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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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05.03.2006
 

Viel Spaß mit den neuen Regeln!
Anmerkungen zu den „Empfehlungen des Rates für deutsche Rechtschreibung“

(überarbeitet 9. 3. 2006)


Das Paket der „Empfehlungen des Rates für deutsche Rechtschreibung“ besteht aus einem Regelwerk, einem Wörterverzeichnis und einem Bericht nebst Handreichung. Der Rat selbst hat zwar die Regeln beschlossen (wobei er stets nur die zu ändernden Teile vor sich hatte); das Wörterverzeichnis hat er aber vor der Verabschiedung durch die KMK so wenig gesehen wie den Bericht. Das Wörterverzeichnis haben die drei privilegierten Wörterbuchredaktionen zusammen mit der Geschäftsführerin des Rates angefertigt, den Bericht die Geschäftsführerin allein, vermutlich zusammen mit dem IDS-Direktor, der zwar nur Vorgesetzter der IDS-Angestellten Kerstin Güthert ist, jedoch von Anfang an ohne besondere Legitimation die Funktion des eigentlichen Leiters der Geschäftsstelle ausübte, allen Arbeitsgruppen vorsaß und als rechte Hand des Vorsitzenden tätig war. Deshalb ist der Bericht in der Fußnote auch von der „Geschäftsführung“ und nicht von der „Geschäftsführerin“ unterzeichnet. Der Bericht erwähnt „Leitlinien, die in Zusammenarbeit mit den Wörterbüchern und unter Beratung durch die Arbeitsgruppe Getrennt- und Zusammenschreibung entstanden“ und für die Anwendung der revidierten Regeln gelten sollen. Der Rat als ganzer hat diese Leitlinien nicht gesehen, die „Arbeitsgruppe“, der ein solcher allgemeiner Auftrag nicht erteilt wurde, steht de facto für Peter Eisenberg, der denn auch bei jeder Gelegenheit auf seinen maßgeblichen Anteil an der Revision hinweist. (Eisenberg war als einziger Privatmann schon in der Arbeitsgruppe und im Rat tätig, bevor er – von der vierten Sitzung an – ordentliches Ratsmitglied im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung wurde. Der Rat bestand von Anfang an aus Grüppchen, die in besonders intimer Beziehung standen und gelegentlich veritable Alternativvorlagen ausarbeiteten, stets unter Beteiligung der Geschäftsführerin, die hier eine besonders effiziente Möglichkeit der Reformdurchsetzung wahrnahm.)

Zum „Bericht“ der Geschäftsführung 2006: „Der Rat nahm nach seiner Installierung und der Bekanntmachung der Satzung am 17. Dezember 2004 seine Arbeit auf. Die erste Sitzung fand in Anwesenheit der damaligen Vorsitzenden der KMK, Frau Ministerin Ahnen, statt und war neben der nötigen Klärung von Geschäftsordnungsfragen und der Wahl von Herrn Staatsminister a. D. Dr. h.c. Hans Zehetmair zum Vorsitzenden des Rats der ersten Klärung des Vorgehens gewidmet. Dabei wurde als Konsens festgestellt, dass auf der Basis der Regelungen vom Juni 2004 ein Vorschlag erarbeitet werden sollte, mit dem der Kritik an insbesondere vier Punkten der vorliegenden Regelung Rechnung getragen werden sollte. Es handelt sich dabei um folgende, von Frau Ahnen in diesem Zusammenhang nochmals in Erinnerung gerufene Punkte:
1) Getrennt- und Zusammenschreibung,
2) Wortttrennung am Zeilenende,
3) Zeichensetzung und
4) Fremdwortschreibung.
Relativ früh stellte sich zudem heraus, dass schon aufgrund eines engen sachlichen Zusammenhangs ein gewisses Ausgreifen in den Bereich Groß- und Kleinschreibung nötig sein würde. Der Rat, der auf sechs Jahre eingesetzt ist, beschloss, sich konzentriert um die Teile zu kümmern, bei denen Konsequenzen für die Regelformulierung zu erwarten waren. Das gilt eigentlich nicht für den Bereich Fremdwortschreibung, bei dem daher die Tendenzen der Schreibung beobachtet werden sollen, wobei die Ergebnisse, wie in der Vergangenheit auch, in die Nachführungsarbeit der Wörterbücher eingehen können.“

Daraus geht nochmals hervor, daß der Rat sich aus freien Stücken eine Themenbegrenzung auferlegte, die den Wünschen der KMK entsprach. Im Statut des Rates ist von einer solchen Begrenzung nicht die Rede; nur in einer „Vereinbarung“ der beteiligten Staaten über die Einrichtung des Rates wird eine wünschenswerte Rangfolge der zu behandelnden Gebiete aufgestellt. Der Rat war nicht daran gebunden, der Vorsitzende betonte in den ersten Sitzungen vielmehr immer wieder die Unabhängigkeit des Rates in seiner Themenwahl und Terminplanung, bevor er sich ab Herbst 2005 und dann besonders Anfang 2006 völlig den Wünschen der KMK ergab. Wie frei der Rat tatsächlich war, ergibt sich auch aus der Tatsache, daß er den von der KMK erwähnten Bereich der Fremdwortschreibung ausdrücklich nicht behandelte, wohl aber den in der „Vereinbarung“ vom Juni 2005 nicht erwähnten Bereich der Silbentrennung, vor allem aber die Groß- und Kleinschreibung, von der die KMK vorsorglich behauptet hatte, hier seien keine Änderungsvorschläge zu erwarten, weshalb sie diesen Teil auch bereits zum 1. August 2005 für die Schulen verbindlich machte. Wiederum stammt die Begrenzung auf einen Teil der GKS dem freien Entschluß des Rates. Die Laut-Buchstaben-Entsprechung kam in Gestalt der Heyseschen s-Schreibung kurz auf die Tagesordnung, wurde dann aber fallengelassen, weil keine Mehrheit für eine Änderung in Aussicht stand, nicht aber weil sie grundsätzlich nicht hätte diskutiert werden können. Alles in allem ist festzustellen, daß der Rat befugt gewesen wäre, alle sechs Bereiche der Reform in sachgemäßer Weise und ohne Zeitdruck durchzuarbeiten. Er hat es nicht gewollt, weil die Mehrheit der Mitglieder dieselben Ziele hatte wie die KMK. Aus diesem Grund haben auch die z. T. sehr ausführlichen Voten, die zum ersten Paket der Empfehlungen eingegangen sind, keinerlei Änderungen zur Folge gehabt; auch die KMK hatte zwischendurch ihre Absicht bekundet, die Empfehlungen ohne nochmalige Diskussion am 2. März 2006 anzunehmen. Die erste Anhörung war damit eine reine Alibiveranstaltung, die zweite wurde folgerichtig, wenn auch satzungswidrig, gar nicht erst durchgeführt.

Die tatsächliche Fremdbestimmtheit des Rates wird mit folgender Wendung angedeutet:

„Alle Mitglieder des Rats ließen sich letztlich darauf verpflichten, dass es die Aufgabe des Rats sei, eine entsprechende konsensuelle Lösung auf der Basis des vorliegenden Regelwerks zu entwickeln.“

Sie beschlossen also nicht nur oder verpflichteten sich, sondern „ließen sich verpflichten“.

Der Bericht sagt ferner:

„Der Umfang der gemachten Vorschläge entspricht dem Auftrag der staatlichen Stellen, die Erweiterung in die Groß- und Kleinschreibung wurde auf das systematisch Nötige (vor allem im Hinblick auf Getrennt- und Zusammenschreibung) beschränkt und beschreibt den existierenden Gebrauch präziser.“

Ein verbindlicher „Auftrag staatlicher Stellen“ existierte nicht, und das „systematisch Nötige“ wird auf die Abgleichung mit der geänderten Getrennt- und Zusammenschreibung beschränkt. Hinter dem „vor allem“ verbirgt sich, daß weitere Änderungen wie die Höflichkeitsgroßschreibung überhaupt nichts mit der GZS zu tun haben, daß daher auch weiteren Änderungen im Bereich der GKS nichts entgegengestanden hätte. Sogar „auf der Basis des vorlegenden Regelwerks“ wäre alles möglich gewesen, was die Sache selbst erfordert, KMK und Rat wollten es aber gar nicht erst versuchen, sondern erstrebten eine (wie es mehrmals genannt wurde) „minimalinvasive“ Reparatur. Das ist der Grund für die Unzulänglichkeit der Empfehlungen.

Der Bericht erwähnt „wortartmäßig unklares bankrott in bankrottgehen“; dazu kommt noch pleite, von dem der Rat ebenfalls behauptet, es sei „wortartmäßig unklar“ – ein Armutszeugnis, dem auch die Grammatiker im Rat nicht zu widersprechen wagten, obwohl sie imstande sein dürften, ein ganz normales Adjektiv zu identifizieren.

Mit der Höflichkeitsgroßschreibung kann sich die Geschäftsführung immer noch so wenig anfreunden, daß sie distanzierende Anführungszeichen setzt: „Höflichkeits“-Großschreibung.

In die „Handreichung“ sind Regeln eingearbeitet, deren Formulierung bei der Arbeit am eigentlichen Regelwerk versäumt wurde. Dazu gehört gleich zu Beginn die Zusammenschreibung der Doppelpartikelverben, die ich im Sondervotum sowie im Votum des P.E.N. angemahnt hatte. Im Regelwerk selbst kommt weiterhin weder der Begriff noch die Sache vor.

Die unterschiedliche Behandlung von „die Maske fallen lassen nach § 34(4) und die Muskeln spielen lassen/spielenlassen nach § 34 E7“ ist nicht gerechtfertigt, da ein unterschiedlicher Idiomatisierungsgrad nicht festgestellt werden kann; auch ist die Zusammenschreibung von spielenlassen völlig unüblich. Ähnlich der Eintrag zu kommen lassen: Getrenntschreibung, wenn man die Feuerwehr kommen läßt, aber auch Zusammenschreibung, wenn man die Kupplung oder einen Gegner kommenläßt. Ebenso platzenlassen (eine Veranstaltung, aber nicht einen Luftballon!), setzenlassen (ohne Erläuterung), sprechenlassen (Blumen), steigenlassen (Partys, aber nicht Drachen!), sterbenlassen (Projekte, nicht Patienten!), vermissenlassen (Feingefühl). Im Rat ist all dies nicht besprochen und erst recht nicht so entschieden worden. Es handelt sich um forcierte Extrapolationen aus § 34 (4) E7, an die gewiß kein Mitglied gedacht hat, als der Rat die traditionelle Zusammenschreibung von bleiben und lassen mit Positions- und Fortbewegungsverben wiederherstellte. (Für bleiben sind solche Zusammenschreibungen im Wörterverzeichnis übrigens nicht vorgesehen.) Damit werden die berüchtigten Haarspaltereien des alten Duden noch überboten, weit über das Sprachübliche hinaus. Daß jemand Feingefühl vermissenließ und daher Blumen sprechenläßt, ist einigermaßen gewöhnungsbedürftig.

Neu ist die Regel, daß nur Objektsprädikative, nicht aber Subjektsprädikative zusammengeschrieben werden; dies soll aus den Beispielen hervorgehen, ist aber im Rat nicht diskutiert oder gar beschlossen worden. Es entspricht auch nicht der Sprachentwicklung, die vielmehr auch bei warmlaufen usw. zur Zusammenschreibung strebt. Das Beispiel sich satt essen ist unglücklich gewählt, da in der Reflexivkonstruktion ebenfalls ein Objektsprädikativ gesehen werden kann; ein Subjektsprädikativ zu sich essen ist ja nicht plausibel. Aus dem Regelwerk geht übrigens hervor, daß sich kranklachen zusammengeschrieben werden muß; es ist genauso gebaut wie sich satt essen. Man darf kaputt machen oder kaputtmachen schreiben, aber nur kaputtgehen und sich kaputtmachen. Nur die „idiomatisierte Gesamtbedeutung“ bleibt als unterscheidendes Merkmal allenfalls übrig, aber mit solchen Subtilitäten wird der Ratsuchende nichts anfangen können und sich daher gleich an die Öffnungsklausel nach E5 halten. So wird auch bei klar werden/klarwerden (mit eindeutigem Subjektsprädikativ) im Wörterverzeichnis sofort auf E5 verwiesen. Sollen etwa auch fernhalten und sich fernhalten unterschiedlich behandelt werden?

Mit diesen Beobachtungen sind wir bereits bei der Neufassung des eigentlichen Regelwerks, dem die folgenden Anmerkungen gelten sollen.

Kernstück der Revision sind Teile des Kapitels „Getrennt- und Zusammenschreibung“, das bereits von der inzwischen aufgelösten Kommission in grundlegender Weise verändert worden war. Viele Ungereimtheiten sind aber erhalten geblieben, z. T. deshalb, weil zwar neue Gesichtspunkte und eine stärkere Orientierung am Sprachgebrauch hinzugekommen, die ursprüngliche Anlage und Intention aber nicht aufgegeben worden sind. (Zu weiteren Einzelheiten verweise ich auf mein Sondervotum.)

Die zirkuläre Definition der Verbzusammensetzungen als derjenigen Verbindungen, die zusammengeschrieben werden, weil sie Zusammensetzungen sind, ist immer noch nicht überwunden.

Die Einträge zu brustschwimmen/Brust schwimmen usw. sind unklar. Nach § 33 E wären möglich: ich brustschwimme, du delfinschwimmst, er marathonläuft. Auf die Problematik dieser Beispiele hatte ich in meinem Sondervotum aufmerksam gemacht, ebenso auf die Halbzusammensetzungen, die weiterhin ungeachtet ihrer orthographischen Relevanz nicht erwähnt sind (notgelandet, notzulanden vs. gebrandmarkt, zu brandmarken usw. nach § 33 (1)). Auf der anderen Seite finden sich ebenso breite wie irrelevante Darlegungen über die Wortart der mit den Verbzusätzen „formgleichen“ Lexeme; die Verbzusätze selbst werden aber – nach der im Jahre 2004 vorgenommenen Öffnung der Liste – gleichwohl weder extensional noch intensional ausreichend definiert.

Während eine Tür offen bleibt, soll eine Frage offenbleiben; entsprechend das Kausativum offen halten/offenhalten. Hier wird also entgegen dem Vorsatz der Reformer die übertragene Bedeutung zum Anlaß unterschiedlicher Schreibweisen genommen und damit ein Unmenge von Haarspaltereien in schlechter Dudentradition wiedereingeführt. Manchmal ist bei übertragener Bedeutung eine Unterscheidungsschreibung möglich (sitzenbleiben vs. sitzen bleiben), manchmal nicht (abwärtsgehen nur zusammen, genau entgegen der ursprünglichen Reform). Für bereitstehen wird Zusammenschreibung angeordnet (nach § 34 (2.2)), aber wer keine besondere Idiomatisierung zu erkennen vermag, wird ebenfalls nach E5 verfahren. Wozu also der ganze Aufwand, der außerdem der Sprachentwicklung entgegenläuft? Die obligatorische (!) Zusammenschreibung bei übertragener oder idiomatischer Bedeutung nach § 34 (2.2) setzt außerdem in wirklichkeitsferner Weise die Dudentradition fort (flüssigmachen usw.). Nach den Regeln müßte übrigens nervös machen zusammengeschrieben werden, das Wörterverzeichnis schreibt mit nicht nachvollziehbarer Berufung auf § 34 (2.3) Getrenntschreibung vor, während publikmachen mit Berufung auf § 34 (2.1) auch zusammengeschrieben werden darf. In der Bedeutung ‚in Ohnmacht fallen’ muß schwach werden getrennt geschrieben werden, in der Bedeutung ‚nachgeben’ hingegen zusammen. Hier öffnet sich ein breites Feld willkürlicher Einzelfallentscheidungen, die weder Sinn haben noch lernbar sind.

Die Reform schreibt aus unerfindlichen Gründen Zusammenschreibung bei irrewerden vor; das ist nicht korrigiert worden.

Eine kleine Revolution bedeutet die halbe Rücknahme der Unterscheidung großschreiben (‚mit großem Anfangsbuchstaben schreiben’) vs. groß schreiben (‚besonders schätzen’); hier hatte die Reform die Dudenregeln geradezu auf den Kopf gestellt. Die nunmehr vorgelegten Empfehlungen geben dieses Prunkstück auf; es soll in beiden Bedeutungen zusammengeschrieben werden. Der Rat hat das nicht so beschlossen, es ist nachträglich eingeschleust worden.

Viele Festlegungen weichen vom Sprachgebrauch ab und wirken willkürlich. Man darf z. B. nur Rad fahren und Ski laufen und nur eislaufen schreiben, aber im Partizip auch radfahrend. Auf die Auflistung weiterer Fälle soll hier verzichtet werden. Die ganze Gruppe, deren wahren Umfang erst die Wörterbücher zeigen werden, ist unlernbar.

Die Ausnahmeregel für Verbindungen aus Infinitiv + bleiben und lassen greift zu kurz; die Einschränkung auf übertragene Bedeutung ist unberechtigt und außerdem systemwidrig; bei kennenlernen ist eine nichtübertragene Bedeutung überhaupt nicht vorstellbar. Auch spazierengehen usw. hätte anerkannt werden müssen.

Die Sonderregel für die Gruppe fest-, tot- und voll- ist im Rat nicht beschlossen worden, sondern stammt aus einer Vorlage der AG Getrennt- und Zusammenschreibung, d. h. Peter Eisenbergs. Sie beruft sich u. a. auf den Schreibbrauch (der bei anderen Sonderregeln übergangen wird).

Während das amtliche revidierte Wörterverzeichnis von 2004 bereits wieder die Einträge beisammengewesen und zurückgewesen nebst dazugehöriger Begründung („adjektivischer Gebrauch“) enthielt, sind sie nun wieder gestrichen worden, offenbar um das dogmatische und sprachwidrige Verbot der Zusammenschreibung und Zusammensetzung mit sein nicht zu durchlöchern. Allerdings ist dagewesen neu ins Wörterverzeichnis aufgenommen, was sich nur schwer als Versehen erklären läßt. Vielleicht soll es ein Schlupfloch sein, durch das der unsinnige Paragraph 35 eines Tages aufgehoben werden kann.

Der undefinierte und folgenreiche Begriff „adjektivisch gebraucht“ kam im Wörterverzeichnis von 2004 über 90mal vor, im neuen ist er ganz beseitigt, nicht aber in den Regeln, wo er weiterhin für Verwirrung sorgt.

Im Wörterverzeichnis fehlt wie schon 1996 und 2004 gut tun/guttun. Aus dem Musterwort gutschreiben kann wohl auf obligatorische Zusammenschreibung geschlossen werden, sicher ist es aber nicht. Gestrichen wurde wohl tun (1996 und 2004 nur getrennt); für weh tun wird die Variante wehtun angegeben (1996 und 2004 nur zusammengeschrieben). Das grammatisch falsche Not tun ist zugunsten der bisher unüblichen Zusammenschreibung nottun aufgegeben worden; das ebenso falsche Not sein scheint in letzter Minute (von der informellen Wörterbuch-AG?) durch das altbekannte not sein ersetzt worden zu sein. Diese Fälle drehen sich von Revision zu Revision wie auf einem Karussell, und man weiß nie, wie sie nach der nächsten Runde aussehen werden. Auch jdm. feind sein usw. ist entgegen der Erwartung an die AG GKS wiederhergestellt, überflüssigerweise ergänzt durch den Eintrag jemandes Feind sein – als wenn es hier etwas zu regeln und nicht nur zu reparieren gäbe.

Obwohl die herkömmliche und sinnvolle Zusammenschreibung von spazierengehen usw. im Rat diskutiert worden ist, haben sich die Blockierer durchgesetzt; die Getrenntschreibung bleibt obligatorisch, ohne Rücksicht auf den Sprachgebrauch, an dem man sich doch wieder mehr orientieren wollte.

Bei recht haben ist neuerdings die grammatisch falsche Großschreibung nur noch als Variante möglich: wie Recht du hast. Man muß sich geradezu wundern, daß nicht Zusammenschreibung angeordnet wird wie bei leidtun. Für beiseiteschieben usw., zugutehalten usw. wird jetzt, genau entgegengesetzt zur Revision von 2004 und zum alten Duden, Zusammenschreibung angeordnet. Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum beiseite und zugute aus der Beispielliste im Regelwerk gestrichen wurden – eine weitere Entscheidung, die ohne Beteiligung des Rates getroffen wurde. Für zustande kommen und weitere Fälle, die sich nicht vorhersagen lassen, ist Zusammenschreibung aber keineswegs zugelassen. Das dürfte den Nachschlagebedarf und die Fehlerhäufigkeit stark erhöhen.

Während die Zulassung von beiseiteschieben usw. (freilich nicht die obligatorische Zusammenschreibung!) einen Fortschritt gegenüber dem alten Duden bedeutet, behält die Revision die strikte Getrenntschreibung von ernst nehmen bei, entgegen dem Sprachgebrauch.

Der Eintrag „übrigbleiben (keine andere Wahl haben)“ ist sinnlos, denn diese Bedeutung hat der Verbkomplex nie. Außerdem soll wieder die kaum eindeutig feststellbare Idiomatisierung zu unterschiedlicher Schreibweise führen.

Die unterschiedliche Regelung von hochbegabt/hoch begabt und hochbetagt wird niemandem einleuchten. Man kann die Beispielreihe auch nicht selbständig verlängern. Hier entsteht enormer Nachschlagebedarf. Dasselbe gilt für Zusammensetzungen mit wohl-; aus Regeln und Wörterverzeichnis ist noch immer nicht ableitbar, wie z. B. wohlbekannt geschrieben werden soll.

Während die Revision von 2004 durch den Duden so ausgelegt wurde, daß sogar offengesagt, offengestanden zusammengeschrieben wurden, scheint das nun nicht mehr zu gelten. Beibehalten ist die irreführende Auskunft, daß weitgehend und weit gehend lediglich Variantenschreibungen ohne unterschiedliche Verwendungsmöglichkeit seien.

Bei zuhause und nachhause ist die bisher vermerkte Beschränkung auf Österreich und die Schweiz nun aufgegeben.

Bei Armvoll, Handvoll, Handbreit, Mundvoll, Zeitlang hat sich der Rat nicht zur umstandslosen Wiederherstellung der seit Jahrhunderten bekannten Zusammensetzungen aufraffen können, sondern läßt sie nur als Varianten neben der Aufspaltung gelten: zwei Arm voll Reisig usw. – mit gewöhnungsbedürftigen Pluralformen. Hier wie auch sonst wird niemals zugegeben, daß die Reform fehlerhaft war, sondern die Reparatur wird immer nur als eine gewisse Verschiebung der Gesichtspunkte verbrämt. Übrigens greift das Wörterverzeichnis und damit die Gruppe der im Rat vertretenen Wörterbuchverlage mit diesen Einträgen in die Paragraphen 38 und 39 ein, die vom Rat wegen ihrer hoffnungslosen Verworrenheit überhaupt nicht mehr bearbeitet worden sind. Anderseits fehlt aber weiterhin die Antwort auf manche Fragen, z. B. nach der revidierten Schreibweise von Hohe(r)priester, Hohe(s)lied (im Jahre 2004 aus dem Wörterverzeichnis gestrichene Fälle). Bleibt es bei unter der Hand, aber vorderhand?

Das Allerweltswort jedesmal bleibt verboten, ebenso ein paarmal. Die Behandlung von mal/Mal ist weiterhin sehr unbefriedigend. Auch bei irgend greift die Begründung der obligatorischen Zusammenschreibung (irgendetwas) nicht.

Da Fremdwortschreibung und Bindestrich ausgeklammert wurden, bleiben auch die unzweckmäßigen Schreibungen wie Sitin erhalten. Die widersprüchliche Bindestrichsetzung vor dem Suffix –fach (das 8-Fache usw.), eine Neuerung von 2004 mit falschem Verweis auf § 40 (3), bleibt erhalten.

Bei der Groß- und Kleinschreibung wollten und durften die Ratsmitglieder nur einen Teil der bisherigen Irrtümer zurücknehmen.

Unter § 58 wird weiterhin behauptet, daß bei sie war die klügste meiner Zuhörerinnen und von fern klein geschrieben werde, obwohl die betreffenden Wörter „formale Merkmale der Substantivierung aufweisen“. Welche Merkmale sollen das sein? Die Darstellung bringt es mit sich, daß ganz normale und erwartbare Schreibungen wie von fern oder für dumm (verkaufen) nun als buchenswerte Ausnahmen erscheinen.

Mit den seit 2004 geltenden Großschreibungen im Allgemeinen, des Öfteren, die Meisten, von Weitem usw. kehrt die Reform ins 19. Jahrhundert zurück. Die Großschreibung der Tageszeiten wird nicht korrigiert: gestern Abend. Erhalten bleibt auch das grammatisch falsche Diät leben.

Die (unveränderte) Regel § 58 E2 führt zwar durch konsequentere Anwendung in einigen Fällen wieder zu besseren Ergebnissen (es heißt wieder jenseits von Gut und Böse), ist aber ungemein kompliziert: „Substantivierungen, die auch ohne Präposition üblich sind, werden nach § 57(1) auch dann großgeschrieben, wenn sie mit einer Präposition verbunden werden.“ Hier muß zuerst ermittelt werden, ob es sich überhaupt um eine Substantivierung handelt, dann muß der Präpositionstest durchgeführt werden. Trotzdem bleibt weiterhin unklar, warum es heißt schwarz auf weiß, grau in grau (nach 3.1), aber auf Rot, in Grau (nach E2) usw. In Wirklichkeit hat die Groß- und Kleinschreibung nichts mit der Präposition zu tun. Der Test ist daher sachfremd und widerspricht der Intuition der Sprecher.

Zu den vermeintlichen Ausnahmen gehört weiterhin die Kleinschreibung von Pronomina, „auch wenn sie als Stellvertreter von Substantiven gebraucht werden“- eine linkische und sprachwissenschaftlich unhaltbare Formulierung.

Bei grüß mir die Deinen und jedem das Seine war die Großschreibung allgemein üblich, die Einführung der fakultativen Kleinschreibung scheint überflüssig.

Seit der Revision von 2004 können manche „Zahladjektive“ auch groß geschrieben werden, „wenn der Schreibende zum Ausdruck bringen will, dass das Zahladjektiv substantivisch gebraucht ist“ (5). Das ist wieder eine von den problematischen Bezugnahmen auf Intentionen, die kein normaler Sprecher haben kann. Die fakultative Kleinschreibung des Substantivs Dutzend (angesichts dutzender von Augenzeugen) nach E5 ist ebenfalls unnötig.

Die Großschreibung von Nominationsstereotypen und Antonomasien kann nicht abschließend geregelt werden. Der Eigennamenbegriff ist so unklar wie seit je, die umfangreichen Listen mit verschiedenen Typen von Eigennamen sind wenig hilfreich. Der Schwarze Kontinent zum Beispiel wurde bisher überwiegend klein geschrieben, soll aber nur noch groß geschrieben zulässig sein. Welche Großschreibungen die privilegierten Wörterbuchverlage in ihren Produkten noch vorschreiben oder untersagen werden, ist nicht abzusehen.

§ 60 E2 ist überflüssig, da solche Schreibweisen (konkret als Zeitschriftentitel usw.) nicht zum Regelungsbereich einer allgemeinen Orthographie gehören, sondern wie die Werbetextgestaltung frei bleiben müssen.

Die vielkritisierte Neuregelung der von Eigennamen abgeleiteten Adjektive (nur noch goethesche oder Goethe'sche Gedichte) nach § 62 soll unverändert bleiben.

Während 1996 und auch noch 2004 der Paragraph 63 sich zu § 64 ungefähr wie die Regel zur Ausnahme verhielt, behandeln nun beide großenteils dasselbe. Außerdem ist § 63 in sich unklar. Zunächst wird Kleinschreibung für „feste Verbindungen“ von Substantiven mit Adjektiven verordnet, unter E jedoch mit einer unklaren Kann-Bestimmung Großschreibung für zulässig erklärt, wenn „eine neue, idiomatisierte Gesamtbedeutung“ vorliegt. Was ist der Unterschied zwischen einer festen Verbindung und einer idiomatisierten? Die Beispiele geben keinen Aufschluß, denn die festen Verbindungen bunter Hund, schöne Bescherung oder graue Maus sind ebenso idiomatisiert wie das Schwarze Brett oder der Weiße Tod. Der Paragraph schließt mit dem Satz: „Kleinschreibung des Adjektivs ist in diesen Fällen der Regelfall.“ Als Tatsachenbehauptung ist das sicher falsch, denn das Schwarze Brett zum Beispiel wird meistens groß geschrieben, und dasselbe gilt für unzählige andere Ausdrücke dieser Art. Was soll der Ratsuchende überhaupt mit einer solchen Bemerkung anfangen?

Mit § 64 (3) wird überraschenderweise ein Abschnitt wiederaufgenommen, der 2004 schon gestrichen war: „fachsprachliche Bezeichnungen bestimmter Klassifizierungseinheiten, so von Arten, Unterarten oder Rassen in der Botanik und Zoologie“. Es ist nicht einzusehen, warum einzelne Fachgebiete eigens erwähnt werden, denn die Großschreibung der Nominationsstereotype beschränkt sich nicht auf Fachsprachen. Dem Benutzer ist mit den Hinweisen und Beispielen unter E nicht gedient, da er in jedem Einzelfall das Wörterbuch konsultieren muß.

Bei der Worttrennung am Zeilenende widerspricht die Revision erwartungsgemäß dem Running gag des Vorsitzenden Zehetmair, daß Trennungen wie Urin-stinkt und Anal-phabet nicht mehr zulässig sein sollen. Im übrigen bleibt leider die nichtmorphologische Trennung der Fremdwörter (inte-ressant) als gleichwertige Möglichkeit erhalten, was aus verschiedenen Gründen abzulehnen ist und den Schülern und Wenigschreibern geradezu einen Bärendienst erweist. Die Nichttrennung von ck (Da-ckel) widerspricht der Trennung nach Sprechsilben und dem Paragraphen 3 des Regelwerks.

Die Laut-Buchstaben-Entsprechungen, ein Kernbereich der Rechtschreibreform, sind nicht bearbeitet worden. Daher bleiben die vielkritisierten „volksetymologischen“ Neuschreibungen erhalten, ebenso die bereits erwähnten Fremdwortschreibungen: Grislibär, Hämoriden, Schikoree, Kommunikee u. a. (aber weiterhin nur Attaché u. a.). Den Thunfisch kann man auch Tunfisch schreiben (was so wenig angebahnt war wie die Spagetti), die Thuja aber nicht Tuja. Hinzu kommt die unerhört schwierige Regel zur Großschreibung innerhalb mehrgliedriger Fremdwörtern: Herpes Zoster, Ultima Ratio, Commedia dell’Arte, Café au Lait, aber, wenn man den neuesten Wörterbüchern glauben kann, weiterhin Café crème, L’art pour l’art u.v.a. Erhalten bleiben auch die fehlerträchtige, aber hochsymbolische s-Schreibung und die Dreibuchstabenregel.

Bei der Zeichensetzung ist nur der Kommagebrauch leicht verändert; das überflüssige Komma als drittes Satzzeichen nach wörtlicher Rede bleibt verpflichtend erhalten.

Fazit: Wie die Altreformer durchaus zutreffend erkannt haben, erlaubt die nochmals revidierte Fassung es in einer wachsenden Zahl von Fällen nicht mehr, Schreibweisen von Regeln abzuleiten. Ganz nach Belieben werden semantische („begriffliche Einheit“, „idiomatisierte Gesamtbedeutung“, „übertragener Gebrauch“), formalgrammatische, Betonungsmerkmale oder auch der Sprachgebrauch herangezogen, um einzelne Schreibweisen zu begründen, und wenn Zweifel bleiben, darf man so oder so schreiben. Zweifel sind aber gerade der Anlaß, warum man überhaupt nachschlägt. Der Zweck der ganzen Reform wird daher gründlich verfehlt. Die Neufassung ist aber auch regeltechnisch höchst unbefriedigend; die Umsetzung in Wörterbüchern sieht sich einem weiten Spielraum gegenüber, der von den Redaktionen nach eigenem Ermessen ausgefüllt werden muß. Während im großen und ganzen eine ungeahnte Fülle von Variantenschreibungen eröffnet wird, die offenbar der Kritik die Spitze nehmen sollen, kommt es auf der anderen Seite zu unerhört restriktiven Vorschriften, die mit dem tatsächlichen Sprachgebrauch nichts zu tun haben. Diese neue Rechtschreibung läßt sich ohne ständiges Nachschlagen in den noch nicht vorliegenden, ohne Mitwirkung des Rates verfaßten Wörterbüchern und Rechtschreibprogrammen weder anwenden noch unterrichten. Die Nachrichtenagenturen arbeiten bereits intensiv an einer „gemeinsamen Hausorthographie“; Bücher wie „Was Duden empfiehlt“ bieten sich als Hilfe an – insgesamt ein Rückschritt in die Zeit vor der Erringung der deutschen Einheitsorthographie von 1901.

Auf eine gewisse Hast bei der Anfertigung dieser Texte deuten die Fehler und Versehen hin: Die Sitzung vom „3. Juni 2006“ hat noch nicht stattgefunden, gemeint ist 2005. Ein weiterer Druckfehler ist die Hand voll Rreis. Ein Abschnitt des Berichts, der das undurchsichtige Verfahren rechtfertigen soll, enthält ungrammatisches Gestammel:

„Der Rat unter der Leitung seines Vorsitzenden hat auch auf eine andere Art von Kritik zu reagieren, die auch schon zur neuen Besetzung des Rats geführt haben.“ „Der Rat hat zudem bereitwillig den Anträgen bzw. Vorschlägen zugestimmt, den Rat um stimmberechtigte Mitglieder aus weiteren Staaten, in denen das Deutsche eine offizielle Rolle spielt, aufzunehmen.“



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Kommentare zu »Viel Spaß mit den neuen Regeln!«
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Kommentar von R. M., verfaßt am 05.03.2006 um 12.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=439#3066

Man könnte meinen, die Geschäftsführerin habe eine Schwarze Liste mit gefährlichen Beispielwörtern abgearbeitet. Durch das Herumflicken an den Regeln ergeben sich aber immer wieder neue Absurditäten.
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 05.03.2006 um 13.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=439#3069

§ 34 Abs. 4 E7: Man würde in der Tat gern erfahren, welche konkrete Bedeutung kennen lernen denn haben soll, wenn es daneben ein kennenlernen mit „übertragener Bedeutung“ gibt. Die in Klammern gesetzte Bedeutungsangabe zu kennenlernen, nämlich „Erfahrung mit etwas oder jmdm. haben“ (Hervorhebung von mir), erscheint mir absurd.
 
 

Kommentar von sueddeutsche.de, verfaßt am 05.03.2006 um 14.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=439#3071

Es wird alles einfach:
Meint die sueddeutsche.de
 
 

Kommentar von Simon Bauer, verfaßt am 05.03.2006 um 14.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=439#3072

Der Artikel bei sueddeutsche.de ist mir schon ins Auge gefallen - interessanter finde ich sogar noch das Bild des Artikels:
"alt - neu - neuer" ... am xx ?
Ich müßte mich jetzt täuschen, aber gibt es noch genügend Superlative, um dem weiteren Verlauf tatsächlich gerecht zu werden?
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 05.03.2006 um 18.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=439#3075

Wenigschreiber werden nicht gewillt sein, lange Wörterlisten auswendig zu lernen, und bei ihnen prägen diese sich wegen der nur gelegentlichen Anwendung auch nicht allmählich ein. Diese Schreiber brauchen Musterwörter, aus denen sie Analogien ableiten können, und gerade darin hilft ihnen die neue Reformreformschreibung nicht. Wenn sie schon den Wenigschreibern nicht nützt, wem dann überhaupt? Wenigschreiber kaufen nicht jede neue Dudenauflage; viele von ihnen lesen ungern Bücher und haben gerade mal eine Bibel und ein Kirchengesangbuch im Haus.
 
 

Kommentar von jms, verfaßt am 05.03.2006 um 19.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=439#3076

Der Maßstab

Eine zweckmäßige einheitliche Orthographie muß den Ansprüchen von Viellesern und Vielschreibern genügen. Diese sind es, die letztlich über die Akzeptanz und den Gebrauch einer Schreibung bestimmen.

Deshalb sollten jetzt alle Zeitungen, Zeitschriften und Verlage offene und ehrliche Umfragen unter ihren Lesern und Redakteuren/Autoren machen, welche Rechtschreibung sie bevorzugen. (Eine neue Allensbachumfrage wäre auch nicht schlecht.)

Das Ergebnis dürfte wohl klar sein. Aber die Oberlehrer in manchen Verlagshäusern und Chefredakteurssesseln (z.B. Markwort) haben ein ähnliches Problem wie die Kultusminister, das der Gesichtswahrung.

Wenn sie Charakter hätten, würden sie sich trotzdem einen Ruck geben, und der Spuk wäre in kürzester Teit vorbei. Die Reform befindet sich nach dem KMK-Beschluß ohnehin im Koma. Hier wäre Sterbehilfe kein moralisches Problem, das Begräbnis wäre ein stilles Freudenfest für alle gepeinigten Leser und Autoren.

Auch die Reformbefürworter sehen doch inzwischen ein, daß ihre gutgemeinten pädagogischen Absichten nichts gefruchtet bzw. das Gegenteil bewirkt haben.

Sonst zieht sich das Ganze nochmals zähe fünf bis zehn Jahre hin, denn es gibt halt keine richtige Rechtschreibung in der falschen, worauf schon öfters hingewiesen worden ist.
 
 

Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 06.03.2006 um 09.47 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=439#3086

DIE WELT

... Springer will bis Ende März prüfen, ob nach der KMK-Entscheidung etwas geändert wird. Über den künftigen Kurs des Verlags sagte Sprecherin Edda Fels am Freitag: „Die Entscheidung ist noch nicht gefallen.“ Am 30. März trifft sich die Ministerpräsidenten-Konferenz, die dem KMK-Beschluß noch formell zustimmen muß.

http://www.welt.de/data/2006/03/06/855720.html

Hier täten schnelle, einfache und überzeugende Argumentationshilfen not.

 
 

Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 06.03.2006 um 10.26 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=439#3088

Ist die Neuregelung "rekurssicher"? Diesen schweizerischen Grundgedanken lohnt es aufzugreifen. Wer wird etwas einführen wollen, was durch Gerichtsurteil gestoppt werden könnte? Warum tritt die KMK nicht die Flucht nach vorn an und läßt ein Rechtsgutachten anfertigen, um sich abzusichern und sich eine gewaltige Blamage zu ersparen?
Wer also nun die Umsetzung betreibt, setzt sich in den Verdacht der Blauäugigkeit. Wird man das bei Springer riskieren wollen?
 
 

Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 06.03.2006 um 10.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=439#3089

Ein Rechtsgutachten nützt nichts: 2 Juristen = 3 Meinungen.

Hinzu kommt, daß ein Rechtsgutachten in Form des Lüneburger OVG-Urteils (oder Beschlusses?) vorliegt. Soweit ich sehe, wäre ein Umschwenken des Axel-Springer-Verlags notwendig, um diesem die Grundlage zu nehmen.
 
 

Kommentar von Kai Lindner, verfaßt am 06.03.2006 um 17.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=439#3103

Angesichts der ungeteilten Zustimmung für die Reform (eben jene hartgesottenen 10%) und der von uns erlebten Realität bleibt nur eine Feststellung: Wir leben in einer Diktatur. In der Diktatur der Mittelmäßigkeit. ;-)
 
 

Kommentar von www.medianet.at, verfaßt am 07.03.2006 um 09.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=439#3108

07.03.2006|medien

Rechtschreibreform ohne Theodor Ickler

Schärfster Kritiker der Reform hat den Rechtschreibrat verlassen


http://www.medianet.at/content.cfm?SID=101413

Theodor Ickler hat den Rat für deutsche Rechtschreibung am 23. Februar unter Protest verlassen. Auslöser dieses Schrittes war die Verfahrensweise der Geschäftsführerin Kerstin Güthert: Diese hatte mehrere Geheimsitzungen mit den im Rat vertretenen Wörterbuchverlagen abgehalten. „Die Ankündigung des Rates, nun das Paket samt Wörterverzeichnis vorzulegen, ist ein wüstes Stück”, teilte Ickler dieser Zeitung mit. „Niemand im Rat hat dieses Wörterverzeichnis gesehen, außer den Wörterbuchredaktionen, die es gemacht haben.” Nun sind die Kritiker der Rechtschreibreform trotz eines reformkritischen Bevölkerungsanteils von 60 bis 80% in diesem Gremium nicht mehr klar unter-, sondern praktisch überhaupt nicht mehr repräsentiert.

medianet: Herr Prof. Ickler, wie war der Rechtschreibrat zusammengesetzt und warum wurden Sie Mitglied?

Theodor Ickler: Im Rat saßen fast nur die bekannten Reformbetreiber, darunter sieben von zwölf Mitgliedern der aufgelösten „Zwischenstaatlichen Kommission”. Trotzdem bin ich im Frühjahr 2005 der Bitte des P.E.N.-Zentrums gefolgt, die Interessen der Schriftsteller zu vertreten. Die dritte Sitzung war die erste richtige Arbeitssitzung und auch für mich die erste.

medianet: Wie sah die Arbeitsweise dieses Gremiums aus?

Ickler: Als erstes hat der Rat sich für alle Beschlüsse eine Zweidrittelmehrheit verordnet. Dieser Vorschlag wurde von einigen Reformern damit begründet, dass dann in der Öffentlichkeit größere Akzeptanz für neue Regeln zu erwarten sei. Auf jeder Sitzung war ein Aufpasser der bundesdeutschen Kultusministerkonferenz anwesend.

medianet: Wie muss man sich die Entscheidungsfindung im Rat vorstellen?

Ickler: Es gab Arbeitsgruppen zu bestimmten Themenfeldern, die sich an einer Revision der Regeln versuchten. Es wurde dann im Plenum Satz für Satz einzelner Paragrafen diskutiert und abgestimmt. Die große Mehrheit stimmte nach Gusto ab, nicht nach Prinzipien. Doch die ganze Arbeitsweise mit Arbeitsgruppen, die wie Schöffengerichte gebaut sind (ein Berufsrichter und ein paar Laien) ist für wissenschaftlich entscheidbare Fragen ein bisschen abwegig.

medianet: Wie erfolgte die Ablösung der Kommission durch den Rat?

Ickler: Die Zwischenstaatliche Kommission scheint formlos entlassen worden zu sein, nicht einmal den obligaten Lob- und Dankspruch gab es, den man sonst jeder abgehalfterten Größe von gestern hinterherwirft. Soweit ich von der Kultusministerkonferenz erfahren konnte, wurde den bundesdeutschen Mitgliedern rechtzeitig mitgeteilt, dass sie zuhause bleiben können. Bei den Österreichern und Schweizern, die vollzählig wieder nominiert wurden, war es allerdings ein gezielter Affront gegen die bundesdeutsche Kultusministerkonferenz.

medianet: Welchen Zweck haben solche Gremien?

Ickler: Das ganze Theater mit Kommission, Beiräten, Rat usw. findet nur statt, weil der widerstrebenden Bevölkerung durch List und Gewalt und Zermürbung eine vollkommen misslungene, aber einträgliche Neuschreibung aufgenötigt werden soll.

medianet: Sie sind der schärfste Gegner der Reform. Aber welche Alternative bieten Sie an?

Ickler: An den Schulen wird die allgemein übliche Rechtschreibung unterrichtet. Rechtschreibwörterbücher werden wie andere Schulbücher von den Kultusministerien zugelassen. Das ist mein Vorschlag zur Entstaatlichung, er liegt seit neun Jahren auf dem Tisch, war sogar schon von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gebilligt. Ich habe die übliche deutsche Rechtschreibung in einem schlanken und leichtfasslichen Regelwerk dargestellt und sie auch in einem zeitgemäßen Wörterbuch dokumentiert.

Das Herumsitzen in Gremien zweifelhaftester Zusammensetzung mit dem Zweck, an der Sprache von 100 Millionen Menschen herumzubasteln, oder vielmehr an dem leichtfertigen Anschlag auf diese Sprache, ist grotesk. Warum treten wir das Ganze nicht wirklich in den Müll (wie eine große Zeitung vorschlug) und vergessen es so schnell wie möglich?

medianet:Das österreichische Wissenschaftsministerium hat mitgeteilt, im Rat würden Befürworter und Kritiker in „überliefert konstruktiver Weise” zusammenarbeiten. Warum scheren Sie aus?

Ickler: Dieser Schritt wurde notwendig, nachdem die Ratsmehrheit und der Vorsitzende Hans Zehetmair die Revision der missglückten Rechtschreibreform auf Wunsch der Kultusminister vorzeitig abgebrochen hatten. Wesentliche Teile der Neuregelung durften nicht mehr bearbeitet werden, weil die immer noch sehr mangelhaften Regeln schon zum kommenden Schuljahr verbindlich gemacht werden sollen. Damit haben die wirtschaftlichen Interessen der Schul- und Wörterbuchverlage und das Prestigebedürfnis der Politiker über das allgemeine Interesse an einer sprachrichtigen Rechtschreibung gesiegt. Der Vorsitzende begründet sein bedingungsloses Einknicken außerdem mit irreführenden Behauptungen, die eine weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit unmöglich erscheinen lassen.

medianet: Wie sieht die Zukunft der Rechtschreibreform aus?

Ickler: Es gibt jetzt drei Möglichkeiten. Erstens: Die Kultusministerkonferenz winkt das Paket durch. Dann bekommen wir eine miserable Schulorthografie, nicht besser als die Version von 2004, weil es zwar einzelne Korrekturen gibt, dafür aber eine sehr verwirrende Formulierung.

Zweitens: Die Kultusministerkonferenz lehnt alles ab und beharrt – natürlich mit Rücksicht auf die Schüler, also die Verlage – auf dem Stand vom Sommer 2005. In der letzten Zeit haben viele offen geäußert, dass sie eigentlich überhaupt keine Änderungen der ursprünglichen Reform für notwendig halten. Das würden sie vielleicht nicht sagen, wenn sie nicht schon wüssten, dass sie mit ihrer Blockade bei den Politikern auf offene Ohren stoßen.

Und drittens: Die Empfehlungen zur Getrennt- und Zusammenschreibung, Zeichensetzung und Silbentrennung werden gebilligt, der Rest nicht. Das hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit, weil die Änderungen der Getrennt- und Zusammenschreibung schon von der Kommission vorgenommen worden sind. Zehetmair könnte sagen, mehr sei unter den gegebenen Umständen nicht zu erreichen gewesen, aber es sei immerhin ein wesentlicher Stein des Anstoßes aus dem Weg geräumt worden.

medianet: Wie schätzen Sie die Lage in Österreich ein?

Ickler: In Österreich wird man, wie üblich, alles kritiklos hinnehmen, was die deutschen Minister beschließen.

Theodor Ickler lehrt Deutsch als Fremdsprache an der Universität Erlangen-Nürnberg. Das Interview führte Alexander Glück, freier Journalist in Wien.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.02.2020 um 05.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=439#42870

Was bei bankrott längst geschehen ist, nämlich die Erweiterung des Gebrauchs zur attributiven Verwendung hin (vgl. auch Markner in FAZ 9.4.2002), dürfte sich auch beim bisher nur prädikativ verwendeten pleite anbahnen:

Ein Unternehmen muss wirtschaftlich geführt werden, denn von einem pleiten Unternehmen haben am wenigsten die Beschäftigten! (tagesschau.de, Leserzuschrift)
 
 

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