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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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06.09.2006
 

Komma beim Infinitiv
Hinweis auf eine neue Schwierigkeit

§ 75 wirft ein Problem auf. Beim Infinitiv muß ein Komma stehen, wenn er von einem Substantiv abhängt.
Nun ist in Wendungen wie in der Lage sein, im Stande sein zwar ein Substantiv enthalten, der Infinitiv hängt aber eher von der ganzen Verbindung ab als vom Substantiv allein. Hinzu kommt, daß in Beispielen wie im Stande sein eine Variante wie imstande sein angegeben ist, die auch formal kein Substantiv mehr enthält und daher ohne Komma geschrieben werden kann. Dies ist eine bedeutende Erschwernis gegebüber der alten Regelung für erweiterte Infinitive.



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Kommentare zu »Komma beim Infinitiv«
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Kommentar von Peter-Gallmann-Fanclub, verfaßt am 07.09.2006 um 06.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#5446

Ist doch ganz einfach:

(1) Ich bin im Stande, das zu tun.:
Hier muss ein Komma stehen.
(2) Ich bin imstande das zu tun. / Ich bin imstande, das zu tun.:
Hier muss kein Komma stehen.

Bei (1) haben wir ein Substantiv, bei (2) nicht. Was soll da schwierig sein?
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 15.04.2011 um 14.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#18494

Auf SPIEGEL Online schreibt Frank Patalong:
Kondensatoren vermögen, Strom direkt zu speichern.

Auch nach dem bereits mehrmals revidierten amtlichen Regelwerk ist dieses fürchterlich schlechte Komma in Ordnung. Daß man nach solchen Modalverben kein Komma vor den Infinitiv setzen sollte, auch nicht vor den erweiterten, davon steht nichts im Regeltext. Duden nennt in einer eigenmächtigen, immerhin berechtigten, aber sehr unvollständigen Erweiterung unterhalb von K 117 lediglich die drei Verben brauchen, pflegen, scheinen (nicht als Beispiele, sondern genau diese Verben): In diesen Fällen werde die Infinitivgruppe "im Allgemeinen" nicht durch Komma abgetrennt, heißt es da; das ist wiederum nahezu wertlos.

Eine untadelige Anleitung zur Kommasetzung bei Infinitivgruppen müßte zum Beispiel die folgende Differenzierung enthalten:

Peter droht [damit], in den Hungerstreik zu treten. (Drohung)
Die Katze droht zu verhungern. (Gefahr)

Davon ist das amtliche Regelwerk noch weit entfernt.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 13.05.2011 um 18.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#18671

Auf SPIEGEL Online schreibt Jakob Augstein über die Anti-Europa-Stimmung:
Deutschland droht, den gleichen Weg einzuschlagen.
Es ist wieder keine Drohung gemeint, sondern eine Gefahr.

www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,762049,00.html
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 13.05.2011 um 20.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#18673

"Kondensatoren vermögen, Strom direkt zu speichern."

Einmal abgesehen von der Beistrichsetzung ist diese Feststellung falsch.
Kondensatoren können Ladung speichern, sonst nichts.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 14.05.2011 um 01.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#18675

Noch schlimmer als das deplacierte Komma ist das affige Wort "vermögen".
Ansonsten werden Kondensatoren durch Strom geladen und erzeugen bei ihrer Entladung wieder Strom. Insofern ist die Feststellung durchaus nicht verfehlt. Unklar ist allenfalls, was mit dem Wort "direkt" gemeint ist.
 
 

Kommentar von Serjosha Heudtlaß, verfaßt am 03.01.2016 um 23.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31131

Seit einigen Tagen treibt mich die Kommatierung von nicht-extraponierten Infinitivkonstruktionen um.

Traditionell war es ja so, daß kohärent in das übergeordnete Prädikat integrierte oder aber mit dem Matrixsatz verschränkte Infinitivkonstruktionen
nicht durch Kommata abgetrennt wurden, extraponierte erweiterte Infinitivgruppen hingegen schon.

Was ist aber nun, wenn ich die entsprechende Konstruktion nicht extraponiere, es aber durch Nichtbesetzung der rechten Verbklammer nicht klar
ist, ob sie im Mittelfeld steht oder eben dahinter?

Prof. Ickler verwendet in §18 seines Regelwerks beispielsweise den Satz 'Er hatte keine Gelegenheit, mich zu grüßen', in dem die Infinitivgruppe ja vom Substantiv, respektive der gesamten Fügung abhängt.

Was wäre hier bezüglich der Kommatierung die vorzuziehende nicht-extraponierte Variante? (Gallmann behauptet, eine solche sei grammatikalisch nicht möglich, nichtrelativische Ergänzungssätze dürften nicht im Mittelfeld stehen; ich halte die Position aber für allenfalls stilistisch markiert.)

a) Er hatte mich zu grüßen keine Gelegenheit.
b) Er hatte, mich zu grüßen, keine Gelegenheit.

Oder mit einem anderen Beispiel:

Er hatte reichlich Gründe, mich zu töten.
=>
a) Er hatte mich zu töten reichlich Gründe.
b) Er hatte, mich zu töten, reichlich Gründe.

Variante a) hat für mich gefühlt den Vorteil, die Verwendung von einem finalen Sinn (...um zu) abzugrenzen, aber den Nachteil, daß eine erwiesenermaßen (durch die mögliche Extraposition) inkohärente Infinitivgruppe unkommatiert steht.

Bei Besetzung der Verbklammer neige ich umgekehrt dazu, die Kommata zu setzen:
Ich werde, diesen Film verpassen zu müssen, sehr bedauern.

Was ist konsistenter? Was ist/war der Usus?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 04.01.2016 um 12.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31142

Vgl. Walter Heuer: Richtiges Deutsch. Eine Sprachschule für jedermann, 12. Aufl., Zürich 1973, S. 209: »Kein Komma ist zu setzen, wenn Haupt- und Nebensatz verschränkt sind: Dem wollen wir abzuhelfen versuchen (unverschränkt: Wir wollen versuchen, dem abzuhelfen). Er hat ihm das nicht zu erklären vermocht (er hat nicht vermocht, ihm das zu erklären).«
 
 

Kommentar von Serjosha Heudtlaß, verfaßt am 04.01.2016 um 16.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31143

Beide Beispiele sind klar, denn hier ist die rechte Verbklammer wieder durch das Partizip der zusammengesetzten Verbform besetzt. Außerdem handelt es sich um ein den Infinitiv regierendes Halbmodalverb. Daß bei Verschränkung oder kohärenter Konstruktion hier kein Komma steht, decken alte Dudenregelung oder der 'Ickler' ja ab.

Der Fall einer nichtbesetzten rechten Verbklammer bzw. eines links vom regierenden Substantiv stehenden Infinitivs wird meiner Meinung nach aber nirgendwo erfaßt (zu selten?). Oder subsumieren Sie diese Fälle ebenfalls unter 'Verschränktheit'?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.01.2016 um 17.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31145

Die vorreformierte Dudenregel ist R 107 (Duden 1991).

Man muß bedenken, daß Duden weder mit dem Begriff der Verbalklammer noch mit dem der Extraposition arbeitet. Auch in meinen Regeln kommt keine Verbalklammer vor.

Meine Beispiele sind:

Ich werde versuchen, das zu erledigen.
Ich werde das zu erledigen versuchen.


Ich füge noch hinzu:

weil ich das zu erledigen versuchen werde.

Bei mir sind die Kommaregeln nicht rein grammatisch formuliert, da ich stets den übergeordneten Zweck im Auge behalte, Konstruktionen übersichtlich und unmißverständlich zu halten. Der Umfang des erweiterten Infinitivs spielt also auch eine Rolle. Das war auch schon im Duden so.

Die Beispiele mit Substantiven, von denen der Infinitiv abhängen könnte, werfen noch das Problem der Extraktion auf. Dadurch entsteht ein Schwanken zwischen Attribut und Satzglied.

Es ist richtig, daß das Mittelfeldverbot bei Gallmann und anderen empirisch nicht haltbar ist.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 04.01.2016 um 17.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31146

"Ich werde das versuchen zu erledigen"? Ich finde Reihungen von Infinitiven lustig, weil man oft die Reihenfolge vertauschen kann. (Die Niederländer ordnen sie z.B. ganz anders an.)
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 04.01.2016 um 17.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31147

Gegenfrage: Was spricht dagegen, solche Beispiele unter »Verschränktheit« zu subsumieren?
 
 

Kommentar von Serjosha Heudtlaß, verfaßt am 04.01.2016 um 18.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31148

Duden R107 listet immerhin unter dem ersten Unterpunkt ''Es steht aber kein Komma: - wenn der erweiterte Infinitiv mit dem Hauptsatz verschränkt ist oder wenn er innerhalb der verbalen Klammer steht'', erwähnt also immerhin die Verbalklammer.

Prof. Icklers Hinweis auf eine Art Attributextraktion finde ich schon einmal sehr hilfreich. Ich glaube, Herr Markner, das ist genau der Unterschied zu ''normalen'' Verschränktheitsphänomenen, die quasi nur den Verbalkomplex betreffen, und genau der Punkt, der mich ins Zweifeln bringt.

Strukturell könnte man vielleicht einen Vergleich zur Kommatierung von Appositionen ziehen, nur umgekehrt:
der Metzger Hermann (normale Position, Substantivattribut) vs. Hermann, der Metzger (ausgegliedert, parenthetische Aussage)

Vielleicht könnte man dementsprechend ja argumentieren, daß aufgrund der nach links zunehmenden Spezifik von Nominalphrasen ein Komma beim vor dem Substantiv plazierten Infinitiv nicht notwendig sei. Dadurch, daß zwischen Infinitivkonstruktion und Bezugssubstantiv (also hier: Er hatte mich zu grüßen [keine, wenn auch noch so kurze] Gelegenheit) beliebig viele expandierende Komponenten eingefügt werden können, erscheint mir der Zusammenhang immer loser zu werden. Also Kommata abhängig vom Umfang der
Infinitivkonstruktion?

Vielleicht könnten wir uns hier einmal ausführlich mit Extraktionsphänomenen beschäftigen. Das fände ich sehr spannend.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 04.01.2016 um 18.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31149

Eine Kleinigkeit:
In der genannten Dudenregel ist sehr wohl von der "verbalen Klammer" die Rede (erster "Anstrich").
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.01.2016 um 18.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31150

Das stimmt, habe ich übersehen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.01.2016 um 18.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31151

Wegen der Extraktion könnte man hier anknüpfen:
http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1636
 
 

Kommentar von Serjosha Heudtlaß, verfaßt am 04.01.2016 um 18.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31152

Nun, zumindest haben wir jetzt schon einmal Ansatzpunkte herausgearbeitet, warum von Substantiven abhängige, aber nichtextraponierte (oder sollte man besser sagen: nach links verschobene?) Infinitivkonstruktionen Schwierigkeiten verursuchen können.
Doch was folgt daraus für die Kommatierung?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 04.01.2016 um 22.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31153

Der Umfang spielt doch keine Rolle:
Er hatte mich zu grüßen keine Gelegenheit.
Er jedoch hatte jedenfalls mich freundlich zu grüßen auch nicht die allergeringste Gelegenheit.

Das Konstrukt wird stilistisch mit jedem Zusatz immer fragwürdiger, aber da kann kein Komma helfen, sondern nur Entschlackung oder Umstellung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.01.2016 um 09.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31160

Dazu vorläufig:

"Im Standarddeutschen gibt es bei Verben, die optionale Verbalkomplexbildung zulassen, eine Variante, bei der der abhängige zu-Infinitiv durch Objekte und adverbielle Ausdrücke erweitert wird, so daß er teilweise wie eine komplette infinite CP extraponiert werden zu können scheint:

Sie war der Fluchtpunkt für seine Politik des Öffnens und Auflockerns, mit der er glaubte, seiner Partei Profil, Gewicht und Aktionsfreiheit verschaffen zu können.

Die 'Pseudo-CP' kann jedoch beliebig verkleinert werden, so daß der Eindruck der Extraposition zunehmend verschwindet:

..., mit der er (glaubte) seiner Partei (glaubte) Profil, Gewicht und Aktionsfreiheit (glaubte) verschaffen zu können (glaubte)."
(Wilhelm Oppenrieder)
 
 

Kommentar von Serjosha Heudtlaß, verfaßt am 06.01.2016 um 01.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31164

Arbeitshypothesen zu Tendenzen der Möglichkeit einer „Linksverrückung'' des von einem Substantiv abhängigen Infinitivs (vorläufig, nach ein paar Lockerungsübungen im Ohrensessel der 'armchair linguistics', wobei sich das von Professor Ickler genannte Schwanken zwischen Attribut und abhängigem Satzglied als entscheidend erwies):

1. Je größer die Idiomatizität, die phraseologische Festigkeit der Verbindung aus Verb und Substantiv, desto leichter ist Linksverrückung möglich, weil das eigentlich regierende Substantiv semantisch leer ist und der Infinitiv hier nicht so sehr als dessen Attribut, sondern als abhängig vom Gesamtprädikat aufgefaßt wird:

Er war im Begriff, die Vase zu zerschlagen.
=> Er war, die Vase zu zerschlagen, im Begriff.
Er hatte das Herz, mutig die Tür zu öffnen.
=> Er hatte, mutig die Tür zu öffnen, das Herz.
Er war nicht imstande, das Schwert aufzuheben.
=> Er war, das Schwert aufzuheben, nicht imstande.
Er besaß den Schneid, seinen Kurs unbeirrt fortzusetzen.
=> Er besaß, seinen Kurs unbeirrt fortzusetzen, den Schneid.


2. Bei Substantiven mit größerer semantischer Eigenständigkeit scheint die Möglichkeit zur Verrückung an die Definitheit gekoppelt zu sein - und daran, ob diese als vom Infinitiv ausgelöst betrachtet wird (hier näherliegend, da das Substantiv attribuierbar ist):

Er hatte Anlaß, mich zu hassen.
=> Er hatte, mich zu hassen, Anlaß.
Er hatte einen Anlaß, mich zu hassen.
=> Er hatte, mich zu hassen, einen Anlaß.
Er hatte den Anlaß, mich zu hassen.
=> [definit u. durch den Inf. spezifiziert; Verrückung nicht möglich]
Sie gaben sich redlich Mühe, die Vergangenheit zu vergessen.
=> Sie gaben sich, die Vergangenheit zu vergessen, redlich Mühe.

Bei bestimmten Verbindungen funktioniert es nach meinem Grammatikalitätsurteil gar nicht, auch im indefiniten Fall:
Peter faßte einen Beschluß, abzunehmen.
Er fühlte eine riesengroße Lust, Schnitzel zu essen.


3. Je stärker die Infinitive an eine finale Semantik grenzen, desto eher ist Linksverrückung möglich:

Er nahm sich bewußt Zeit, (um) auch das zweite Buch zu lesen.
=> Er nahm sich, (um) auch das zweite Buch zu lesen, bewußt Zeit.
Sie hatte den Mut, sich am nächsten Tag zu erkennen zu geben.
=> Sie hatte, sich am nächsten Tag zu erkennen zu geben, den Mut.

 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 06.01.2016 um 09.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31170

Alles richtig, bis auf einen Überschuß von 9 Kommas.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 06.01.2016 um 10.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31172

Ich habe mich wohl geirrt mit der Meinung, daß es zuerst auf die größtmögliche Leseverständlichkeit ankomme.
 
 

Kommentar von Serjosha Heudtlaß, verfaßt am 06.01.2016 um 17.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31181

Ich habe ja nicht ciceronisch für einen (un)klaren Stil plädiert, sondern wollte die „Bedingung(en) der Möglichkeit'' einer sprachlichen Konstruktion untersuchen, um, darauf aufbauend, etwas über die Kommatierung zu erfahren.

Welche Kommata wären Ihrem Ermessen nach zu tilgen (respektive zu setzen) und warum? Dann wären wir schon weiter!
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 06.01.2016 um 19.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31185

Ein Komma ist nur zu setzen bei erweiterten Infinitiven, nicht hingegen bei den hier besprochenen »verschränkten« Konstruktionen, die ggf. an ihre Stelle treten können. Einzig bei Er nahm sich, um auch das zweite Buch zu lesen, bewußt Zeit würde das um den Unterschied ausmachen, vgl. Um auch das zweite Buch zu lesen, nahm er sich bewußt Zeit vs. Das zweite Buch zu lesen nahm er sich bewußt Zeit.
 
 

Kommentar von Serjosha Heudtlaß, verfaßt am 06.01.2016 um 20.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31186

Das „Erweitertsein'' hat ja nichts mit der satztopologischen Stellung der Infinitivkonstruktion zu tun, beides würde ich sauber getrennthalten wollen.

Wenn ich Sie aber richtig verstehe, plädieren Sie für eine tendentielle Kommalosigkeit bei Linksverrückung über das Substantiv hinaus, um die Bedeutung gegen ein finales Verständnis „abzusichern'' (mein Ursprungsmotiv in http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31131) - unabhängig vom Umfang der Infinitivgruppe, vielleicht in Analogie zur Stellung innerhalb eines verbalen Rahmens.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 06.01.2016 um 21.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31187

Gut, man könnte auch präzisierend sagen: bei erweiterten Infinitiven in gewöhnlicher Rechtsstellung, oder einfacher: vor erweiterten Infinitiven.

Aus systematischer Sicht ist die Kommalosigkeit der Normalfall, die Setzung des Kommas vor den erweiterten Infinitiven die Ausnahme (weshalb die Reformer sie ja auch abschaffen wollten). Andererseits ist diese »Ausnahme« wahrscheinlich häufiger als alles andere.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 09.01.2016 um 15.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31213

Lieber Herr Markner,

zu #31185:

Was meinen Sie damit, daß „das um den Unterschied ausmachen“ würde?

Wenn ich die alte Dudenregelung richtig verstehe, dürfte im ersten Beispiel kein Komma stehen; dafür müßte im dritten Beispiel ein Komma stehen.

Im dritten Beispiel fehlt übrigens das Wörtchen auch.

Zu #31170:

Hier zähle ich einen Überschuß von 17 Kommas.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.01.2016 um 15.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31214

Bevor ich mich an der Diskussion wieder beteilige, möchte ich nur auf einen Unterschied hinweisen:

1. Um auch das zweite Buch zu lesen, nahm er sich bewußt Zeit.

2. Das zweite Buch zu lesen nahm er sich bewußt Zeit.

Der erste Satz ist ein Finalsatz, der zweite nicht. Jedenfalls hat sich, wie erwähnt, in den letzten 200 Jahren die Möglichkeit, den Infinitiv mit zu, aber ohne um final zu verwenden, fast ganz verflüchtigt.

Im ersten Satz ist nicht sicher, ob er das Buch in der Zeit las, die er sich genommen hatte; es gibt keine notwendige inhaltliche Verbindung. Vgl. Um auch das zweite Buch zu lesen, lieh er sich 29 Euro. *Das zweite Buch zu lesen lieh er sich 20 Euro. Das letztere klingt heute veraltet.
 
 

Kommentar von Serjosha Heudtlaß, verfaßt am 09.01.2016 um 17.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31217

Sowohl der Zählung von Herrn Markner als auch jener von Herrn Achenbach liegt implizit die Annahme zugrunde, daß sich die durch Linksverrückung über ehemals regierende Substantive hinweg entstandenen Infinitivkonstruktionen nach denselben Kommatierungsregeln verhalten wie solche, die nichtextraponiert innerhalb einer verbalen Klammer stehen.

Das wäre aber erst einmal zu klären und ja mein ursprüngliches Anliegen.

Denn, Herr Prof. Ickler, gibt nicht schon Ihre eigene Kommatierung in Beispiel 2 wiederum Anlaß, Zweifel an einer Gleichbehandlung zu hegen, weil Sie entgegen des Beispiels der alten Regel R107 ("Die Ursache des Unglücks festzustellen, hat die Polizei als sehr schwierig bezeichnet") hier (in Position als erstes Satzglied) ja kein Komma gesetzt haben, obwohl der Infinitiv sowohl erweitert als auch eindeutig nicht das Subjekt ist?

Ich habe das Gefühl, daß diese Linksverrückung und Attributextraktion zumindest partiell eigene Gesetzmäßigkeiten schafft.
 
 

Kommentar von Serjosha Heudtlaß, verfaßt am 09.01.2016 um 18.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31219

Ich habe noch eine andere eigene Ad-hoc-Theorie anzubieten:

Könnte es sein, daß aufgrund seiner "Herkunft" als attributive Beifügung zum ihn eigentlich regierenden Nomen der Infinitiv in diesen Konstrukten noch mehr in seinem eigentlichen Charakter als Substantiv, das er sprachgeschichtlich ist, empfunden wird und deshalb nicht so eine starke Satzwertigkeit erreicht wie sonst üblich?

Dies würde dann auch, neben der Verbalklammeranalogie, die Präferenz der meisten Foristen zur "Kommalosigkeit" in diesen Fällen mitmotivieren...
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.01.2016 um 07.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31221

Auf welches Beispiel mit "eigentlich regierendem Nomen" beziehen Sie sich jetzt? ("Anlaß/ Gelegenheit"? Und ist das für die Kommatierung relevant?) Im übrigen finde ich es gut, daß Sie die Satzwertigkeit dem "Empfinden" des Sprechers anheimstellen, wie ich denn überhaupt meine, daß es vergeblich ist, durch immer feinere Unterscheidungen die Setzung oder Nichtsetzung eines Kommas gleichsam errechnen zu wollen. Daher schon anfangs mein Plädoyer für einen gewissen rhetorischen Spielraum.
 
 

Kommentar von Serjosha Heudtlaß, verfaßt am 10.01.2016 um 18.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31226

Ich persönlich würde Rechtschreibung sowieso grundsätzlich gerne als Graphostilistik vermittelt und verstanden wissen.
Um sich aber begründet für oder gegen eine Kommasetzung entscheiden zu können, braucht man natürlich Argumente für Stimmigkeit u. Wirkung der jeweiligen alternativen Lösungen, auch im Kontext des ansonsten gewählten Kommatierungssystems.

Mit der Beschreibung als "Linksverrückung einer Infinitivkonstruktion über ein eigentlich regierendes Nomen hinweg" habe ich versucht, den ganzen gerade diskutierten Problemkreis zu beschreiben, über dessen Entstehungsmöglichkeitsbedingungen ich in #31164 (Idiomatizität der Verbindung, Definitheit/Indefinitheit des Nomens, finale Semantik) spekuliert habe.
Weil die Regelsysteme hier für mich eine Leerstelle aufweisen, hoffe ich auf mäeutische Klärung.

(1) Er war, die Vase zu zerschlagen, im Begriff.
Max hatte, den Negerkuß mit Senf zu füllen, nur kurz Gelegenheit.
Simone hatte, mutig die Tür zu öffnen, als einzige das Herz.
Peter war, einen klaren Gedanken zu fassen, nicht imstande.
Sie besaß, unbeirrt gegen die herrschende Meinung anzukämpfen, den Mut.
Er besaß, mir zu widersprechen, den Schneid.
Sie gaben sich, die Vergangenheit zu vergessen, redlich Mühe.
Er nahm sich, auch das zweite Buch zu lesen, bewußt Zeit.
(2) Er hatte(,) mich zu hassen(,) reichlich Anlaß.
(3) Er hatte den gordischen Knoten zu zerschlagen gehofft.

Die Konstruktionen in (1) - (3) bilden für mich beispielsweise ein Kontinuum gefühlt abnehmender Kommasetzungsnotwendigkeit.
Nur (3) ist aber nach meinem Verständnis durch die Regelsysteme kodifiziert, während (1) und (2) meiner zwischen Attribut und Satzglied schwankenden Linksverrückungskonstruktion entsprechen, die nicht kodifiziert ist, weil sie wohl von vielen, so eben Gallmann, von vornherein als ungrammatisch abgetan wird. Vielleicht bin ich auch einer Täuschung erlegen, weil möglicherweise den Beispielen in gewisser Weise finaler Sinn eignet - was aber dann eben doch für einen Kommaeinschluß Grund gäbe! Hier im Forum scheinen hingegen viele, zumindest Herr Achenbach und Herr Markner, diese Konstruktion kommasetzungstechnisch in Analogie zur Verbalklammer in (3) behandeln und darum unkommatiert stehen lassen zu wollen.
Für mich, gerade in etwas poetischerem Duktus, sind diese Stellungstypen jedenfalls sehr wohl möglich, weshalb ich meinem Sprachgefühl nun mit dem (linguistischen) Verstand zu Leibe zu rücken versuche, um Argumente für/wider Kommasetzung zu finden, während ich einstweilen von Ihrer Lizenz zu rhetorischen Parenthesen-Kommas (§18,3) Gebrauch mache.

Hinter der Tatsache, daß Sie in Ihrem Beispiel bei Vorfeldposition in Das zweite Buch zu lesen nahm er sich bewußt Zeit eben gegen das alte System kein Komma gesetzt haben, habe ich dann zusätzlich eine aus den Besonderheiten dieser Konstruktionen entspringende Motivik vermutet.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 10.01.2016 um 20.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31228

Er hatte sich immer neue Beispiele auszudenken zuviel Zeit? Man würde gerne mal echte Belege sehen. In freier Wildbahn sind diese Konstruktionen natürlich nur sehr selten anzutreffen; am ehesten vielleicht noch in gehobenen Texten des 19. Jahrhunderts. Aber dann könnte man sich ja mal anschauen, wer wann welche Kommas gesetzt hat oder eben auch nicht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.01.2016 um 06.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31230

Die Kommasetzung kann ein Hinweis sein, allerdings ein sehr schwacher – wenn ich bedenke, wie verschieden die Menschen schon in meiner nächsten Umgebung die Tunlichkeit eines Kommas empfinden. Die eigentliche grammatische Diskussion sollte wohl besser unabhängig von der Zeichensetzung geführt werden. Und möglichst mit authentischen Belegen, wie Herr Markner fordert.

Zu manchen Erscheinungen könnte man nur dann hinreichend viele Belege per Suchbefehl finden, wenn man lauter grammatisch annotierte Texte hätte. Oder eben man fängt frühzeitig an zu sammeln und nutzt außerdem die Kollektaneen unserer Altvorderen.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 11.01.2016 um 15.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31245

Lieber Prof. Ickler,

zu #31214:

nach der alten Dudenregelung, auf die ich mich ausdrücklich bezogen hatte, muß in beiden Sätzen - mit und ohne „um“ - ein Komma stehen, da es sich bei dem erweiterten Infinitiv nicht um das Subjekt des Satzes handelt (Herr Heudtlaß hat ja schon darauf hingewiesen).
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 15.01.2016 um 16.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31328

Lieber Herr Markner,

ich gebe Ihnen recht, daß diese Kommadiskussion reichlich akademisch ist und viele Beispielsätze in der Wirklichkeit kaum vorkommen dürften.

Wenn es aber darum geht zu verstehen, wann und warum ein Komma notwendig oder sinnvoll ist, wird man auch mit unrealistischen Beispielen arbeiten können, wenn dadurch mehr Klarheit entsteht.

zu #31185:

Mir ist immer noch nicht ganz klar, warum Ihrer Meinung nach „das um den Unterschied machen“ würde. Dabei würde ich Ihnen sogar zustimmen, allerdings mit einem etwas anderen Ergebnis.

1. Er nahm sich um auch das zweite Buch zu lesen bewußt Zeit.

2. Er nahm sich auch das zweite Buch zu lesen bewußt Zeit.

Im ersten Satz ist der erweiterte Infinitiv durch das einleitende um und den abschließenden Infinitiv klar abgegrenzt. Ein Mißverständnis ist nicht zu befürchten. Man könnte trotzdem natürlich Kommas setzen, um den Satz noch leichter lesbar zu machen.

Dagegen enthält der zweite Satz ein Lesehemmnis und eine leichte Zweideutigkeit:

Liest man zunächst Er nahm sich auch das zweite Buch ..., wird man das zweite Buch für das Objekt zu nehmen halten; liest man weiter, erkennt man erst, daß es vielmehr Objekt zu lesen ist.

Neben diesem Lesehemmnis enthält Satz 2 auch noch eine Zweideutigkeit, denn er könnte zwei verschiedenen Sätzen entsprechen:

I. Er nahm sich bewußt Zeit, auch das zweite Buch zu lesen. und

II. Er nahm sich auch bewußt Zeit, das zweite Buch zu lesen.

Daher halte ich es für notwendig, in Satz 2 mindestens ein Komma zu setzen.
Insofern gebe ich Herrn Heudtlaß recht.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 15.01.2016 um 17.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31329

Vielleicht verdeutlicht diese Ersetzungsprobe den Unterschied:
Er war dazu im Begriff.
Er hatte dazu das Herz.
Er war dazu nicht imstande.
Er besaß dazu den Schneid.
Er hatte dazu Anlaß.
Er nahm sich dazu bewußt Zeit.
*Er nahm sich um dazu bewußt Zeit.

 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 15.01.2016 um 17.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=595#31330

Er nahm sich bewußt Zeit dazu.

*Er nahm sich bewußt Zeit um dazu.
 
 

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