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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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02.06.2011
 

Logik der Negation
Unfromme Anmerkung

Frau Käßmann hat auf dem Evangelischen Kirchentag gesagt:
"Nichts ist gut in unserem Land, wenn so viele Kinder arm sind."
Bekanntlich hatte sie auch in Afghanistan gar nichts Gutes erkennen können, aber ihre neue Aussage läßt mir nun doch keine Ruhe. Wenn in einem Land etwas schlecht ist, dann folgt daraus, daß dort nicht alles gut ist, aber nicht, daß alles nicht gut ist. Man sollte mit der Negation etwas sorgfältiger umgehen. Die Zuhörer waren aber trotzdem begeistert.



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Kommentare zu »Logik der Negation«
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Kommentar von Kurt Albert, verfaßt am 02.06.2011 um 18.50 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#18782

Negation ...

Wäre hier nicht eher die Konjunktion ins Auge zu fassen (Beispiele dieser Art sind mir immer wieder begegnet: Unsicherheiten beim Konjunktionengebrauch)?
Mit "da" oder "weil" formuliert, käme mir der fragliche Satz schon grammatisch akzeptabler vor.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 02.06.2011 um 20.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#18783

Ich glaube nicht, daß sich Frau Käßmann in der Logik vertan hat. Wenn nichts gut ist, dann ist alles schlecht. Also heißt ihr Satz:

Alles ist schlecht in unserem Land, wenn so viele Kinder arm sind.

Ich glaube, das ist genau das, was sie sagen wollte: nicht daß etwas schlecht ist, sondern tatsächlich alles. Damit muß man nicht einverstanden sein, trotzdem ist dies m. E. weniger eine Frage der Logik, sondern der Rhetorik.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 03.06.2011 um 00.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#18784

Ich stimme Herrn Riemer darin zu, daß an dem Satz von Frau Käßmann weder grammatisch noch logisch etwas auszusetzen ist.

Ich glaube allerdings nicht, daß sie sagen wollte, daß alles schlecht sei in unserem Land. Ihre Aussage ist wohl eher als eine rhetorische Floskel aufzufassen, die ich folgendermaßen verstehe: "All das Gute in unserem Land kann die Tatsache nicht aufwiegen, daß so viele Kinder in Armut leben."

Selbst das halte ich allerdings für eine maßlose Übertreibung. Noch vor 100 Jahren sind in Deutschland 16% der Kinder vor dem sechsten Lebensjahr gestorben, während heute angeblich 14% der Kinder in "Armut" leben – jedenfalls nach einer der diversen Schätzungen, auf die sich Frau Käßmann anscheinend stützt, denn sie spricht von jedem siebten Kind. Ganz abgesehen von der Kinder- und auch Erwachsenenarmut vor 100 Jahren, scheint mir das doch ein gewaltiger Fortschritt für die Kinder zu sein.

Frau Käßmann spricht zugleich von einer "Ethik des Genug". Warum begnügen wir uns dann nicht alle mit dem Lebensstandard eines Sozialhifeempfängers? Weder würden wir dann verhungern, noch gäbe es "Kinderarmut".

Frau Käßmann kritisiert anscheinend auch die deutschen Waffenexporte. Warum kritisiert sie nicht, daß in Deutschland überhaupt Waffen hergestellt werden? Wo sie doch das gemeinsame Gebet bei Kerzenschein für die bessere Lösung hält. Wenn wir Deutsche das Recht auf Selbstverteidigung mit der Waffe haben, warum sollten wir nicht auch anderen Völkern dabei helfen?

Frau Käßmann ist eben Vertreterin einer Hypermoral, die sich um die Lebenswirklichkeit nicht kümmert. Daß so viele Deutsche sie deshalb anhimmeln, stimmt mich sehr bedenklich. Da ist es ja nur folgerichtig, daß anscheinend bei uns ganz praktische Fragen inzwischen nicht mehr von der Regierung, sondern von "Ethikkommissionen" entschieden werden.

Als Theologin sollte Frau Käßmann uns besser mal erklären, wieso ihr Gott solche Mißstände wie "Kinderarmut" überhaupt zuläßt. Für sie ist aber das Evangelium anscheined nur eine "Anleitung zum Glücklichsein". Da könnte ich ja genausogut ein Buch wie "How to get rich without really trying" lesen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.06.2011 um 08.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#18785

Herr Achenbach hat völlig recht, und darauf wollte ich ja auch hinaus, als ich das Ganze für einen logischen Fehler zu halten vorgab. Mich stört diese hemmungslose Rhetorik. Manche Leute fühlen sich in einer Position, wo sie keine Begründungspflichtigkeit ihrer krassen Thesen mehr empfinden. Kanzelreden über Gott und die Welt, besonders aber über letztere, gehören dazu. Die Interventionen in anderen Ländern, wo leider nicht alles gut ist, sind ein sehr schwieriges Thema, ebenso die Rüstung, die Umwelt, die perinatale Medizin und die Energieversorgung, und ich sehe hier keine besondere Qualifikation, mit fromm klingenden Sprüchen Lösungen anzudeuten, die keine sind. "Schreckliche Vereinfacher" ist noch das mindeste, was man hier sagen muß.

Durch den Hinweis auf das Übel in der Welt verschafft man sich augenblicklich einen rhetorischen Vorteil, ohne weiteres Zutun und vor allem ohne seine krassen Forderungen selbst durch einen heiligmäßigen Lebenswandel beglaubigen zu müssen. Das ist eigentlich unfair.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.06.2011 um 09.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#18786

Und gleich noch eine Beobachtung zwischen Theologie und Sprache:

»Der nordelbische Bischof Gerhard Ulrich hat zum Schutz des Sonntags als "verlässliche Größe" aufgerufen. Es müsse darauf geachtet werden, dass "die Menschen strukturierte Zeit bekommen" und Phasen der "Entschleunigung", sagte Ulrich beim evangelischen Kirchentag in Dresden. Die Sonntagsruhe werde gebraucht, "um gesund zu bleiben".« (epd 3.6.11)

Es fällt auf, daß die Begründung so unbiblisch klingt, nicht einmal die "seelische Erhebung" wie in manchen Länderverfassungen wird bemüht. Mir fällt dazu ein, daß in Peter Häberles Abhandlung "Der Sonntag als Verfassungsprinzip" auffallend viele Ausrufezeichen stehen. In einem juristischen Fachtext erwartet man das nicht ohne weiteres. Tatsachenfeststellungen gewinnen dadurch einen seltsam triumphierenden Charakter.
 
 

Kommentar von Rominte van Thiel, verfaßt am 04.06.2011 um 19.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#18794

Die Geschlechtslosen oder Geschlechtsgerechten sind eingeladen: "Vom 1. bis 5. Juni 2011 werden rund 100 000 Dauerteilnehmende den 33. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dresden feiern."
(Startseite des Kirchentages)
Und an Beugungsschwäche leidet man auch:
"Der dortige "Fahrradfreundliche Kirchentag", gestaltet in Zusammenarbeit mit dem Allgemeiner Deutscher Fahrrad Club (ADFC) und der Gastgeberstadt, ..."
 
 

Kommentar von Marconi Emz, verfaßt am 04.06.2011 um 23.29 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#18796

Frau Käßmanns Aussage lässt allerlei interessante Deutungen zu, zum Beispiel "Nichts ist gut in diesem Land, solange nicht alle Kinder reich sind" bzw. "Dieses Land ist erst dann ein gutes Land, wenn alle Kinder reich sind". Aber wie auch immer, dümmlich bleibt die Aussage in mehrfacher Hinsicht sowieso, unter anderem, weil Kinder ja an sich arm sind, da sie normalerweise weder über Vermögen verfügen, erfolgreiche Aktiengeschäfte tätigen noch in Firmenvorständen sitzen.

Zudem käme Frau Käßmann dann auch das biblische Gleichnis von den Reichen und dem Kamel in die Quere, und das wollte sie vermutlich unbedingt vermeiden. Naive Kirchentagsbesucher könnten aus diesem Gleichnis möglicherweise sogar schließen, dass Deutschland unbedingt noch viel, viel mehr arme Kinder oder besser gesagt arme Eltern benötigt, um sich endlich in Richtung eines wahren und guten Gottesstaates entwickeln zu können.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 05.06.2011 um 17.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#18798

Herr Achenbach hat völlig recht: Frau Käßmann gefällt sich in rhetorischen Plattheiten und spekuliert dabei erfolgreich auf die fromme Einfalt des Publikums. Daß deutsche Waffenexporte dem selbstlosen Zweck dienlich seien, anderen Völkern bei der Selbstverteidigung zu helfen, war hoffentlich sarkastisch gemeint.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 05.06.2011 um 19.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#18800

Lieber Herr Virch,

in meinem Beitrag war nichts sarkastisch gemeint. Allerdings habe ich auch nicht von einem "selbstlosen Zweck" gesprochen.

Aber wenn wir uns selbst das Recht auf Besitz von Kriegswaffen zusprechen, so können wir dieses Recht nicht grundsätzlich anderen Ländern absprechen. Deshalb können wir Waffenexporte nicht allgemein verteufeln.

Über Einzelheiten kann man sich natürlich streiten. Dann muß man aber genau hinschauen. Wenn wir Minenräumgerät nach Angola exportieren, so ist das nicht beklagens-, sondern begrüßenswert. Und wenn wir wollen, daß afghanische Streitkräfte eines Tages selbst für die Sicherheit ihres Landes sorgen und die Bundeswehrsoldaten in Kundus ablösen, sollten wir tunlich mithelfen, die afghanische Armee durch entsprechende Ausbildung und Ausrüstung dazu in die Lage zu versetzen.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 06.06.2011 um 08.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#18803

Lieber Herr Achenbach,

ja, genaues Hinschauen ist angezeigt. Deutschland belegt schließlich Weltrang drei im blühenden Waffengeschäft. Dabei sind Gewinne wie diejenigen der Fondgesellschaft DWS Investments (Tochter der Deutschen Bank), welche die Herstellung von Streubomben finanziert, nicht mal berücksichtigt. So zu tun, als diene die Spitzentechnologie unserer Rüstungsunternehmen vornehmlich der Minenräumung in Angola und der Selbstverteidigung wackerer Afghanen, während man sich ansonsten höchstens um Einzelheiten streiten könne, erscheint mir nicht minder fromm als Frau Käßmanns Pose.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.06.2011 um 11.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#18804

Um mal auf die sprachliche Seite zurückzukommen: Mich interessiert seit je die Gruppendynamik. Im Dialog mit Einzelpersonen würden wir uns manches nicht bieten lassen, was unter den Bedingungen der Massenkommunikation zu Begeisterungsstürmen hinreißt. Zum Beispiel die These, daß Waffeneinsatz niemals zu Frieden führt. Schon Anfang 2010 hatten mehrere gebildete Menschen Grund, Frau Käßmann an die Beendigung des Zweiten Weltkrieges und an die lange Friedensperiode danach ("Gleichgewicht des Schreckens") zu erinnern. Aber das prallt ab, der radikalpazifistische Spruch ist halt viel attraktiver und gilt auch noch als "mutig".
Dauernd nur von sich selbst zu reden, kann andere ganz schön nerven, aber unter gewissen Umständen gilt es als "Authentizität" und wird mit hohen Auflagen belohnt.
In Gremien erlaubt man auch einiges. Zum Beispiel sind wahrscheinlich alle Anwesenden dagegen, einen Text mit feministischem Finish zu überziehen, trotzdem geschieht es.
Die Rechtschreibreform wurde, wie uns ein Hauptbetreiber verraten hat, von allen Politiker abgelehnt: "Alle waren dagegen, aber unterschrieben haben sie trotzdem!"
Wie geht das zu?

(Übrigens wird der allergrößte Teil der Kriegswaffen niemals eingesetzt, und abschlachten kann man einander auch ohne sie – wie in Ruanda.)

Und noch etwas: Es scheint eine unwiderstehliche Versuchung zu geben, sich zu allem und jedem zu äußern, wenn man von allen Seiten gefeiert wird. Ich kenne das selbst ein kleines bißchen. Nachdem mir der Kampf gegen die RSR einen ungewollten Bekanntheitsgrad verschafft hatte, wurden auch andere Fragen an mich herangetragen. Erst kürzlich habe ich wieder jemanden abweisen müssen. Kirchenleuten, die ja auch ständig in irgendwelche Kommissionen berufen werden, traut man sowieso alles zu (s. Religionsunterricht mit seinem erstaunlichen Themenkatalog!), und das verträgt mancher von ihnen offenbar nicht so gut. Applaus ist eine Droge.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 09.06.2011 um 13.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#18832

Also, ich hätte überhaupt nichts dagegen, wenn Sie sich zu allem und jedem äußern. Aktuell fehlen zum Beispiel noch Ihre Stellungnahmen zu Strauss-Kahn und Kachelmann!

;-)
 
 

Kommentar von Karl Hainbuch, verfaßt am 10.06.2011 um 19.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#18844

"Nichts ist gut in unserem Land, wenn so viele Kinder arm sind."
Ist der Satz nicht eine Art ausformulierter Superlativ? Mit dem man immer vorsichtig umgehen sollte. Zumal dann, wenn der Befund Kinderarmut nicht unumstritten ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.07.2011 um 11.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#18948

Lieber Herr Wrase, zu Kachelmann und Strauss-Kahn hatte ich von Anfang an die Meinung, die heute (fast) jeder hat, aber darum geht es mir nicht.
Bei den Medien ist Selbstzerknirschung angesagt. (SZ 4.7.11)
Zuviel des Guten. Zerknirschung (contritio) ist immer selbst, nicht wahr? Andere kann man ja nicht zerknirschen.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 04.07.2011 um 12.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#18949

Das klingt ja fast, als sei meine Rückmeldung als ernstgemeint verstanden worden. Das Ironische daran war doch kaum zu verkennen, und zusätzlich habe ich ein Augenzwingern dahinter getippt. Ernst gemeint war immerhin der Hintergrund, daß mich Ihre Einschätzung tatsächlich interessiert hätte, lieber Professor Ickler ...
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.05.2012 um 07.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#20631

Eine gewisse Akribie wird man dem anonymen Angreifer nicht absprechen können, wenn er auf jeder sechsten Seite angeblich Plagiate entdeckt haben will. (Deutschlandradio 5.5.12)

Das angeblich ist aus logischer Sicht zuviel. Man kann es mit der Negationenhäufung vergleichen
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.05.2012 um 08.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#20632

Ungemein häufig ist der logische "Overkill" in Sätzen wie diesem:

In den meisten Ländern ist das Tanzverbot nicht nur auf den Karfreitag beschränkt, sondern gilt auch für eine Reihe weiterer stiller Tage. ("Feiertage" bei Wiki)

Es ist also nicht nur auf den Karfreitag beschränkt, sondern auch noch auf andere Tage ...

(Ich bin darauf gestoßen, weil die Zeitungen gerade über einen kuriosen Fall berichten: Ausgerechnet der bayerische Innenminister Herrmann will das Tanzverbot lockern. Die Junge Union ist dagegen, will "die bayerische Kultur und damit auch die christlichen Werte" verteidigen. Dabei wäre die Lösung so einfach: Wer tanzen will, tanzt, und wer lieber still sitzen will, tanzt nicht. Das bloße Bewußtsein, daß andere Leute tanzen, kann doch so störend nicht sein. Und gegen Lärm helfen die bestehenden Gesetze.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.06.2013 um 07.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#23437

Manche Wörter "enthalten" gewissermaßen versteckt eine Negation. Bei nur liegt es auch etymologisch auf der Hand, bei kaum dagegen nicht. Man bekommt es heraus durch verschiedene Tests, z. B. kann man das Modalverb brauchen nur in einem negativen Kontext benutzen: Ich brauchte ihn kaum anzusehen, da wußte ich Bescheid. Oder die Fortsetzung mit sondern: Der Vogel atmete kaum noch, sondern lag im Sterben.
kaum läßt sich meistens mit "fast nicht" umschreiben.

Manche Wörter scheinen ebenfalls eine Negation zu enthalten, z. B. streiken ("nicht arbeiten"), bestehen aber die Probe nicht: *Sie streikten, sondern blieben zu Hause..
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.06.2013 um 10.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#23448

Ich spüre immer ein Unbehagen, wenn ich so etwas lese:

Sie gilt als eine der renommiertesten Grundschulforscherinnen. (SPIEGEL 17.6.13)

Natürlich kann man es konstruieren: Sie steht eben im Ruf, in einem guten Ruf zu stehen. Aber ohne das Fremdwort würde man es nicht so hinschreiben. Semantischer Overkill gewissermaßen.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 19.06.2013 um 11.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#23449

Bei mir stellt sich auch ein Unbehagen ein. Aber, wie ich glaube, nicht wegen eines Overkills, sondern wegen zweier widerstrebender Tendenzen: renommiertesten ist ein Maximum, dagegen stehen aber die beiden Einschränkungen eine der und gilt als.

Bei beiden Einschränkungen weiß man nicht, wie stark sie sind: Wie viele renommierteste Grundschulforscherinnen gibt es denn? Wenn es wenige sind, besagt die Zugehörigkeit viel, wenn es viele sind, besagt sie wenig. Und was soll gilt als heißen – "gilt allgemein" oder "wird von manchen so eingestuft"? Soll das eine Tatsache sein oder eine vage Wiedergabe von Meinungsäußerungen?

Einerseits schallt dem Leser ein Superlativ entgegen, aber der wird schon im Vorfeld zweifach verwässert. Es bleibt unklar, was von der starken Behauptung renommiertesten überhaupt noch übrigbleibt. Wie ein mit Wasser übergossener Chinaböller, von dem man die Zündschnur abgetrennt hat.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.06.2013 um 11.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#23450

Da haben Sie auch wieder recht. Erinnern Sie sich übrigens noch an unsere frühere Diskussion über den Superlativ mit Einschränkung? Das war hier:

www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1409
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 19.06.2013 um 22.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#23458

Auf eine Art enthält ja fast jedes Verb eine versteckte Negation, denn etwas tun bedeutet, das Gegenteil nicht zu tun, sitzen heißt nicht stehen usw. Es gibt m. W. gar kein Verb, das für sich die Probe mit sondern bestehen könnte. Sondern benötigt immer eine explizite Negation mit nicht, nie, kein, kaum. Letzteres geht wohl gerade noch, aber schon die mit kaum fast gleichbedeutenden Wörter wenig, selten bestehen eine Probe mit sondern nach meinem Gefühl nicht:
*(?) Er trinkt selten Tee, sondern meist Kaffee.
Ich bin aber nicht sicher, vielleicht ist dieser Satz doch in Ordnung?
Auf jeden Fall aber besteht nur sie nicht:
* Er trinkt nur Tee, sondern Kaffee.
Heißt das nun, daß nur gar keine Negation enthält? Nein, die Negation steckt schon drin, ich finde, etwa so wie bei den Verben: nur bedeutet nichts anderes als. Aber erstaunlicherweise besteht nur dafür die Probe mit brauchen:
* Du brauchst es zu sagen.
Aber: Du brauchst es nur/nicht/nie/kaum zu sagen.
Nur scheint bzgl. brauchen ein Ausnahmefall zu sein.

*(?) Du brauchst es selten zu sagen. (Bin nicht sicher.)
Aber: Du brauchst es nur selten zu sagen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.06.2013 um 03.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#23459

Er ignorierte kurzfristige Euphorien und Depressionen, sondern dachte langfristig. (SZ 18.9.08)

Wir verzichten deshalb bewußt auf die Erstellung eines Lehrbuchs zur Deutschlandkunde – und damit eines abgeschlossenen und dogmatischen "Deutschlandbildes" –, sondern schaffen Arbeitsinstrumente, die (...) (DAAD: "Deutschlandstudien I" DAAD 1978, Geleitwort)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.06.2013 um 03.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#23460

Wir könnten auch an

www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=316#8624

anknüpfen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 20.06.2013 um 10.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#23461

Diese Beispiele sind schon interessant. Ich sollte doch nie "nie" sagen. Aber so richtig hochsprachlich kommen sie mir dennoch nicht vor:
Er ignorierte/verzichtete auf A, sondern tat B. ?

Weitaus üblicher ist doch:
Er ignorierte nicht/verzichtete nicht auf A, sondern tat genau das, nämlich A.
(Will man auf B hinaus, muß man ein anderes Verb wählen.)

Ich denke, da hat mal jemand was ausprobiert oder sich vielleicht auch versehen. Na gut, man versteht es nicht falsch, aber üblich ist es deshalb m. E. noch nicht. Dies sind die ersten diesbzgl. Beispiele, die ich sehe.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.06.2013 um 10.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#23462

Das ist natürlich völlig richtig beobachtet. Mir sind die Beispiele ja auch aufgefallen. Sie gehören in das große Kapitel: Man glaubt etwas gesagt zu haben und knüpft grammatisch daran an, obwohl man etas anderes in gleicher Bedeutung gesagt hat. So erklärt sich zum Beispiel der Nominativ nach es gibt, weil man irgend das Gefühl hat, eine schlichte Existenzaussage gemacht zu haben, und das wirkt der Akkusativ natürlich abstrus. So wirkt auch hier die gefühlte Negation über die tatsächlich (nicht) ausgesprochene.
Aber so ganz exzentrisch ist es auch wieder nicht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.11.2013 um 11.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#24350

Zum Fall Gurlitt:

Für den Restitutions-Experten Christoph Partsch ist das Schreiben „ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie die anrüchige Herkunft der Bilder kannte“. Für ihren Sohn wiederum bedeutet dies, dass er den Anspruch auf das Milliarden-Vermögen vollends verlieren könnte: „Eine sogenannte Ersitzung mangels Gutgläubigkeit scheidet damit aus. Diese hätte Gurlitt nach so langer Zeit zum Eigentümer gemacht“, sagte Partsch gegenüber „Bild“ weiter. (focus.de 8.11.13)

Gemeint ist: „Eine sogenannte Ersitzung scheidet mangels Gutgläubigkeit damit aus."
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.01.2014 um 15.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#24738

Zum semantischen Overkill (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#23448) noch ein Beispiel:
Die Nehru-Gandhi-Dynastie gilt in Indien als legendär. (Handelsblatt 3.1.14)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.04.2014 um 13.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#25633

Margot Käßmann verteidigt das Karfreitags-Tanzverbot:

"Was macht es so schlimm, einen Tag nicht zu tanzen?", fragt sie. Es tue der Gesellschaft gut, auch mal zur Ruhe zu kommen.

Recht so! Nachdem wir die ganze Woche getanzt haben, müssen wir uns auch mal ausruhen. Mich wundert nur die profane Argumentation. Gleichzeitig spricht sie sich doch aus theologischen Gründen gegen das Aufhängen von Ostereiern aus. Und wie soll man sich eine ganze Gesellschaft vorstellen, die freitags zur Ruhe kommt? Die meisten sitzen vor dem Fernseher; ein paar hunderttausend würden vielleicht gern tanzen, dürfen aber nicht. Vgl. Jesus wg. Sabbatruhe.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.03.2015 um 05.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#28437

Wie die Zeitung mitteilt, wird die bayerische Polizei am kommenden Karfreitag verstärkt kontrollieren, ob auch wirklich niemand tanzt oder öffentlich Musik macht. An den anderen acht stillen Tagen drückt sie schon mal ein Auge zu.

Gerhard Schröder und ich sind übrigens am selben Karfreitag geboren, wir verzichten folglich alle sieben Jahre darauf, unseren Geburtstag zu feiern.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.04.2015 um 07.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#28600

Die Negation ist ein gutes Beispiel für die Rechenschwäche des Menschen (weshalb ich dies auch unter "Kopfrechnen" eintragen könnte). Wir sind erstaunlich gleichgültig gegen den "Skopus" der Negationspartikeln.

"Er hält das Gericht nicht für zuständig. Er hält das Gericht für nicht zuständig."

Eigentlich ein himmelweiter Unterschied, im normalen Sprechen aber dasselbe.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 13.04.2015 um 15.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#28606

In reformierter Schreibung könnte man jetzt auch schreiben: Er hält das Gericht für nichtzuständig. Das würde deutlich machen, was gemeint ist.

Andererseits könnte man reformiert schreiben: Bitte nicht Zutreffendes streichen. Dieser Satz wäre nun zweideutig. Allerdings ergänzen sich beide möglichen Bedeutungen auf wundersame Weise.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.04.2015 um 15.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#28607

Laut altem Duden wurde nicht mit Adjektiven und Partizipien zusammengeschrieben, "wenn die Verbindung eine andauernde Eigenschaft bezeichnet, d. h. klassenbildend gebraucht wird (nur das erste Glied trägt Starkton)". Aus den Beispielen wurde manchmal fälschlich geschlossen, daß letzteres nur bei attributivem Gebrauch der Fall ist, prädikativ also anders betont und getrennt geschrieben wird.

In "Duden Richtiges und gutes Deutsch" von 2001 ist daraus geworden: beliebige Getrennt- oder Zusammenschreibung mit Adjektiven: "Dagegen werden Verbindungen von nicht mit einem Partizip nach der neuen Schreibung nur noch getrennt geschrieben: nicht rostende Stähle (...) Ausnahme ist nicht zielend (= intransitiv), das auch zusammengeschrieben werden kann: ein nichtzielendes Verb."

Ich habe nicht feststellen können, woraus diese einzige Ausnahme hergeleitet wird. Die Revision hat das Ganze überholt.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 13.04.2015 um 17.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#28610

Der Duden von 1991 hat im Eintrag zu nicht die Getrenntschreibung von nicht zuständig ausdrücklich auch für den attributiven Gebrauch vorgeschrieben: die nicht zuständige Stelle.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.10.2015 um 04.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#30355

"Sondern geht von der Verneinung zur Bejahung über, doch kehrt zur Bejahung zurück." (Sekiguchi) Der Vordersatz muß also eine Verneinung enthalten, wenn auch oft nur dem Sinne nach (ad sensum).

Das hat den jüngeren wenig gebracht, sondern die Rationalisierung gefördert. (FAZ 14.10.06)

wenig = nicht viel

Er arbeitet grundsätzlich ohne Tonband, sondern füllt auf seinen Reisen ungezählte Notizheftchen mit kleiner Schrift. (FAZ Magazin 1.10.92)

ohne Tonband = nicht mit Tonband

Wir verzichten deshalb bewußt auf die Erstellung eines Lehrbuchs zur Deutschlandkunde – und damit eines abgeschlossenen und dogmatischen "Deutschlandbildes" –, sondern schaffen Arbeitsinstrumente, die (...)

wir verzichten = arbeiten nicht mit...
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 28.10.2015 um 19.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#30374

Nach meinem Empfinden sind alle drei Sätzen auch bei explizierter Verneinung nicht korrekt. Dazu sind beide Satzteile zu unterschiedlich aufgebaut.

An die Stelle von sondern müßte aber treten. Dann sind die Sätze korrekt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.10.2015 um 05.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#30375

Freilich sind sie nicht korrekt. In allen drei Fällen scheint der Schreiber das Gefühl gehabt zu haben, einen verneinten Satz vorangestellt zu haben, und in diesem Sinne fuhr er dann fort. Aber die Verneinung lag nur im Sinn, nicht in der Grammatik, wie es sein sollte.
Gerade Ihre kritische Reaktion, lieber Herr Achenbach, zeigt, wie fein unser "Sprachgefühl" arbeitet; darum ist die Stilistik der Abweichung so interessant.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.11.2015 um 13.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#30627

In der Zeitung stand vor langer Zeit mal ein Zitat von Helmut Kohl: "Wir werden nicht Spendierhosen anziehen". Darauf hin meldete sich ein Leser und meinte, es hätte keine Spendierhosen heißen müssen. Das entspricht zwar der üblicheren Form der Redensart, aber wenn man z. B. sagen will nicht etwa Spendierhosen anziehen, dann ist die Verneinung durch kein nicht möglich. Anders gesagt: Die Abtönung setzt propositionale Verneinung voraus.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.12.2015 um 12.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#30940

Zu kaum (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#23437):

Gestern fiel mir in der Zeitung die Verbindung nur kaum auf und ging mir leise gegen den Strich. Es liegt wohl daran, daß kaum nicht dasselbe ist wie wenig und auch nicht wie mit Mühe, denn diese lassen sich ohne weiteres mit nur verbinden. Vielmehr könnte die Komponente nur auch in kaum schon enthalten sein. Vgl. Oft schmeckt man die Citrone kaum (Wilhelm Busch); hier wäre nur auch in Prosa fast unmöglich. Es ist jedenfalls eines der schwierigsten Wörter. Marga Reis hat ihm kürzlich einen Aufsatz gewidmet, bespricht aber mehr die Syntax. S. a. Michel Pérennec: „Grenzeffekte und kontextueller Sinn: asymptotische Werte in skalierenden Paradigmen“ (FS Paul Valentin, S. 297-311) (nicht leicht zu lesen)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.12.2016 um 04.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#33999

Das Indefinitpronomen man ist nicht betonbar. Vielleicht weil es normalerweise keinen Gegenbegriff gibt, und alle Betonung ist ja schließlich (mögliche) Kontrastbetonung.

Es gibt aber Gegenbeispiele:

Brent Snowcroft gibt zu Protokoll, zu keinem Zeitpunkt habe man damals aktiv den Sturz Saddam Husseins angestrebt. Man nicht, aber Paul Wolfowitz schon. (FAZ 11.3.03)

Allerdings hat das etwas Metasprachliches, man könnte sich Anführungszeichen vorstellen: "Man" nicht, aber Wolfowitz schon.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.12.2016 um 08.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#34002

(Ich habe das Zitat in http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#30355 korrigiert.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.01.2017 um 05.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#34331

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#33999

Während man/einer in allen Formen unbetonbar ist, kann es auch ohne den metasprachlichen Effekt durch Hinzufügung von selbst zu einer normalen betonbaren Gruppe ausbauen:

[Damals waren alle hingerissen.] Man selbst aber nicht. (FAS 6.11.16)

Es liegt an einem selbst.

Schwer erklärbar.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.01.2017 um 04.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#34404

Noch einmal zu

Fundevogel und Lenchen hatten sich so lieb, nein so lieb, daß, wenn eins das andere nicht sah, ward es traurig.

Woher kommt eigentlich dieses nein?

Wahrscheinlich aus einem "das lasse ich mir nicht ausreden, da soll keiner etwas anderes denken" o. ä.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 25.01.2017 um 10.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#34406

Vielleicht soll ausgedrückt werden, daß das erste "so lieb" eigentlich zu wenig war, deshalb wird es negiert und ein zweites, das man auch "sooo lieb" schreiben oder stärker betonen könnte, angefügt.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 25.01.2017 um 13.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#34407

Vielleicht ist es das gleiche nein, das meine alten Tantchen in meiner Jugend ausriefen: "Ist er nicht gewachsen? Nein, isser gewachsen!"
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.02.2017 um 05.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#34444

Gesprochen geht es, geschrieben weniger: Man sollte die Negation nicht hinter ihren "Fokus" stellen.

Anakoluthe sind bisher systematisch nicht behandelt worden. (Ludger Hoffmann)

Das klingt, als habe man es systematisch vermieden, Anakoluthe zu behandeln. In Wirklichkeit hat man sie bisher nicht systematisch behandelt.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 23.03.2017 um 15.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#34738

Aus der gestrigen Süddeutschen Zeitung, Seite 10:

Der Journalist Sixsmith sagte anlässlich des Fundes in Tuam, er fürchte, dies sei nicht das einzige Massengrab dieser Art.

So im Text des Artikels. Darüber steht jedoch im Untertitel:

Es könnte nicht das einzige anonyme Massengrab sein

Meines Erachtens ist diese Art der Verneinung falsch. Gemeint ist:
Es könnte sein, daß es nicht das einzige ist.
Es liest sich aber so, als ob jemand meint:
Es könnte nicht sein, daß es das einzige ist.
Das ist etwas ganz anderes.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 23.03.2017 um 20.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#34739

Letzten Endes ist hier it may/might not be übersetzt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.03.2017 um 04.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#34742

Die uneindeutige Reichweite (der "Skopus") der Negation führt zu einem alten Problem, das man durch Klammern verdeutlichen kann:
Es kann nicht [sein].
Es kann [nicht sein].

 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 24.03.2017 um 11.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#34745

Ich finde hier interessant, daß Sie so klammern:

A: Es kann nicht [sein].
B: Es kann [nicht sein].

Denn A kann man eigentlich noch unterteilen:

A1: Es {kann nicht} [sein].
A2: Es kann {nicht [sein]}.

A2 kommt natürlich aufs gleiche wie B heraus, das heißt, Sie verstehen A, worin man die Klammer ja auch weglassen kann, weil nur ein Wort geklammert wird, von vornherein als A1.

Es gibt also so eine Art sprachliche Übereinkunft, daß die Verneinung per Default, wenn nicht anders verdeutlicht, zum finiten Verb gehört.

Genau das war der Grund dafür, daß ich den zitierten Untertitel in #34738 direkt als falsch bezeichnet habe. Er ist irreführend, da er dieser Standardübereinkunft widerspricht. Aber man kann es wohl auch gerade noch "zweideutig" nennen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.03.2017 um 15.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#34747

Danke für die Präzisierung!
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 24.03.2017 um 22.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#34749

Ich meine nicht, daß hier die Unterscheidung zwischen
may und might eine Rolle spielt, denn beide Wörter sind häufig austauschbar.

So sagt der Merriam-Webster:

"May," "might," and "could" can all be used to say that something is possible, as in "The story may/might/could be true" or "The painting may/might/could be very old." You can use any of the three in contexts like these.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.11.2017 um 06.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#37075

Er hatte keinen Arm mehr wird meistens in dem Sinn verwendet, daß jemand einen Arm nicht mehr hat, wohl aber noch den anderen. Das ist unlogisch, aber ein unzweideutiger Ausdruck wäre recht umständlich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.10.2019 um 04.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#42207

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1405#18639

Der neue Duden-Rundbrief ("Newsletter") ringt wieder einmal mit der pleonastischen Negation:

"Wenn von Verben des Unterlassens oder Verhinderns wie abraten, untersagen, verhindern, warnen etc. oder von Verben des Leugnens oder Bezweifelns wie bezweifeln, leugnen, zweifeln etc. ein Nebensatz oder eine Infinitivgruppe abhängt, erstreckt sich deren negative Bedeutung auch auf den Nebensatz bzw. die Infinitivgruppe. Sie werden also jeweils nicht auch noch eigens verneint: Was hinderte Colettes Microctenopoma-Gruppe daran, sich zu vermehren? Niemand aus ihrem Aquarienverein bezweifelte, dass sie für ihre Labyrinthfische ideale Voraussetzungen geschaffen hatte."

In Wirklichkeit gibt es viele Beispiele dieser Art:

Verhindern Sie, daß der legitime Anspruch der Gesellschaft, über die mit öffentlichen Mitteln in der Universität erbrachten Leistungen informiert zu sein, nicht auf die bloß ökonomischen Effekte verkürzt wird! (Stellungnahme des Deutschen Germanistenverbands zum Hochschulrahmengesetz, 2002)

Verhindern konnte ich doch nicht, daß es mir bei schlimmem Wetter nicht hinein regnete. (Lichtenberg K 25)

Vgl. auch Ludwig Sütterlin: Die Deutsche Sprache der Gegenwart. Leipzig 1910:297.

Der Newsletter enthält noch weitere schräge Thesen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.11.2019 um 06.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#42511

Sulfite ermöglichen, Weine über längere Zeit zu lagern, ohne dass die Weine durch Oxidation komplett „umkippen“, also der Genuss nur noch eingeschränkt oder unmöglich ist. (Wikipedia Sulfite)

Hier hätte die syntaktische Negation stehen müssen: nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr möglich. Anders gesagt: Das Wort möglich im Fokus von eingeschränkt muß "unversehrt" zugänglich sein.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.12.2019 um 09.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#42535

Kevin Kühnert bekommt Lob "von unerwarteter Seite", nämlich von "Entertainer Thomas Gottschalk".

Ich habe dieses Lob tatsächlich nicht erwartet, aber ich habe es auch nicht nicht erwartet – in dem Sinne, daß ich etwas anderes als Lob erwartet hätte. Ich habe einfach gar nicht darüber nachgedacht. Es gibt 7 Mrd. Menschen, von denen ich nichts erwarte.

Man versteht die Meldung aber anders. Ausgerechnet von Gottschalk! Das muß sich aber nicht einmal auf Kühnerts politische Ansichten und Absichten beziehen, sondern kann auch der Tatsache gelten, daß Gottschalk sich überhaupt zu einer politischen Frage äußert (statt zu entertainen).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.04.2021 um 07.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#45573

Hunderte Beamte waren im Einsatz, schritten wegen der Verstöße gegen die Corona-Regeln aber kaum ein. (t-online.de 4.4.21)

So war es hoffentlich nicht, sondern so: Hunderte Beamte waren im Einsatz, schritten aber kaum wegen der Verstöße gegen die Corona-Regeln ein. (Immer noch nicht gut; man sollte ganz neu anfangen.)

Die Polizei wird kritisiert, weil sie nicht einschritt. Aber wie soll man 10.000 Irre von der Straße holen, ohne Gewalt anzuwenden – und dann wäre die Kritik erst richtig losgegangen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 04.04.2021 um 19.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#45576

Aufmüpfigkeiten gegenüber der Polizei und Mißachtung von Gesetzen und Anordnungen wurde der deutschen Bevölkerung über Jahrzehnte anerzogen. Jeder weiß, daß es meistens keine Folgen hat. Inzwischen ist es soweit eingerissen, daß die Durchsetzung des Rechts nur noch mit unverhältnismäßiger Gewalt möglich wäre. Die Polizei traut sich nicht mehr einzugreifen, weil sie sonst selbst angeklagt wird und den Randalierern noch Schadensersatz zahlen muß. Der Rechtsstaat kapituliert. Bestes Beispiel sind die Krawalle beim G20-Gipfel in Hamburg und die Verhandlungen danach. Weshalb also sollten sich ausgerechnet Corona-Demonstranten plötzlich an irgendwelche Auflagen halten?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.04.2021 um 04.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#45578

Kann man die überwiegend friedlichen Demonstrationen der Querdenker mit den gewaltbereiten "autonomen" Rowdies vergleichen? Dagegen würden sie sich wohl mit Recht verwahren.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 05.04.2021 um 12.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#45581

Es beginnt, wie gesagt, mit Aufmüpfigkeiten, und überwiegend friedlich sind sie, solange sie damit gewähren dürfen. Die Polizei wird schon wissen, warum sie nicht eingreift. Sicher bleibt immer noch ein großer Unterschied zu Ausuferungen wie anläßlich G20. Das Gemeinsame ist aber, daß die Polizei nur noch zuschaut.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.04.2021 um 19.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#45582

"Zuschauen" ist die normale Aufgabe der Polizei. Es ist ja ein "aktives" Zuschauen oder Aufpassen, daß nichts aus dem Ruder läuft.

Eine Stampede kann man nicht aufhalten, oder nur zu unverhältnismäßigen Kosten. Obwohl ich die näheren Umstände nicht kenne, halte ich es für sinnvoll, die Massen von Unbelehrbaren nicht gewaltsam zu zerstreuen. Sie haben zweifellos Schaden angerichtet (Infektionen), sind aber doch nicht vergleichbar mit Hooligans.

Die Polizei ist nicht verpflichtet, das "Recht" jederzeit bis aufs letzte I-Tüpfelchen "durchzusetzen". Abwägen ist richtig.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 05.04.2021 um 20.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#45583

Damit bin ich natürlich einverstanden. Ich denke, sinngemäß habe ich genau das gleiche geschrieben. Das meinte ich eben mit dem Wort "eingerissen", daß diese Demos mittlerweile nicht mehr kontrollierbar sind. Die Polizei ist bei ihrem Abwägen im Laufe der Jahrzehnte Stück für Stück vor Gesetzlosigkeit zurückgewichen. "Verhältnismäßigkeit" ist auch ein sehr dehnbarer Begriff. Jetzt ist es kaum noch möglich, mit verhältnismäßiger Gewalt die Ordnung aufrechtzuerhalten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.04.2021 um 21.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#45584

Früher galten Demonstrationen in breiten Schichten als eigentlich ungehörig und am besten zu verbieten. Vor 40 bis 50 Jahren gebrauchte die FAZ "Demonstrant" beinahe wie "Krimineller", das fiel mir damals auf.

Noch früher hat die Staatsmacht Streikende zusammengeschossen, nicht nur in Deutschland.

Der Geist der Zeiten...
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 05.04.2021 um 23.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#45586

Die Entwicklungsrichtung ist die gleiche geblieben, nur sind wir, scheint es, irgendwann übers Ziel hinausgeschossen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.04.2021 um 04.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#45587

Manche Beobachter meinen, daß es in vielen Teilen der Welt wieder andersherum gehe, also autoritäre Regimes an Boden gewinnen. Der erste Schritt ist immer das Verbot von Demonstrationen.

Am Corona ist das Neuartige, daß nicht die kollektive Meinungskundgabe ("Demonstration" eben) zu fürchten ist, sondern die Versammlung so vieler ungeschützter Menschen selbst.

Die tägliche Selbstbestätigung haarsträubend falscher und gehässiger Meinungen in Medien wie "Tichy" ist auch gefährlich, wird aber geduldet. Eine Ermessensfrage.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.10.2021 um 06.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#47454

„Wer nicht geimpft ist, will es bleiben“ (SZ 29.10.21)

Wie kann man geimpft bleiben wollen, wenn man es gar nicht ist? Die Negation bezieht sich nicht auf das Verb, sondern auf das Prädikativum, als stünde "nicht-geimpft" da. Besser wäre also „ungeimpft“.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 29.10.2021 um 12.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#47457

Meinen Sie hier statt Negation vielleicht Relation, also das Pronomen "es", welches sich auf das Prädikativum bezieht?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 29.10.2021 um 14.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#47458

Oder beides.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.10.2021 um 17.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#47459

Es geht wieder einmal um

[ist nicht] geimpft vs. ist [nicht geimpft]

Für letzteres haben wir das eindeutigere ungeimpft.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 29.10.2021 um 21.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#47460

Meine Frage zielte darauf ab, ob auch der Nebensatz, die Bezugnahme mit "es", einen Einfluß darauf hat, welche der beiden Varianten zu verstehen ist. Aber das ist wohl nicht der Fall. Beides wäre denkbar, aber mit "ungeimpft" ist es eindeutig.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.07.2022 um 16.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#49466

Was Logiker über Negation sagen, mag für ihre Zwecke richtig sein - den Sprachwissenschaftler geht das nichts an. Er interessiert sich für die Verneinung als Verhalten. Skinner behandelt die Negation innerhalb seiner Lehre über die Autoklitika. Diesen Rahmen lasse ich hier beiseite. (Eine Fußnote ist als KLammer in dern Text eingearbeitet.)

"Negation
Das meistdiskutierte Beispiel dürfte nein sein. Worauf bezieht sich diese Reaktion (oder die verwandten Formen kein, nicht, nie und nichts)? Eine logische oder linguistische Analyse kommt vielleicht zu dem Ergebnis, daß kein Regen sich auf die Abwesenheit von Regen bezieht, aber für eine kausale Beschreibung ist diese Antwort offenbar unstatthaft. Wenn die Abwesenheit von Regen eine solche Reaktion hervorlockt, warum bringen wir dann nicht eine unendliche Flut von Reaktionen hervor, allesamt unter der Steuerung der Abwesenheit von tausenderlei Dingen? Hier scheint die herkömmliche Lösung angebracht, daß es, wann immer wir sagen Es regnet NICHT, einen Grund geben muß zu sagen Es REGNET. Russell glaubt, daß der Anlaß immer sprachlicher Natur sei. Jemand fragt Regnet es?, und wir antworten Nein, es regnet nicht. „Negative Aussagen“, meint Russell, „treten auf, wenn man durch ein Wort gereizt wird und nicht durch das, was normalerweise das Wort auslöst.“ (Inquiry into Meaning and Truth. New York 1940:62)
In Wirklichkeit wird die Reaktion, in die man kein oder nicht einfügt, oft durch nichtsprachliche Reize ausgelöst. Regen kann eine Reaktion auf einen ähnlichen Reiz sein, zum Beispiel ein paar Tropfen aus einem Rasensprenger hinter einer Hecke. (323) Die Reaktion Es regnet ist dann eine generische oder metaphorische Erweiterung. Oder eine übliche Begleiterscheinung des Regens, zum Beispiel ein düsterer Himmel, ruft die Reaktion als Beispiel einer Metonymie hervor. Daß es sich um ein erweitertes Takt handelt, wird durch die gebräuchlichere Alternative Es sieht WIE Regen aus nahegelegt (s. u.). Andere Reaktionen, zu denen man nicht oder kein hinzufügen kann, mögen innersprachlich sein; ein bedeutungsloses Zusammentreffen im Gebrauch könnte, wenn es nicht in dieser Weise qualifiziert würde, eine unerwünschte Wirkung auf den Hörer haben. In allen diesen Fällen wird eine Reaktion von gewisser Stärke hervorgebracht, aber unter Umständen, unter denen sie nicht als Takt von der Sprachgemeinschaft bekräftigt, sondern eher noch bestraft wird. Diese Zusatzbedingung wirkt sich auf den Sprecher so aus, daß sie die Hinzufügung von kein oder nicht veranlaßt.
Wenn nein als ein Mand geäußert wird, das ein nichtsprachliches Verhalten des Hörers zu einem Ende bringen soll, ist seine Wirkung klar. Wir sehen, wie jemand etwas Gefährliches tun will und rufen Nein! Ein Sänger verfehlt eine hohe Note um einen vollen Halbton, und wir rufen wieder Nein! Wir sagen Nein! zu Kindern, um sie von unerwünschten Handlungen abzuhalten, zum Beispiel vom Umgang mit zerbrechlichen Gegenständen. Aufgrund einer Art magischer Erweiterung bringen wir dieses Mand auch dann hervor, wenn es schon zu spät und der Gegenstand in Scherben gegangen ist. Diese Reaktion wird natürlicherweise auf sprachliches Verhalten ausgedehnt. Ein Kind sagt Zwei und zwei gibt fünf, und wir sagen Nein! Das kann zwar die Handlung ebensowenig aufhalten, wie es den zerbrochenen Gegenstand retten kann, aber es kann die Wiederholung verhindern und in Zukunft zu richtigen Reaktionen führen. (Es kann, wie oben gezeigt, auch die Funktion einer Bestrafung haben.) Unter denselben Umständen können wir das Mand auch zu Sag das nicht! erweitern. Wie wir in Kapitel 19 sehen werden, reagieren wir manchmal auch als Hörer unserer selbst mit einem Mand auf unser eigenes Verhalten, zum Beispiel wenn wir die Hand nach einer Zigarette oder einem Bonbon ausstrecken, Nein! sagen und sie wieder zurückziehen. Ebenso verfahren wir in bezug auf unser Sprachverhalten, wenn wir zum Beispiel sagen Es war unter der Regierung von Präsident Roosevelt – nein, Truman ..., wo das nein dazu dient, die Reaktion Roosevelt sozusagen anzuhalten oder aufzuheben und Platz für Truman zu schaffen.
Die Reaktion wird durch die Bekräftigungspraktiken der Sprachgemeinschaft erworben. Das Kind hört zuerst Nein!, wenn jemand mit einer gerade ablaufenden Tätigkeit aufhören muß, um eine positive Bekräftigung zu erreichen oder eine aversive Reizung zu vermeiden. Wenn es dann später dieselbe Tätigkeit auszuführen versucht, erzeugt es aufs neue eine Situation, in der die Reaktion Nein! stark ist. Bei solchen Gelegenheiten erhält es mit erhöhter Wahrscheinlichkeit eine verallgemeinerte Bekräftigung für seine sprachliche Reaktion. Wenn es dann infolge seines eigenen Nein! mit der fraglichen Tätigkeit aufhört, kann es durch die Reduzierung der bedingten aversiven Reizung automatisch bekräftigt werden. (324) Einem zweijährigen Mädchen hatten seine Eltern beigebracht, gewisse Dinge nicht anzufassen, und zwar nicht indem sie Nein! sagten, sondern durch bloßes Kopfschütteln. Das Kind zeigte die Gewohnheit, sich dem verbotenen Gegenstand zu nähern, die Hand auszustrecken und sie unter Kopfschütteln wieder zurückzuziehen. Die Kopfbewegung war ganz ebenso wie sonst ein Nein auf das sprachliche Verhalten des Kindes übertragen worden.
Später wird das Verhalten des Nein-Sagens auf sprachliche Reaktionen ausgedehnt. Wenn das Kind unter solchen Bedingungen Rot sagt, wo der Zuhörer typischerweise Nein! antwortet, sagt es selbst auch Nein! Das kann zuerst die Korrektur einer bereits hervorgebrachten Reaktion sein, später aber zu einer echt autoklitischen Begleiterscheinung einer Reaktion werden. Unter dem regulierenden Einfluß der Sprachgemeinschaft wird eine Reaktion wie Rot-nein oder Nein-rot schließlich zu Nicht rot. In unserem oben angeführten Fall reagierte das Kind zum Beispiel mit Das ist meins unter unpassenden Umständen und schüttelte dabei den Kopf. Diese Kombination entsprach der Reaktion Das ist nicht meins. (Die Reize, die die Reaktion Rot weiterhin stärken und daher die Kombination Nicht rot hervorrufen, sind nur solche Situationen, die dem Reiz Rot ähneln. Blau wird nicht nur nicht Rot hervorrufen, sondern auch nicht Nicht rot. Eher schon könnte das ein kräftiges Orangerot bewirken. Eine zusätzliche sprachliche Reizung - zum Beispiel durch das echohafte rot – kann natürlich in Gegenwart eines blauen Gegenstandes die Reaktion Nicht rot hervorrufen.)
Die Reaktion Nein hat, als Beispiel eines qualifizierenden Autoklitikums, die Wirkung eines Mands. Man könnte sie grob übersetzen als Behandle diese Reaktion nicht als unerweitertes Takt. Die eine Reaktion verschmilzt eng mit der anderen, die sie qualifiziert, aber daß sie immer noch ihre unabhängige Wirkung bewahrt, zeigt sich an den oben angeführten Fällen von „absolutem“ Gebrauch. Daß sie sich nicht „auf einen Sachverhalt bezieht, sondern auf eine Reaktion auf einen Sachverhalt“, läßt sich an drei Beispielen zeigen: (a) Jones ist krank, (b) Jones ist nicht gesund, (c) „Jones ist gesund“ ist falsch. (Vgl. die ähnliche Erörterung von W. V. Quine in: Journal of Philosophy 39 (1942):68-71. Hier geht es allerdings nicht um das Autoklitikum ist, das weiter unten besprochen wird.) Obwohl alle drei Reaktionen, soweit es Jones angeht, in bezug auf denselben Sachverhalt geäußert werden können, verkörpern sie nicht dieselbe Reaktion, und nur eine von ihnen, nämlich (b), enthält ein Autoklitikum. Sie unterscheiden sich sowohl in ihrer augenblicklichen Wirkung auf den Hörer (und indirekt auch auf den Sprecher) als auch nach den Begleitumständen, unter denen sie erzeugt werden. Bei (a) bezieht sich krank auf die beobachtbare Eigenschaft eines Reizes, gerade so wie es bei groß oder auf dem Kopf stehend der Fall wäre (325); (b) könnte angesichts desselben Sachverhaltes geäußert werden, schließt aber ein, daß eine Neigung besteht, gesund zu sagen. Es reicht unter Umständen aus, daß der Sprecher dazu neigt, krank vermeiden zu wollen. Zum Beispiel könnte der Sprecher früher versichert haben, Jones würde nicht krank werden, so daß Jones ist krank jetzt von besonderen Reaktionen gefolgt würde, die bestrafend wirken; oder es hat jemand gesagt Jones ist gesund. (Dabei hat das Autoklitikum nicht in jedem der beiden Fälle eine leicht verschiedene Bedeutung: Im ersten Fall steht es für Ich gebe zu, daß ich mich irrte, als ich sagte, Jones würde gesund sein, im zweiten für Ich bestreite, daß Jones gesund ist.) Die Reaktion (c) wird hervorgebracht, wenn der Sprecher die Reaktion Jones ist gesund als einen objektiven Sachverhalt kommentiert. Er kann sie selbst geäußert haben; der Hörer kann es gesagt haben, oder es handelt sich um ein verbreitetes Gerücht. Das Verhalten des Hörers in bezug auf Jones oder dessen Krankheit braucht den Sprecher im Augenblick in keiner Hinsicht zu interessieren. Ein Hörer, der bisher von der Annahme ausgegangen ist, daß Jones gesund sei, kann, nachdem er die Reaktion „Jones ist gesund“ ist falsch gehört hat, seine Pläne ändern, und unter ganz ausgefallenen Umständen kann der Sprecher eine solche Äußerung gerade um dieser Wirkung willen tun, aber die Umstände, unter denen die drei Reaktionen normalerweise hervorgebracht werden, ermöglichen eine nützliche Unterscheidung.
Beschreibende und qualifizierende Autoklitika kommen auch zusammen vor, und in einer einzigen Reaktion können auch mehrere von ihnen auftreten. Dabei geht es meist um praktische Unterscheidungen. Es ist wahr, daß er nicht schön ist und Es ist nicht wahr, daß er schön ist sind zum Beispiel Reaktionen, die unter verschiedenen Umständen auftreten. Wir brauchen solche Fälle hier nicht zu näher zu untersuchen oder zu paraphrasieren.
Routineausdrücke wie nicht und solche Wendungen, die als unauflösliche Einheiten erworben worden sind, brauchen im Einzelfall keine autoklitische Tätigkeit anzuzeigen. Es geht ihm gar nicht gut kann routinemäßig von denselben Umständen gesteuert werden wie Er kränkelt. Vielleicht klingt noch an, daß der Sprecher nicht sagen möchte krank, aber das ist nicht so wichtig. Wenn man irgendeine Darbietung mit Nicht schlecht, nicht schlecht! statt mit Gut, gut! kommentiert (also die rhetorische Figur der „Litotes“ anwendet), schwingt manchmal vielleicht eine Neigung mit, schlecht zu sagen, aber in den meisten Fällen wohl eher nicht. Außer den Routineformeln mit nicht gibt es viele innersprachliche Verbindungen, die für Reaktionen mit schwacher oder gar nicht vorhandener autoklitischer Funktion verantwortlich sind. Reine Verneinung ist vielleicht ebenso selten wie reine metaphorische oder metonymische Erweiterung. Insbesondere haben die autoklitisch wirkenden Zusätze eine Neigung, in Routineformeln eingeschmolzen zu werden. Ein sonnenloser Himmel ist eine Art von Himmel, und die Reaktion sonnenlos kann ebenso einfach gesteuert sein wie wolkig. (326) Die Umstände, unter denen die Reaktion zuerst entstand und die zweifellos immer noch vorkommen, muß von der Art gewesen sein, daß zunächst die Reaktion Sonne hervorgebracht und dann vom Sprecher mit dem autoklitischen -los versehen wurde. Am Ende wurde die Reaktion aber nicht durch die Abwesenheit der Sonne, sondern durch die Anwesenheit eines verhangenen Himmels gesteuert." (Verbal behavior 322f.)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 17.01.2023 um 12.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#50295

Wer solche Nachrichten erhält, sollte tunlichst nicht auf den Link tippten [sic] und die Nachricht löschen.
(Freie Presse, 17.1.23, Seite A6.)

Der Gebrauch von tunlich[st] auch mit einer Negation ist weit verbreitet, darum will ich dies nicht direkt kritisieren. Aber ich finde es doch bemerkenswert, denn tunlich bewirbt ja ein Tun. Hier steht aber, es sei tunlich, etwas nicht zu tun. Nicht tun wird dennoch als tun verstanden. Es mutet mich irgendwie widersprüchlich an.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 17.01.2023 um 19.28 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#50297

Es ist auch unklar, auf wie viele Konstituenten sich das "nicht" bezieht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.01.2023 um 05.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1455#50299

Es ist auf jeden Fall eine eigentümliche Verwendung des Superlativs: möglichst, tunlichst, ehest usw. = so weit wie möglich usw.

Das Beispiel von Herrn Riemer wäre mir nicht aufgefallen, s. aber http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1286#21393
 
 

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