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30.04.2008
Meine Geschichte
Notiz von 1995
Manchmal ist es erhellend und erheiternd, noch einmal nachzulesen, wie sich eine Sache vor vielen Jahren darstellte. Ich glaube, meine erste Stellungnahme zur geplanten Rechtschreibreform habe ich in meiner Besprechung des damals achtbändigen Großen Wörterbuchs von Duden abgegeben.
In aller Unschuld, denn wer konnte damals ahnen, wie sich das alles ausweiten und entwickeln würde! Daß ich zweieinhalb Jahre später vor dem Bundesverfassungsgericht über diese "Reform" referieren und der neue Dudenchef auf der anderen Seite stehen würde!
Meine Rezension in der FAZ endete so:
"Der letzte Band enthält als Anhang den Text der auch gesondert erschienenen Broschüre „Die Neuregelung der Rechtschreibung“. Diese Skizze der geplanten Reform nun stellt eine ironische Pointe dar, die ihresgleichen sucht: Dem Leser wird ja nichts anderes nahegelegt, als daß es gescheiter gewesen wäre, mit dem Erwerb des Wörterbuchs zu warten, bis die in Kürze zu erwartende reformierte Neuauflage erscheint. In einer Pressemitteilung versucht der Verlag zwar, die Bedeutung des Werks als Rechtschreibwörterbuch ebenso herunterzuspielen wie die erwartbaren Auswirkungen der Reform. Der Käufer und Benutzer wird das aber mit berechtigtem Mißtrauen zur Kenntnis nehmen. Es bleibt ihm nur die Hoffnung, daß das ebenso folgenreiche wie sinnlose Reförmchen im letzten Augenblick noch an dem Sachverstand der Kultusbürokratie scheitert, damit er sich recht lange an diesem reichhaltigen, sowohl im großen und ganzen als auch im Großen und Ganzen wohlgeratenen Wörterbuch erfreuen kann."
Der ganze Text unter: www.rechtschreibung.com/Forum/showthread.php?threadid=196
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Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 30.04.2008 um 23.45 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1005#12048
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Besten Dank an Theodor Ickler für "Meine Geschichte" (apropos Notiz von 1995). Andere haben eine andere Geschichte anhand von Notizen zu demselben Werk:
Im Ausland, wo man dieses größere und einigermaßen zeitgemäße Wörterbuch des Deutschen geradezu ersehnt hatte, wurde die nachträgliche Erwähnung des vorträglich eingebrachten Reförmchens eigentlich nicht ernst gemeint verstanden, sondern eher als verhohlen der genannten Anmaßung spottende Glosse seitens des seit Urzeiten wie ein Fels in der Brandung gegen den aufschäumenden Revoluzzer-Gischt (s. B. Traven) stehenden Duden-Verlages. Heute macht Theodor Ickler den Arglosen im Ausland klar, daß man den Text damals perversiv als Ankündigung baldiger Einstampfung des eben Kreierten hätte lesen sollen, ja müssen.
So viel Hintertriebenheit ist dem sich geradezu beamtlich gerierenden Unternehmen nicht zuzutrauen. Also muß das phänomenal Schizophrene an anderem gelegen haben.
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Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 01.05.2008 um 02.55 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1005#12052
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Im Frühjahr 1995 hatte ich aus einer kleinen, ich glaube, kostenlos verteilten Duden-Broschüre "Informationen zur neuen deutschen Rechtschreibung" zum ersten Mal von dieser Reform gehört. Daraufhin habe ich einige Briefe an die Sprachberatung der Dudenredaktion geschrieben, höflich in Fragen formuliert. U.a. hatte es mir gleich die neue ck-Nichttrennung angetan. Ich fragte, ob nicht doch die bisherige Trennweise (k-k) die beste aller möglichen Varianten (-ck, c-k) sei, und begründete das auch. In den Antworten ging die Dudenredaktion immer nur auf die Unmöglichkeit von c-k und die angeblichen Vorteile von -ck ein, während sie über k-k kein einziges Wort mehr verlor.
Später habe ich nicht mehr an den Duden geschrieben, sondern mich lieber in etlichen Leserbriefen an den Mannheimer Morgen über die neuen Regeln lustig gemacht. Zum Beispiel (10.11.97), daß man wegen der neu erlaubten Trennung vol-lenden ja auch gleich Mül-leimer trennen könnte, wohin sowieso die ganze Reform gehörte. Mül-leimer war natürlich und ganz offensichtlich nicht ernst gemeint, aber dennoch nicht schlechter als vol-lenden. Trotzdem schrieb der Mannheimer Reformer Klaus Heller später in der Berliner Morgenpost (31.7.00), auch Mül-leimer sei in der Polemik belegt, um die neue Regelung zu diffamieren.
Inzwischen habe ich durch die RSR eine Art Reformschaden erlitten. Das macht sich z.B. dadurch bemerkbar, daß ich sogar in Büchern mit vernünftiger Schreibweise nicht an sowas wie "im übrigen" vorbeikomme, ohne zu registrieren: aha, klein! Ich habe gerade zwei Bücher nachgeholt, die ich irgendwie in meiner Schulzeit verpaßt habe, als ich noch jedes Science-Fiction-Buch mitgenommen habe: Solaris und Der Unbesiegbare von Stanislaw Lem. In beiden Büchern ist mir aufgefallen, daß im Durchschnitt bestimmt einmal pro Seite "im übrigen" steht, bis hin zu zweimal in einem Satz. Da die Bücher von zwei verschiedenen Übersetzern bearbeitet wurden, muß es wohl doch am polnischen Original liegen? (Vielleicht weiß es Herr Schatte?) Na wie auch immer, ich glaube, vor der RSR wäre mir das gar nicht aufgefallen und ich hätte die Bücher ungestört genießen können.
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Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 01.05.2008 um 03.35 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1005#12053
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Ich meine mich zu erinnern, diese Duden-Broschüre "Informationen zur neuen deutschen Rechtschreibung" kostete 5 Mark: sie wurde nicht umsonst abgegeben.
Und zur "Art Reformschaden": Es ist natürlich ein Schaden, aber jedes geschichtliche Ereignis übt seinen Einfluß aus, und die Welt ist ohne es nicht mehr zu erfahren. So sind das Goethehaus in Frankfurt und das Dürerhaus in Nürnberg eben Kopien, und seine Hand über irgendetwas da gleiten zu lassen und zu denken, daß da auch Größere als man selbst ihre Hand haben gleiten lassen, das ist eben nicht mehr drin. Schade. Aber bei den Geschichten, die unsere Kultusminister machen, ist eben geschichtlicher Schade unabweisbar kollateral, und wir müssen damit leben. Ich denke übrigens, wenn ich "im übrigen" lese: Gott sei Dank! (oder so ähnlich und rede also fromm mit Gott), und wenn ich "im Übrigen" lese, wo "im übrigen" richtig ist, dann zucke ich halt mit den Schultern und rede etwas unfromm mit Gott. Einfache Leseerfahrung ist für Geschehnisbewußte einfach nicht mehr drin. Die haben sie uns genommen. Let's sue them bastards.
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Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 03.05.2008 um 23.18 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1005#12061
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Wenn Herr Riemer mich nach der Ursache den immer noch vernünftigen Schreibungen von aus Präpositionalphrasen hervorgegangenen festen adverbialen Ausdrücken in Übersetzungen polnischer Literatur fragt, liegt das sicher nicht an der ausgangssprachlichen Schreibtradition, sondern wohl eher daran, daß gestandene Übersetzer (an Lem läßt man füglich andere nicht heran) zu sicher und erfahren sind und sein müssen, um sich nicht wie Schilf in jedem Reformlüftchen wiegen und biegen zu müssen. Diese Übersetzer sind als Nachschöpfer ebenfalls Autoren (d.h. etwas selbständiger) und schauen auf den Kleinkrieg unter ihnen – so steht zu hoffen – mit und in milder Nachsicht.
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Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 04.05.2008 um 14.32 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1005#12062
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Womöglich liegt das (die Übersetzungen von Lem in bewährter Rechtschreibung) auch an einem Verlag, der sich im großen und ganzen (wieder so ein Beispiel!) noch nicht gleichgeschaltet hat.
Ein Verlag muß sich einfach überlegen, was er eigentlich verlegt. Literatur, also sprachliche Kunst, die im Falle der Übersetzung eines Vermittlers (a second maker) bedarf, oder schlicht und einfach Massen bedruckten Papiers. Womit ich noch nichts gegen bedrucktes Papier gesagt habe. Wenn ich mir ein Gerät kaufe, freue ich mich immer sehr, auch eine Gebrauchsanweisung in der Verpackung zu finden. Nur lese ich diesen Text ja nicht zum Genuß und – wenn das Gerät einwandfrei funktioniert – schon gar nicht aus freien Stücken mehrmals. Aber genau das erwarten Verleger bedruckten Papiers offenbar heute von ihren Kunden: kaufen, lesen, weglegen und dabei den Kopf abschalten. Wer dem Lesen einen derartigen Stellenwert beimißt, verlegt allenfalls Texte, aber keine Literatur.
"Es gibt vielleicht keine Tage unserer Kindheit, die wir so voll erlebt haben wie jene, die wir glaubten verstreichen zu lassen, ohne sie zu erleben, jene nämlich, die wir mit einem Lieblingsbuch verbracht haben." (Marcel Proust, Journées de lecture, 1905, übersetzt von Helmut Scheffel)
Es bleibt daher zu hoffen, daß mancher Verleger sich wieder darauf besinnt, Literatur und nicht nur Texte zu verlegen. "Sie sagten, die Hoffnung sei etwas Hübsches", schrieb Madame de Sévigné am 11. September 1675 an ihre Tochter in Orléans. "Ach, sie muß viel mehr als das sein, um die Hälfte der Welt zu nähren, wie sie es tut. Ich gehöre zu den Beharrlichsten an ihrem Hof." (Übersetzt von Theodora Von der Mühll)
Es führt kein sehr weiter Weg von Proust zur Sévigné. Und eigentlich sollte es nach zehn Jahren Chaos und Unvernunft auch kein weiter Weg mehr zur Vernunft sein. Dann müßten wir auch nicht mehr innerlich bei jedem "im übrigen", "heute abend", "Schiffahrt" oder "phantasievoll" aufjubeln. Bis dahin zeigt freilich diese Störung der Lektüre, daß wir glücklicherweise noch nicht zu Lemmingen geworden sind.
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Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 04.05.2008 um 15.57 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1005#12063
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Danke für den Kommentar, Herr Schatte. Eigentlich hatte ich mich nur darüber gewundert, daß sogar einem so erfahrenen und anerkannten Autor wie Lem so viele Wiederholungen ("im übrigen") unterlaufen, bzw. ich hatte mich gefragt, ob das wohl auf polnisch auch schon so ist oder evtl. erst durch die Übersetzung passierte. Hätte ja sein können, daß Sie zufällig das Original gelesen haben.
(Vielleicht bedarf es erst einer Rechtschreibreform, damit einem manche zu häufigen Wiederholungen auffallen.)
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Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 04.05.2008 um 21.51 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1005#12064
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Danke für die Frage bzw. den Hinweis auf das Problem der Zuwahl zielsprachlicher Wörter (Lexeme) zu – sagen wir – sinnähnlichen Einheiten im ausgangssprachlichen Text.
Das Polnische hat – wie auch in einem nach der RSR gezimmerten zweisprachigen Wörterbuch überprüfbar bleibt – für das im Deutschen in mittlerer stilistischer Ebene stehende im übrigen m.W. mindestens drei Adverbien bzw. adverbiale Ausdrücke. Polonisten würden wahrscheinlich außerhalb meines engen Gesichtskreises liegende weitere anführen.
Der Übersetzer eines stilistisch nicht irgendwohin abgehobenen polnischen Textes hat also die Möglichkeit, auf mittlerer stilistischer Ebene zu bleiben und somit penetrante Wiederholungen zu produzieren oder nach oben bzw. unten in andere Sphären des deutschen Lexikons auszubrechen. Die meisten Übersetzer unternehmen diesen Versuch aus disparaten Gründen nicht, obwohl dieser oder jener Ausbruchsversuch Lohn und Lob bringen könnte, ohne allein zur Vermeidung von (ungewollten) Repetitionen unternommen zu sein.
Andererseits kenne ich polnische Übersetzungen von Texten eines deutschen Staatsmannes in Weimar, der auch Stücke schrieb, wo (insistierende?) dreimalige Wiederholungen derselben Verbform (etwa in den Gesprächen mit Eckermann) vom Übersetzer mit drei verschiedenen Verben (in selber Funktionsgestalt) ohnbedacht stilistischer Etagen gewählt wurden, um des Weimarer Staatsmannes penetrante Repetitionen "zu vermeiden".
Die gemeinten Übersetzungen sind keineswegs (ver)alte(te), sondern neue und neueste. Einem Nicht-Literaten ist indessen das Glück beschieden, sich zu diesen Gelungenheiten nicht äußern zu müssen. Er darf sie ungefragt als Blümchen am Wegrande zu Erheiterung seines Gemüts wahrnehmen.
Kürzer wollt mir’s nicht gelingen.
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