage stellen, ob diese Sprache vielleicht doch nicht so recht indoeuropäisch ist, denn polnischen Schülern wird bis heute folgendes in den Kopf gedroschen:
Nie ma chleba. (Es ist kein Brot da) – chleb Subjekt im Genitiv
Nie było chleba. (Es war kein Brot da) –·chleb Objekt im Genitiv.
Polnisch ist damit kaum indoeuropäisch, da es zudem vom Präsens zum Präteritum seine gesamte Grammatik auf den Kopf stellt. Deutsch ist ebenso kaum indoeuropäisch, da es – allein auf weiter Flur – Adjektive in adverbialer Funktion hat; mit der Begründung, daß die Elemente in dieser Funktion doch genauo wie ein Adjektiv aussehen. Mit solchen Grammatiken und mit solcher Muttersprachpädagogik, denn ~didaktik hurtig in die EU, wo in Brüssel sicher bald eine Zentralpädagogik installiert wird, auf deren Stellen schon heute alle warten, die alle belehren wollen, ohne auch nur von einer Sacher hinreichenden Schimmer zu haben.
Polnischen Schülern geht es – wie das obige Beispiel belegt – in der "muttersprachlichen Unterweisung" o.ä. nicht anders als deutschen, die sich ihrerseits die Unsinnigkeiten im immerhin erträglichen "Homberger" (mit ästhetischen Wertungen in der Grammatik) antun müssen. Die einen wie die anderen nehmen folglich Reißaus vor allem und jedem, worin das Wort (nicht "der Begriff"!!!) Grammatik erscheint, und sie es auch nur in einer Fußnote. Sie halten jede Philologie notwendig für eine A(ba)rt von Metaphysik. Soll es so bleiben?
Wie Germanist deuchte mich wie vielen anderen dieses und jenes. Meist war es bestenfalls indiskutabel.
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 25.07.2008 um 15.25 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1033#12729
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Der partitive Genitiv ist ganz sicher aus dem Französischen ins Deutsche eingewandert, schon aus dem Altfranzösischen ins Mittelhochdeutsche. Aber er ist keine französische Erfindung, denn er ist in allen slawischen Sprachen in allen denkbaren Varianten selbstverständlich, z.B. nach allen Mengenangaben, im Polnischen auch als Genitiv des Nichtvorhandenseins. Er muß folglich schon mindestens im "Gemeinslawischen" vorhanden gewesen sein. Nach meiner persönlichen Meinung stammt er aus dem "Gemeinindogermanischen".
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