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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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18.01.2009
 

Rowohlt gegen Kehlmann
Warum desavouiert der Verlag seinen Star?

Daniel Kehlmanns neuer Roman erscheint selbstverständlich in klassischer Orthographie.
Der Verlag scheint das aufs Konto Narrenfreiheit zu buchen, denn er bewirbt ihn in seiner bekannt rabiaten Art in einer Version der Reformschreibung.



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Kommentare zu »Rowohlt gegen Kehlmann«
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Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 19.01.2009 um 17.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13790

Das ist eigentlich gar nichts, was nur typisch für Rowohlt ist. Es gilt vielmehr für alle Verlage, die sich inzwischen komplett gleichgeschaltet haben. Leider (aus Verlagssicht wird das bestimmt so gesehen) haben diese nun ach so modernen Verlage aber noch einige Autoren, die sich partout nicht gleichschalten lassen und zudem verkaufsstark sind. Heraus kommt dann eben so etwas Groteskes wie die Verlagswerbung für Kehlmann bei Rowohlt oder für Schlinks neuen Roman bei Diogenes (beide mit schön auffallender ss-Schreibung).

Ich glaube, das hat nichts damit zu tun, daß der Verlag einen Autor bewußt desavouiert. Freiwillige Gleichschaltung (weder Rowohlt noch Diogenes sind ja bekannte Kinderbuchverlage) erinnert mich eher daran, das Gehirn vor Arbeitsbeginn beim Pförtner abzugeben. Es arbeitet sich einfacher, wenn der Kopf leichter ist und für kritisches Denken wird man eh nicht bezahlt. Wenn einem dann der ganze Laden um die Ohren fliegen sollte, kann man auch nichts dafür, da man es doch nur so gemacht hat wie alle anderen auch. Das ist das Schöne am Zug der Lemminge. Man ist die Verantwortung los und ohne Gehirn kann man auch nicht fragen, warum genau eigentlich alle brav dem ersten Lemming nachlaufen. Die Klippe nimmt man dabei als Gefahr auch nicht mehr wahr. Eine gefährliche Situation kann man ohne Gehirn schließlich nicht gut als solche einschätzen.
 
 

Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 19.01.2009 um 21.45 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13791

Wenn Rowohlt und Diogenes in ihrer Werbung in einer Reformschreibvariante schreiben, hat das mit Desavouierung ihrer Autoren, die auf herkömmliche Orthographie bestehen, wahrscheinlich nichts zu tun. Sie würden ja auch ein Buch mit Dialektgedichten oder in mittelhochdeutscher Sprache in der Rechtschreibung bewerben, die sie nun einmal für die heute übliche halten – womit sie ja so falsch auch wieder nicht liegen. Die neue Rechtschreibung, welche Variante auch immer, ist heute üblich. In der üblichen Orthographie zu schreiben, kann nicht falsch sein – das haben wir hier gelernt. Die heute übliche Orthographie ist uneinheitlich, schlecht und fehlerträchtig, aber so ist sie nun einmal. Die herkömmliche Orthographie war dies weniger, aber so etwas kommt in einer von Updates charakterisierten Arbeitswelt auch anderweitig vor. Da wird vieles, was sich bewährt hat, über Bord geworfen und es werden Neuerungen eingeführt, die kein Mensch verlangt hat und die niemandem nützen. Man gewöhnt sich daran, man ist „flexibel“. Schlechter? Na gut, dann eben schlechter. Aber aktuell!
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 20.01.2009 um 03.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13792

Walter Lachenmann und Oliver Höher haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich sehe aber keinen Widerspruch zu Professor Ickler. Was bedeutet "desavouieren"? (Wie war das nochmal mit den Fremdwörtern?) Ich übersetze es mit "lächerlich machen". Professor Ickler sagte, der Verlag mache Daniel Kehlmann (sein Buch ist in bewährter Rechtschreibung verfaßt) lächerlich, indem er dessen Werk in Reformschreibung bewirbt. Das muß nicht bedeuten (wie Walter Lachenmann es vielleicht aufgefaßt hat), daß der Verlag seinen Autor Kehlmann gezielt lächerlich macht. Es bedeutet, daß sich durch das Verhalten des Verlags ein lächerlicher Effekt ergibt. Daniel Kehlmanns Rechtschreibung steht komisch da, wenn sein Verlag von ihr nichts wissen will.

Es wäre vielleicht noch zu klären, was das für eine Werbung ist. Wenn es sich um einen Text auf dem Einband handelt, unmittelbar mit dem Buch verbunden, kann man von einem Fehlgriff des Verlags sprechen, und Daniel Kehlmann hätte Anlaß, das Gefühl zu haben, daß man ihm auf die Füße tritt. Wenn der Werbetext separat erscheint, womöglich nur als Bestandteil einer Ansammlung solcher Texte, die Verlagsprodukte bewerben, stimme ich Walter Lachenmann zu. Es wäre ein bißchen viel verlangt, wenn der Verlag absatzweise zwischen den Rechtschreibungen wechseln sollte, um der im jeweiligen Erzeugnis verwendeten Schreibung zu entsprechen. (Es gibt ja nicht viele solche Virtuosen wie uns, die mit den Rechtschreibungen jonglieren können.) Außerdem wären dann die Werbetexte derselben Lächerlichkeit preisgegeben, die in diesem Fall Daniel Kehlmann abbekommen hat.

Die Meldung ist eines von unendlich vielen Beispielen dafür, daß Texte und ihre Verfasser ins Lächerliche gezogen werden, sobald der tatsächliche oder vermeintliche Zwang ins Spiel kommt, die sogenannte amtliche Schreibung anwenden zu müssen. Eine Randnotiz im großen Konzert des verordneten Schwachsinns.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 20.01.2009 um 03.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13793

PS: Lächerlichkeit allüberall

Wenige Augenblicke nach dem Absenden meines letzten Beitrags lese ich auf Spiegel Online am Anfang eines Berichts über ein Spiel der Handball-WM:
Heute darf jeder Mal spielen und treffen.
www.spiegel.de/sport/sonst/0,1518,602199,00.html

Klar: jedes Mal, also auch jeder Mal. Kein Wunder, diese Großschreibung.

Jeder macht sich mit der Reformschreibung lächerlich, so gut er kann. Manchmal machen sich die Leute damit auch gegenseitig lächerlich, so aktuell die Kontrahenten Rowohlt und Daniel Kehlmann.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 20.01.2009 um 11.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13794

Mit der Neuschöpfung "Mal spielen" eröffnen sich völlig neue Möglichkeiten: Mal laufen, Mal schauen (dann sieht man schon), Mal raten usw.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 20.01.2009 um 12.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13795

In den Verlagen sind Mitarbeiter tätig, die ihre Arbeit nach Schema erledigen. Da zerbricht sich keiner den Kopf über die Rechtschreibung. Möglicherweise fällt es in einem arbeitsteiligen Verlagsunternehmen nicht einmal auf, wenn einmal ein Titel, für den ein Klappen- oder Werbetext verfaßt werden soll, in guter Orthographie erschienen ist. Da wird einfach die Zeit vor dem PC abgesessen, und während dieser Zeit tut der Verlagsmitarbeiter, wozu er vergattert ist. Es gibt da keine Selbstverantwortung, weil der persönliche Entscheidungsbereich nicht erkannt wird, und weil keine Verantwortung tragen zu müssen ohnehin viel bequemer ist.
Anders kann es in Kleinverlagen zugehen, wo der Verleger sich noch selbst um alles kümmert. Und dann auch nur, wenn dieser einen Rest Idealismus und Zivilcourage besitzt. Das Oberhaupt eines großen Verlages beschäftigt sich vermutlich vornehmlich mit administrativen und Fragen des philosophischen Überbaus. Für banale Kleinigkeiten wie Rechtschreibung opfert er keine Zeit, weil es ihn schlicht nicht interessiert.
Und das ist es: verwerflicher und folgenreicher als böser Wille ist die Gleichgültigkeit. Man tut, was alle tun, läßt geschehen, was überall geschieht.
Gleichgültigkeit ist eine unsichtbare Waffe. Sie verletzt den, der nicht gleichgültig ist; den, der fragt und Antworten haben möchte auf Fragen. Den, der sucht. Mit unzähligen Steinchen der Gleichgültigkeit ist der Vorhof des kulturellen und gesellschaftlichen Wärmetodes gepflastert.
 
 

Kommentar von Christoph Kukulies, verfaßt am 20.01.2009 um 18.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13799

Heute mittag hörte ich im Radiosender WDR-2 eine kurze Besprechung des neuen Romans von David Kehlmann. Daß er in klassischer Rechtschreibung verfaßt ist, würdigten die Radioleute mit keinem Wort. Als ob das Thema tabu ist.
 
 

Kommentar von jueboe, verfaßt am 20.01.2009 um 20.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13802

Gerade eben ist in der "Kulturzeit" bei 3sat ein Interview mit Daniel Kehlmann zu Ende gegangen. Der Beitrag dauerte ca. 8 Minuten und das Thema Bildungsdeutsch wurde natürlich auch hier vermieden.
Mit der Wortgewandtheit, die Daniel Kehlmann an den Tag legte, hätte er auf eine Frage nach der Orthografie sicher eine sehr deutliche Antwort gegeben. Das war wohl auch den Programmachern klar.
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 20.01.2009 um 20.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13803

Woher nun auch immer der Opera-buffa-Effekt bei der Verlagswerbung von Rowohlt und Diogenes kommen mag, ist doch eigentlich egal. Ich wollte mit meinem Beitrag keineswegs Herrn Ickler widersprechen, Herr Wrase, sondern lediglich Rowohlt als ein Verlagsbeispiel unter vielen sehen.

Tatsache ist wohl, daß kein Druckerzeugnis dieser gleichgeschalteten Verlage korrekt im Sinne der jeweils amtlichen Reformschreibung sein wird. (Nachgeprüft habe ich das freilich nicht und will es auch nicht tun.) Doch niemand hat diese Verlage zur Gleichschaltung gezwungen. Aber da sich das Rechtschreib-Glücksrad nun einmal weiterdrehen wird, müssen sie nun auch alle sehr albern den Reformen hinterherlaufen. Die Kosten für die Verlage werden deshalb sobald nicht geringer werden.

Zur Kostenreduzierung (und natürlich aus den hier genannten Gründen der Gleichgültigkeit) haben sich viele Verlage inzwischen eine seltsame Hausorthographie zurechtgebastelt. Krampfhaftes Festhalten am Reformtrüffel Heyse (vorauseilende Begleiterscheinungen inbegriffen) und der Rest nach Gutdünken. Im Zweifel dabei lieber näher an den Regeln von 1996 als an der herkömmlichen Schreibgewohnheit. Schließlich wurde die erste glorreiche Reform 1996 mit viel Propaganda und Brachialgewalt in zahlreiche Köpfe eingebleut.

Das Problem ist nur, daß doch 55 Prozent der Leser (und genau für die produzieren doch die Verlage) diesen Reformblödsinn laut Allensbach nicht haben wollen. Nach etwas mehr als zwölf Jahren verfehltem Dauerexperiment in puncto Rechtschreibung wird es daher Zeit, daß diese 55 Prozent endlich aus dem Schatten der schweigenden Anonymität herauskommen. Auch wenn das den Verlagen im Club der Lemminge nicht passen wird.

Die angesprochene Gleichgültigkeit wird zunächst dafür sorgen, daß man bei den Verlagen unsere Schreiben nicht beachtet. (Ich kann davon inzwischen ein Lied singen!) Und sollte die Gleichgültigkeit in Ignoranz umschlagen und man läßt sich doch irgendwann einmal herab und schreibt mir beispielsweise, daß man an Zuschriften dieser Art nicht interessiert sei, nun dann nehme zumindest ich mir inzwischen das Recht heraus, an Verlagen dieser Art ebenfalls nicht mehr interessiert zu sein. Dummheit muß eben bestraft werden und als mündiger Kunde darf ich doch wohl noch selbst bestimmen, wo ich mein Geld ausgebe. Es gibt auf diese Weise bei mir inzwischen schon eine größere Gruppe von Verlagen, von denen ich schon seit drei Jahren kein einziges Buch mehr gekauft habe.

Was soll's, ich lebe noch. Ich bin nicht so größenwahnsinnig, immer den Neuerscheinungen des Buchmarktes hinterherlaufen zu müssen. Parallelen zum Hinterherlaufen hinter der jeweils aktuellen Reform sind durchaus intendiert! Es gibt so viel ältere Literatur aus der Zeit vor 1996, von der ich überhaupt keine Kenntnis habe, daß ich getrost die nächsten zehn Jahre nur noch antiquarische Bücher kaufen kann. Ich halte mich dabei für nicht völlig unbelesen und entdecke doch immer wieder ältere Autoren, die ich – warum auch immer – nicht kannte.

Kurz und gut: Ich ärgere mich natürlich auch, wenn ein Verlag mich nicht ernst nimmt, aber die gleichgeschalteten Verlage sind nicht die einzige Möglichkeit, literarischen Appetit zu stillen. Und das ist immerhin ein Trost.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 21.01.2009 um 05.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13805

Sie haben recht, Herr Höher. Als ich auf den Widerspruch zum Tagebucheintrag einging, bezog ich mich auf Herrn Lachenmanns Kommentar, nicht auf Ihren.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.01.2009 um 19.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13807

Es gibt erfreuliche Inseln im Meer der Mitläufer. Vorgestern habe ich über ZVAB ein seltenes Buch bestellt, und gestern, nach kaum 24 Stunden, war es schon in meinen Händen. Beigelegt ein Katalog in tadelloser Orthographie. Diese erfreuliche Sendung kam vom Antiquariat "Fundus" in Berlin. Gut gemacht!
 
 

Kommentar von Peter Schmitt, verfaßt am 22.01.2009 um 15.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13808

Da ich als Käufer eines Buches wohl Anspruch darauf habe, wesentliche Informationen vor dem Kauf zu erhalten, müßte auf dem Buch und in den Katalogen deutlich zu erkennen sein, welche Rechtschreibung verwendet wurde – vor 1996, 1997,...,2006,... – und ob es sich dabei um die vom Autor verwendete handelt.

Über "Die Vermessung der Welt" steht bei Rowohlt (www.rowohlt.de/buch/271021): "Mit Phantasie und viel Humor beschreibt Daniel Kehlmann ...", bei buch.de (www.buch.de/buch/14447/962_die_vermessung_der_welt.html) und anderen wurde daraus "Mit Fantasie und viel Humor beschreibt Daniel Kehlmann ..." .
 
 

Kommentar von Heinz Erich Stiene, verfaßt am 23.01.2009 um 09.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13809

Es gibt auch den umgekehrten Fall. Ein in Koblenz ansässiger Buchversand sendet mir gelegentlich Prospekte in guter Orthographie zu, obwohl die angebotenen Bücher zu einem nennenswerten Anteil in Reformschreibung gedruckt sind.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.01.2009 um 11.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13810

Meine Notiz bezog sich nur auf die Orthographie des Katalogs, nicht auf die darin angezeigten Bücher. Die sind wahrscheinlich großenteils reformiert.
Natürlich wäre die Angabe "Rechtschreibung oder Schlechtschreibung" - denn darauf läuft es doch hinaus - viel wichtiger als der Einband usw., aber das erfährt man leider nie, bevor man selbst in das Buch hineingesehen hat. Deshalb müßte ein Verlag mal neue Wege gehen und auf die Verwendung der nichtreformierten Orthographie wie auf ein Qualitätsmerkmal hinweisen.
Ich bin kein Biertrinker und verstehe daher so gut wie nichts von diesem Nahrungsmittel. Auf einem Bier-Lastwagen lese ich immer "ungespundet". Ich weiß zwar nicht, was das ist, aber ich entnehme der Angabe ohne jeden Zweifel, daß gespundetes Bier nicht so gut sein kann.
Ebenso könnte der Leser und Käufer, wenn er "unreformiert" liest, auf richtige Gedanken kommen ...
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 24.01.2009 um 11.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13814

Bei dem gegenwärtigen Ansehen der Reform halte ich "Unreformierte Rechtschreibung" für den besten und eingängigsten Werbespruch.
 
 

Kommentar von Uwe Grund, verfaßt am 31.01.2009 um 14.51 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13833

Wie gut Daniel Kehlmann und andere Autoren daran tun, ihre Texte nicht den Zumutungen der neuen Rechtschreibung bzw. ihrer "Anwender" auszusetzen, zeigt ein Vergleich mit anderen Produktionen von Rowohlt. So stolpert man z.B. in einer dort erschienenen Übersetzung des Nobelpreisträgers Saramago (Das Zentrum. Roman. Deutsch von Marianne Gareis. Reinbek b. Hamburg, 2. Aufl. 2002) nicht nur über ungrammatische Formen wie das ist am nahe liegendsten(S. 38). Es begegnen auch fortwährende und die Semantik tangierende Verstöße gegen die Regeln der Getrennt- und Zusammenschreibung (Referenz: Duden, 22. Aufl. 2000): es war nur so dahin gesagt (S. 12); Häuser, die dem Erdboden gleich gemacht werden sollten (S. 17); er versuchte es [sc. einen unberechtigten Tadel] wieder gut zu machen (S. 33).
Bei der Groß- und Kleinschreibung folgt der Verlag anscheinend dem Zufallsprinzip, sobald es um die Schreibung von Adjektiven geht, die von einem bestimmten Artikel begleitet werde: obgleich er nicht gerade der Schlaueste ist (S. 41); attackiert er mit dem Holzhammer den größten der Blöcke (S. 39); Der Jüngere der beiden trägt eine Uniform ... Der Ältere hat eine normale Jacke ... an (S. 9); dann stürzten die jüngeren von ihnen bereits die Rampe hinab, während die älteren ... hinabstiegen (S. 18).
Erwartungsgemäß findet man die nunmehr regelkonforme, gleichwohl grammatisch inkorrekte Form Vielleicht hat er ja nicht ganz Unrecht (S. 52). Und wenn die Präposition wegen den Dativ regiert, so fragt sich der Leser, ob dies der Wille des Autors ist, der, die literarische Technik des Inneren Monlogs benutzend, die laxe Syntax der Alltagssprache fingiert, oder ob dies ein – weiteres – Erratum der Textredaktion darstellt: Das wäre ja noch schöner, dass ich wegen einem streunenden Hund nass werde (S. 57f.).
 
 

Kommentar von Matthias Wendt, verfaßt am 17.02.2009 um 13.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13914

Seit langem habe ich, freiberuflicher Korrektor, einmal wieder im Tagebuch von Prof. Ickler gestöbert. Da ich unter anderem für Rowohlt arbeite, gelegentlich auch für das Korrektorat vor Ort (weshalb ich mit manchen Interna vertraut bin), möchte ich einige der in dieser Diskussion getroffenen Aussagen richtigstellen, auch wenn der zugehörige Eintrag schon ein wenig älter ist. Ich äußere mich aber lediglich als Privatperson; mein Beitrag besitzt keineswegs „offiziellen“ Charakter und ist nicht mit dem Verlag abgesprochen worden.

Ich habe die Kommentare von Prof. Ickler zur Rechtschreibreform stets mit Vergnügen und voller Zustimmung gelesen. Ihre polemische Charakterisierung als „Schildbürgerstreich“ scheint mir zutreffend; die Kritik an nahezu allen Detailbestimmungen der Reform ist auch für den Fachmann oft erhellend und immer einleuchtend. Tatsächlich hätte es genügt, im Zuge einer Neuauflage des Duden einige arbiträre Ausnahmen zu beseitigen und schwammig formulierte Regeln zu präzisieren. Daß die anfänglich sicher gutgemeinte Reform schließlich das „schwierigste Regelwerk aller Zeiten“ (Ickler) gebar und aus der Rechtschreibung eine esoterische Geheimwissenschaft machte, kam immerhin dem Berufsstand des Korrektors zugute :). Ob man darum allerdings aus der Verteidigung der „klassischen“ Schreibung eine Obsession machen muß, weiß ich nicht. Bei aller legitimen Kritik an der Reform – auch insbesondere an der Methode der staatlichen Oktroyierung – sollte nicht vergessen werden, daß die Orthographie letztlich ein gegenüber dem Inhalt des Geschriebenen peripheres Phänomen ist. Nicht zuletzt führt die starre Haltung der Reformgegner anscheinend manchmal dazu, sich mit den Umständen nicht ausreichend auseinanderzusetzen, die Unternehmen, Institutionen und Einzelpersonen zur Übernahme der reformierten Schreibung veranlaßt haben.

Ein großer Publikumsverlag wie Rowohlt konnte es sich aus wirtschaftlichen Gründen selbstverständlich nicht erlauben, durchgehend an einer nicht mehr regelkonformen Rechtschreibung, die die „klassische“ Schreibweise nun einmal darstellt, festzuhalten. Im Gegenteil, es war aus Wettbewerbsmotiven geboten, zumindest im Bereich Kinder- und Jugendbuch möglichst schnell auf die reformierte Schreibung umzustellen. Mit sich duckender „Gleichschaltung“ hat das nichts zu tun. Denn andererseits waren dem Verlag und insbesondere den Fachleuten vom Korrektorat die sachlich fragwürdigen Inhalte der Reform durchaus gegenwärtig. Darum hat man sich entschieden, von Ausnahmen abgesehen, bei allen optionalen Schreibungen die „alte“ Variante beizubehalten – also für eine „konservative“ Auslegung. Diese ist in sorgfältig erarbeiteten Korrekturrichtlinien für die überwiegend externen Korrektoren festgelegt worden – keineswegs handelt es sich um eine willkürliche oder gar erratische „Variante der Reformschreibung“, wie Prof. Ickler suggeriert, und ebenfalls nicht um eine „zurechtgebastelte seltsame Hausorthographie“, wie Herr Höher vermutet. Namhafte Autoren, insbesondere im Bereich der Belletristik, können ihre Werke natürlich auf Wunsch weiterhin in „klassischer“ Orthographie publizieren lassen, wie eben das Beispiel Kehlmann zeigt.

Die Titulierung der Verlagswerbung als „bekannt rabiat“ ist nicht nachzuvollziehen. Diese ist vielmehr überaus gelungen, wie die Wahl zum „Verlag des Jahres 2008“ durch die deutschen Buchhändler beweist. Der Einwand, in „klassischer“ Schreibung verfaßte Bücher würden in reformierter Schreibung beworben, ist nicht von der Hand zu weisen, nur wäre es schlicht nicht praktikabel, in allen Werbemitteln, die sich ja wie der von Herrn Ickler genannte Katalog zumeist auf mehrere Titel gleichzeitig beziehen (was zum Teil sogar für einzelne Texte darin gilt), nach der jeweiligen Rechtschreibung des Beworbenen zu differenzieren. Dies haben einige Diskussionsteilnehmer auch wahrgenommen. Daß der Verlag eines seiner derzeitigen Flaggschiffe damit „desavouiert“, ist, mit Verlaub, schlicht Unfug. Die Verlagswerbung wird übrigens meines Wissens vollständig vom In-house-Korrektorat nach den Verlagsrichtlinien geprüft. Umschläge und Klappentexte werden sogar nach dem Vieraugenprinzip von zwei Mitarbeitern kontrolliert. Ich gehe davon aus, daß andere Verlage ebenso verfahren. Der Beitrag von Frau Pfeiffer-Stolz mag daher einer gewissen poetischen Qualität nicht entbehren, hat aber mit der Wirklichkeit nichts zu tun; die einleitenden Bemerkungen sind hanebüchen und insolent.

Auch der Kommentar von Uwe Grund ist ärgerlich, da er ohne jegliche Sachkenntnis pauschal suggeriert, in den nach Reformschreibweise gesetzten Büchern herrschten sozusagen zwangsläufig Sodom und Gomorrha. Die Fahnen werden vielmehr von einem Korrektor, dem Lektor und dem Autor/Übersetzer Korrektur gelesen, die Korrekturen anschließend vom Lektor zusammengetragen. Wie es zu den von Herrn Grund genannten ersten vier Fehlern gekommen ist, wäre im Einzelnen zu rekonstruieren; evtl. hat mein Kollege sie damals übersehen, oder seine Korrekturen wurden vom Lektorat nicht übernommen. Ich räume ein, daß sie auf die mit der Reform einhergehenden Unsicherheiten zurückzuführen sind, die zum Zeitpunkt der Übersetzung und Herstellung des Buches zweifellos noch virulent waren. Die Groß-/Kleinschreibung von Adjektiven bei vor- oder nachstehendem Pronomen (hier „beide“, „ihnen“) gehört zu den zahlreichen echten Zweifelsfällen, um die sich die Redaktion des Duden-Bandes 9 herumdrückt. Ich glaube, vieles spricht für Großschreibung („der Jüngere von beiden“, „der Einzige von uns“), da eben das Substantiv, das als Bezugswort allein die Kleinschreibung rechtfertigen würde, fehlt. Aber letztere scheint mir zumindest nicht belegbar falsch zu sein. Daß der Kollege bei diesem schwierigen Fall eine Uneinheitlichkeit hat durchschlüpfen lassen, halte ich für verzeihlich. Die in der Tat „ungrammatische“ Großschreibung von „Unrecht“ in der Fügung „nicht ganz Unrecht haben“ war in der damals geltenden Fassung der Reformorthographie obligatorisch. „Wegen“ + Dativ wurde ganz gewiß vom Lektorat bewußt als Kennzeichen der Umgangssprache belassen – in direkter Rede mag der Genitiv hin und wieder unangemessen gehoben wirken, auch wenn sich dem Korrektor beim Dativ die Haare sträuben.

Diese Details mögen illustrieren, wie vorsichtig man bei der Pauschalbewertung von Korrektoratsleistungen sein sollte. Herr Grund hat sich ein Extrembeispiel herausgesucht (welche „anderen Produktionen“ er noch im Auge hat, wird nicht ersichtlich), um daraus eine allgemeine und als solche absurde Diskreditierung der Umsetzung der Reformschreibweise durch „den Verlag“ abzuleiten.

Bei aller Sympathie für das Anliegen der Reformgegner – mit überzogener und unsachgemäßer Kritik, wie sie zumindest in dieser Diskussion offenkundig geworden ist, dürfte man langfristig der eigenen Sache eher schaden.

 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 17.02.2009 um 13.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13915

Herrn Wendt gelingt es nicht, im Kommentar von Herrn Grund auch nur einen Fehler zu finden. Trotzdem behauptet er einfach mal so, Herr Grund argumentiere »ohne jegliche Sachkenntnis«. Und dann warnt er die Reformgegner betulich vor überzogener Polemik. Glückwunsch!
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 17.02.2009 um 16.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13916

„die einleitenden Bemerkungen sind hanebüchen und insolent.“

Herr Wendt, bitte teilen Sie mir freundlichst mit, welche meiner Äußerungen Sie als derart „unverschämt“ einordnen, daß dafür gleich ein Pleonasmus herhalten muß?

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.02.2009 um 18.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13917

Meine Kennzeichnung als "rabiat" bezog sich selbstverständlich auf die für Rowohlt typische Durchsetzung der Reformschreibung, nicht auf die Verlagswerbung insgesamt.
Ob es sich ein großer Verlag leisten kann, die staatlich verordnete, anerkannt fehlerhaft und daher ständig revisionsbedürftige Schulorthographie zu ignorieren, wird sich nicht entscheiden lassen. Man tut es eben, oder man läßt es. Es wäre immerhin einen Versuch wert, mal eine Reihe - gerade auch von Jugendbüchern - mit dem Qualitätshinweis erscheinen zu lassen: Nicht reformiert! Ein "großer" Verlag würde sich so was trauen. Zu seinen besseren Überzeugungen zu stehen - sollte das gar nichts gelten? Und was die Eltern und Großeltern dann kaufen, ist nie getestet worden.
In meinen Büchern sind die hanebüchenen und insolenten Äußerungen verschiedener Verlagssprecher dokumentiert.
 
 

Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 17.02.2009 um 18.15 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13918

Den Beitrag von Herrn Wendt finde ich außerordentlich interessant und aufschlußreich. Zeigt er doch, welche Probleme die Verlage mit der Rechtschreibreform haben. Daß freiberufliche Korrektoren unfreiwillige Gewinner hierbei sind, kann ich nur bestätigen. Ich selbst hatte zum Beispiel – als freiberuflicher Hersteller im Satz – vier Korrekturdurchgänge für ein Büchlein über Heilkräuter. In jeder wurden die von der Reform betroffenen Schreibweisen hin und her geändert, inbesondere die „Brennnessel“ hatte es schwer, sich durchzusetzen. Das kostet natürlich viel Geld, und es wäre interessant, wenn es einmal eine Analyse gäbe über die durch die Reform allein in den Buchverlagen entstandenen Mehrkosten. Wo die Verlage sonst so über ihre knappen Kalkulationen klagen, wundert es schon, daß hierüber noch kein Wort verloren wurde.

Wir können übrigens annehmen, daß ähnlich wie bei Rowohlt inzwischen jeder Verlag sich seine eigene Hausorthographie geschaffen hat, je nachdem, wie bereitwillig man jeweils die neuen Regeln anzuwenden bereit ist. Bei Qualitätsverlagen wie Rowohlt und anderen dürfte es allgemein so sein, daß man die neuen Regeln „konservativ“ anwendet, wie Herr Wendt beschreibt. Es ist in den Verlagen also allgemeine Erkenntnis – wie könnte es auch anders sein – daß die neuen Regeln schlecht sind. Und das war von Anfang an zu erkennen. Deshalb ist den Verlagen hauptsächlich vorzuwerfen, daß sie sich nicht zusammengeschlossen und gemeinsam erklärt haben, daß sie diese Rechtschreibung wegen ihrer offensichtlichen Mängel niemals anzuwenden bereit sind, schon gar nicht in Kinder- und Jugendbüchern. Dann wäre die Reform bald erledigt gewesen.

Ich weiß, daß es solche Bemühungen auf Abteilungsleiterebene bei einigen namhaften Literaturverlagen gegeben hat, diese wurden aber „von höherer Stelle“ abgeblockt. Daß ein einzelner Verlag sich heute nicht mehr der Reformschreibung grundsätzlich verweigert, ist verständlich, denn viele Leser (und Lektoren) kennen die traditionelle Orthographie ja gar nicht mehr – der Sündenfall fand eben vorher statt, und der hat schon sehr mit „Ducken“ zu tun. Und die Qualität der Texte ist eben deutlich schlechter und fehlerhafter geworden als vor der Reform, mit dieser Tatsache müssen unsere „Qualitätsverlage“ und ihre Leser jetzt leben.
 
 

Kommentar von Rominte van Thiel, verfaßt am 17.02.2009 um 19.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13919

W. Lachenmann: "... dann wäre die Reform bald erledigt gewesen."
Genau das ist es. Es ist wohl nicht anzunehmen, daß die Kultusminister einen eigenen Verlag gegründet hätten, um die Schüler mit Produkten aus der Scheinwelt versorgen zu können.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 18.02.2009 um 14.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13920

Ich bin nicht Herrn Mathias Wendts Meinung, "daß die Orthographie ein gegenüber dem Inhalt des Geschriebenen peripheres Phänomen ist". Ich bin nicht der Meinung, daß die Wortbedeutung sich erst aus dem Satz ergeben braucht, sondern meiner Meinung nach muß die Wortbedeutung sich aus dem geschriebenen Wort selbst ergeben.
Tatsache ist, daß bei der früheren Rechtschreibung eine Einheitlichkeit bestand und bei der neuen Rechtschreibung keine Einheitlichkeit besteht. Deshalb lesen die Schüler jetzt in jedem Buch eine andere Rechtschreibvariante.
Ich bin der Meinung, daß Bücher zum Lesen und nicht zum Diktieren gemacht werden sollen und die leichte und schnelle Leseverständlichkeit ein wesentliches Qualitätsmerkmal ist und nicht die Schreibbarkeit nach Diktat.
Nebenbei: An der neuen Septuaginta Deutsch fällt mir nur die Schweizer ss-Schreibung auf.
 
 

Kommentar von Arno Pielenz, verfaßt am 18.02.2009 um 17.20 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13922

Wenn Herr Wendt meint, die Bedeutung des Wortes ergebe sich ja aus dem Satzusammenhang, so hat er sicherlich in den meisten Fällen recht. Nicht immer: "Im Allgemeinen erkennt er das Wesen." Und sicherlich ist auch nur ein geringer Teil des Wortschatzes unmittelbar betroffen. Aber wenn in einem Konzert ein Prozent der Töne falsch sind, weiß man zwar auch, welches Musikstück gemeint ist, tut aber trotzdem gut daran, den Saal möglichst schnell zu verlassen.Im übrigen (nicht: Im Übrigen - da weiß ich nicht, wo das liegt) habe ich mich vor einiger Zeit wegen eines in Reformschrieb übersetzten Saramago-Romans unwirsch an den Rowohlt-Verlag gewandt und erhielt eine Antwort in normaler Rechtschreibung von einem Lektor, dessen Name hier nicht genannt werden soll. Er bedauerte außerordentlich, sich dem Druck des Verlages beugen und Reformschrieb durchsetzen zu müssen.
Na, kauf ich eben nichts mehr von Rowohlt. Im Falle Saramago bin ich in der glücklichen Lage, ihn im Original lesen zu können. Ich habe insgesamt bestimmt 100 Bücher nicht gekauft wegen des "gräulichen Missstandes" und entsprechende Zeitungen und Zeitschriften abbestellt.
Wenn behauptet wird, jeder könne ja die Rechtschreibung wählen, die ihm zusage, gilt das allenfalls für Privatbriefe und Tagebücher. Wer veröffentlichen will, muß in der Regel die Kinderrechtschreibung benutzen, oder der Text wird vom Verlag entsprechend zugerichtet. Universitäten nehmen nur noch wissenschaftliche Arbeiten in falschem Deutsch entgegen, selbst Zitate aus besseren Rechtschreibzeiten sollen umgestellt werden (und sind damit ihrerseits nicht zitierbar).
 
 

Kommentar von Karl-Heinz Isleif, verfaßt am 18.02.2009 um 20.47 Uhr   Mail an
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Germanist:

"Ich bin nicht Herrn Mathias Wendts Meinung, "daß die Orthographie ein gegenüber dem Inhalt des Geschriebenen peripheres Phänomen ist". Ich bin nicht der Meinung, daß die Wortbedeutung sich erst aus dem Satz ergeben braucht, sondern meiner Meinung nach muß die Wortbedeutung sich aus dem geschriebenen Wort selbst ergeben."

Liebster Germaniste,

Ihre Meinung in Ehren, aber die darf man doch nicht unwidersprochen so stehen lassen!

Meine zumindest ist die: Natürlich ist der Inhalt wichtiger als die Orthographie. Wie kann man das bezweifeln? Und natürlich ergibt sich die Bedeutung eines Wortes so gut wie nie aus 'dem geschriebenen Wort selbst', sondern immer nur aus dem Zusammenhang. (Das weiß man aber nicht erst seit H. Weinrich und seiner 'Linguistik der Lüge', die ich hiermit trotzdem zur weiteren Erhellung empfehle.)

KHI
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 18.02.2009 um 21.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13928

Das Gerede von der „Kontextabhängigkeit der Bedeutung“ ist trivial. Dumm wird es, wenn es als Erklärung von Bedeutung herhalten soll. Denn ihr Kontext steht immer in derselben Abhängigkeit. So ließen sich (wäre diese Operation nicht undurchführbar) alle Kontexte zu einem großen Sieb flechten, durch das man die ganze Welt schütten könnte – ohne am Ende eine einzige Bedeutung herausgespült zu haben.

Was passiert, wenn man die linguistische Binsenweisheit für bare Münze nimmt, haben uns die Reformer vorgeführt, als sie erklärten, es bleibe sich gleich, ob man orthographisch zwischen gräulich und greulich differenziert oder nicht, da sich der Unterschied aus dem Kontext ergebe. Bedeutungen sind kontextökonomisch. Wörter haben Bedeutungen.

 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 18.02.2009 um 23.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13929

Bei einer ganzen Menge von Substantiven, die bei ganz gleicher Schreibweise sowohl männlich, als auch weiblich oder sächlich sein können und jeweils ganz unterschiedliche Bedeutungen haben, kann man die gemeinte Bedeutung erst am Artikel oder Adjektivattribut, also erst aus der ganz unmittelbaren Wortumgebung erkennen.
Die Bedeutungserkennung aus dem Satzzusammenhang betrifft überwiegend falsch geschriebene Wörter, die einem existierenden Wort mit ganz anderer Bedeutung entsprechen.
 
 

Kommentar von Karl-Heinz Isleif, verfaßt am 19.02.2009 um 01.24 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13930

Von der Schallentwicklung im Allgemeinen (Inhaltsverzeichnis)
... bisher doch ziemlich getrennt neben einander gestanden haben... (Einleitung)
... den falschen Standpunkt überschwänglicher Sentimentalität... (Einleitung)
... unter ihrer Einwirkung zu Stande gekommenen Bewegungen. (S.3)
... mancherlei Früchte zu Tage fördern... (S.3)
... wenigstens so weit sie in der Musik zum Ausdruck kommen... (S.4)
... denen eine eingehende Kentniss der Physik...
... die sich schlecht genug Jemandem beschreiben lassen...(S.8)
... gebührend auseinander gehalten zu haben...(S.9)

Endlos fortsetzbare Liste von Beispielen aus
Hermann v. Helmholtz: Die Lehre von den Tonempfindungen, 1870

Das sind alles typische 'Fehler', wie sie aufgrund oder im Zuge der Reform auch heute passieren. In jedem einzelnen Fall ist (mir) aber die Bedeutung glasklar, und zwar wegen des Zusammenhangs, in dem die Wörter stehen. Wenn sogar ich, wohlgemerkt 140 Jahre später, das alles problemlos 'auseinander halten' kann, dann zeigt das, daß die Reformer die Bedeutung am allerwenigsten tangieren konnten. Die Lesbarkeit schon, aber die, oder auch die Frechheit, uns 140 Jahre zurückzuwerfen, hatten wir ja nicht angesprochen.
Trivial - und wahr.
KHI
 
 

Kommentar von Michael Krutzke, verfaßt am 19.02.2009 um 12.17 Uhr  
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Auch ich gebe dem Inhalt Vorrang vor der Orthographie und kann eine gegensätzliche Wertung nicht verstehen. In irgendeinem der letzten Wahlkämpfe flatterte meinem Vater ein Flugblatt in den Briefkasten. Offensichtlich von Rechtschreibreform-Verweigerern verfaßt, war die Rechtschreibung "klassisch" und somit von gehobener Qualität; der Inhalt hingegen war einfach nur brauner Dreck. "Peripherer" kann eine Orthographie nicht sein.

Die Wirtschaftszeitung "brand eins" hat sich offenbar ganz der Reformorthographie verschrieben. Das stört mich gelegentlich beim Lesen; trotzdem ist jedes Heft auf einem hohen und sonst kaum erreichten journalistischen Niveau. In meinen Augen bereichert "brand eins" die Medienlandschaft eindeutig - trotz der (wiederum in meinen Augen) schlechteren Orthographie. Würden die anderen bekannten Wirtschaftsblätter auf die bessere Orthographie (rück-) umstellen, kämen inhaltlich zweifellos keine besseren Zeitungen heraus.
 
 

Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 19.02.2009 um 15.57 Uhr  
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Warum solch einen Streit vom Zaune brechen? Inhalt und Form gehen miteinander einher und bedingen einander.
Die Orthographie dient dazu, den Inhalt zu präsentieren. Das tut der Neuschrieb ebenso wie der unreformierte. Letzterer kann es besser.
Wer viel Wert auf den Inhalt legt, braucht ein Werkzeug, um den Inhalt zu verschriftlichen und ihn sozusagen »lesbar« zu machen. Warum sollte er sich mit etwas anderem begnügen, wenn er das beste haben kann?
 
 

Kommentar von Arno Pielenz, verfaßt am 19.02.2009 um 19.23 Uhr   Mail an
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Rechtschreibung dient dem Leser. Alles was das Verständnis erschwert oder behindert ist eben schlechte Rechtschreibung. Das Argument der Reformer, man könnne ja (fast alles) aus dem Kontext erschließen, ist sicherlich richtig. Aber warum soll ich jetzt mühsam erschließen, was vorher schnell und eindeutig erfaßbar war?
 
 

Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 20.02.2009 um 11.53 Uhr   Mail an
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Gerade habe ich Herrn Kehlmanns Buch geschenkt bekommen und schon begonnen, es mit Vergnügen zu lesen.
Dadurch angeregt, bin ich erst auf diesen interessanten Diskussionsstrang gestoßen.
Der schlicht und einfach ungebildete Herr Wendt hat in erfreulicher Klarheit noch einmal illustriert, auf welch dürftiger Grundlage ein Verlag wie Rowohlt zu seinen rabiaten Praktiken gelangt ist.
Was hier nicht herausgehoben wurde, ist die erfreuliche Tatsache, daß der in bewunderungswürdiger Weise der deutschen Sprache mächtige Daniel Kehlmann mit seinen gerade 34 Jahren erhoffen läßt, noch lange Zeit als Fanal für umfassend gute deutsche Texte zu stehen.
(Übrigens - an Herrn Wrase: Die Klappentexte von "ruhm" sind von Rowohlt unter Vermeidung orthograpischer Klippen gestaltet. Das Buch selbst desavouiert seinen Autor also nicht.)
 
 

Kommentar von Uwe Grund, verfaßt am 26.02.2009 um 12.06 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#13969

Anders als Herr Wendt anzunehmen scheint kenne ich aus Autoren- und Editorensicht den Aufwand, der bei der Herstellung druckreifer Texte zu treiben ist. Nur: Dieser Aufwand führte bei der herkömmlichen Rechtschreibung zum Erfolg, sprich zu orthographisch korrekten Publikationen, während wir nach der Rechtschreibreform selbst bei renommierten Verlagen mit fehlerbehafteten Ausgaben rechnen (und damit auch auf unbestimmte Zeit leben?) müssen. Das betrifft nicht nur Rowohlt. Auch bei S. Fischer förderte eine Stichprobe (J. M. Coetzee: Zeitlupe. Aus dem Englischen von R. Böhnke. Frankfurt a.M. , 2005) zahlreiche Rechtschreibfehler (Referenz: Duden, 23. Aufl. 2004) zutage: "Doch ich möchte Sie daran erinnern, dass ich zwei Kinder groß gezogen habe...Sie haben keines groß gezogen." (S. 208). "Er kann nicht schreien, weil er seine Kiefer nicht auseinander bekommt, aber das passt ihm, das passt zu seinem Zähne knirschenden Zorn." (S. 16). "Eine Prise hiervon, ein Tropfen davon, ein klitzekleines Bisschen von einem andern Stoff, alles vermengt und in einer Fabrik in Bangkog zu einer Pille gerollt, und das Ungeheuer Schmerz wird zu einer Maus." (S. 247) usw. usw. Wenn es also selbst den vereinten Bemühungen von Übersetzer, Lektorat und Korrektorat nicht gelingt, einen gänzlich fehlerfreien und/oder konsistent normierten Text zu redigieren, so möchte man gern wissen, wie das Normalschreiber oder Schüler leisten sollen, zu deren Nutz und Frommen diese Reform ja angeblich dient.
Man kann gleichsam unter Laboranordnungen – alle Rahmenbedingungen bleiben bei den Verlagen vor wie nach 1996/98 konstant, nur eine Einflußgröße, nämlich das Regelwerk, wird verändert – beobachten, wie sich die orthographische Qualität belletristischer Texte seit der Rechtschreibreform verschlechtert hat. Nicht nur in Abrede gestellt, sondern empirisch widerlegt wird damit aber das schlechthin zentrale Vorbringen der Reformer: "Die maßvolle Neuregelung hat das korrekte Schreiben erleichtert..." (Duden, Vorwort zur 22. Aufl. 2000).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.03.2009 um 18.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#14008

"Alexander von Humboldt war ein kleiner alter Herr mit schlohweißen Haaren." So schreibt Kehlmann. Irgendein Rezensent hat nach dem Erscheinen des Buches darauf hingewiesen, daß Humboldt im Gegenteil auffallend groß und stattlich war.
In seiner Werbung zitiert der Verlag den "Stern": "Daniel Kehlmanns Bücher verströmen den irritierenden Reiz von Meistern wie Nabokov oder Proust."
Das ist vielleicht ein bißchen hoch gegriffen, aber da ich Kehlmann nicht gelesen habe, will ich mich auf die Frage beschränken, was eigentlich ein "irritierender Reiz" ist.
Ich werde Kehlmann nicht lesen. Romane über wirkliche Personen kann ich nicht genießen. Walser über Goethe - die Leseprobe hat mir mehr als gereicht.
Wenn man Proust liest - das ist jetzt nicht sehr originell -, hat man das Gefühl, daß dieses Werk geschrieben werden mußte. Aber z. B. Eco? Das ist dann doch wohl nur Kunstgewerbe auf sehr hohem Niveau. Der Meister zeigt, daß er auch das noch kann. Aber warum soll ich es lesen?
Trotzdem freut es mich natürlich, wenn die Bestseller in ordentlicher Rechtschreibung gedruckt werden, und ich will auch niemandem sein Vergnügen nehmen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.09.2009 um 11.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#14919

Jetzt habe ich Kehlmann doch gelesen – im Urlaub auf der ostfriesischen Insel, weil in der kümmerlichen Bibliothek nicht viel Lesbares vorhanden war. Das Beste an dem Buch ist die lobenswerte Rechtschreibung.

Die angeblichen Kleinwüchsigkeit des "kleinen Alexander" wird immer wieder erwähnt, es ist beinahe ein Leitmotiv.
Das Buch ist fast durchgehend im Konjunktiv I geschrieben, sehr nervig.
„Mit oder ohne Gipfel, es sei der Weltrekord.“ (So Humboldt am Chimborazo. Gab es dieses Wort damals schon, oder ist es ein Anachronismus?)
Leseprobe:
„Das habe man nun davon, sagt Julio.
Regen habe noch keinem geschadet, sagte Mario.
Regen schade jedem, sagte Carlos. Er können einen umbringen. Er habe schon manchen umgebracht.
Sie würden nie mehr heimkommen, sagte Julio.
Und wenn schon, sagte Mario. Daheim habe es ihm nie gefallen.
Daheim, sagte Mario, sei der Tod.
(...)
Und jetzt, fragte Humboldt.“ (S. 139)

Das ist doch eine ziemlich öde Prosa.

diadisch (281) soll wohl heißen dyadisch.

Mir gefällt schon das ganze Genre nicht. Kehlmann stellt die Figuren von innen dar, teilt allwissend ihre Gedanken und Gefühle mit. Wahrscheinlich ist alles falsch; damit entfällt der Grund, diesen Text zu schreiben. Die Ausrede, es sei doch nur ein Roman, kann ich nicht gelten lassen. Niemand würde das Buch lesen wollen, wenn es darin nicht um die berühmten Männer ginge. Außerdem schwimmt das Buch auf der gegenwärtigen Welle von Romanen, die sich nicht mehr mit der Schwierigkeit, Romane zu schreiben, befassen, sondern pralles Leben bieten, hier also Krokodile usw. Vielleicht ist das ein Grund für die Beliebtheit und den Verkaufserfolg.

Es fällt auf, daß die Reisen und Entdeckungen Humboldts einigermaßen verständlich dargestellt werden, während die Leistung von Gauß naturgemäß nicht deutlich wird. Ob Kehlmann dessen mathematische Erkenntnisse nachvollziehen kann, weiß ich nicht, aber er kann und will sie natürlich nicht in einem solchen Buch mitteilen. Damit bleibt Gauß aber ein Klischeebild, bis hin zur interrumpierten Hochzeitsnacht, wo er aus dem Bett springt und schnell noch ein paar Formeln niederschreiben muß.

Der Verfasser scheint seine Figuren nicht zu lieben. Er ist ihnen aber nicht recht gewachsen, wuselt herum wie ein Dackel zwischen den Beinen von Elefanten. Das Format ist ja immer das Problem, wenn sich jemand biographisch-belletristisch an solchen Geistesriesen versucht.

Die meisten Leute wissen so gut wie nichts über Humboldt, Gauß, Bonpland, aber was sie nach der Lektüre über diese Männer zu wissen glauben, ist vielleicht schlechter als das komplette Unwissen.

Na, ich hab's also durchgelesen, aber mehr als ein fader Nachgeschmack ist nicht zurückgeblieben. Habe mir vorgenommen, wieder mal Humboldt zu lesen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.09.2009 um 09.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#14951

Hoffmann, Ludger (Hg.) (2007): Handbuch der deutschen Wortarten. Berlin (De Gruyter Lexikon).

Der Band ist in (fehlerhafter) Reformschreibung gedruckt, nur Angelika Redder hat für ihr Kapitel die herkömmliche Rechtschreibung durchgesetzt. Getrennt wird, wo immer es möglich ist, so: Pers-pektive, Kons-titution, Subs-tanz, Sy-nonym.
Dionysios Thrax wird bei Gabriele Graefen stets „Thrax“ genannt, während der sprachenkundige Konrad Ehlich ihm natürlich seinen Namen Dionysios läßt.

Das Kapitel über Adjektive ist von Eichinger. Er entnimmt die meisten Beispiele Kehlmann (darum habe ich diese Notiz hier untergebracht) und hat alles auf Reformschreibung umgestellt, allerdings nur Heyse, also nicht kochendheißen Rum (168). „Der Terminus Adkopula scheint auch dazu geeignet zu sein, jene Elemente diffuser Wortartzugehörigkeit zu charakterisieren, wie sie sich häufiger beim Prozess der Univerbierung im Prädikatsbereich finden: Plötzlich tat Gauß ihm leid.“ (149) Auf Univerbierung kommt E. hier nur, weil die neueste Revision der RSR leidtun vorschreibt. Eichingers Abhängigkeit von der Rechtschreibreform zeigt sich auch an folgender Stelle: „Daneben gibt es eine Reihe von Lexemen, deren wortartmäßige Zuordnung unklar ist, bei denen im Zweifelsfall das Substantiv primär ist:
Feind – feind; Ernst – ernst; Pleite – pleite; Bankrott – bankrott; Klasse – klasse; Scheiße – scheiße; Wurst – wurst.“ (175)

In dieser bunten Mischung gibt Eichinger nur die von den Reformern erfundenen Unklarheiten wieder. Was soll denn an bankrott zweifelhaft sein?

Der Beitrag ist schlecht gegliedert und reich an Wiederholungen. Man stolpert über marginale Randfälle usw.
des so zu Weg gebrachten verbalen Komplexes - Sieht seltsam aus. (Die Neuregelung kennt fakultativ zu Wege bringen.)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 19.09.2009 um 12.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#14989

Prof. Ickler schreibt in #14919:
„Es fällt auf, daß die Reisen und Entdeckungen Humboldts einigermaßen verständlich dargestellt werden, während die Leistung von Gauß naturgemäß nicht deutlich wird.“

„Die Kunst des Scheinwerfens“
ist eine ganz wörtlich zu nehmende Erfindung von Gauß, die die Landvermessung mit Hilfe von Sonnenlicht revolutionierte. Sie wird in der Biographie „Gauß“ von Hubert Mania, auch Rowohlt (2008), beschrieben, ein Buch, zu welchem mich die Kehlmann-Lektüre geführt hat. Man lernt darin Gauß nicht nur als überragenden Theoretiker, sondern auch als sehr praktisch veranlagten Menschen kennen, was ihn einigermaßen sympathisch macht. Über die Landvermessung oder die Vermessung der Planeten und vor allem der Kleinplaneten, die Gauß’ Ruf als Astronom begründete, lernt man viel mehr als bei Kehlmann.
Keine erfundenen Dialoge, sondern nur belegte Zitate in originaler Schreibweise. Leider ansonsten in deformierter Rechtschreibung, aber wenigstens schon in der letzten, abgemilderten Form. Die vielen sodass nerven immer noch sehr, genau wie die ständigen Apostrophe und die ausschließliche Großschreibung bei von Namen abgeleiteten Adjektiven („die Kepler’schen Träume“, „den Ritter’schen Gesprächkreis“, „Gauß’schen Stil“ usw.).

Es scheint jetzt so zu sein, als ob viele glauben, man „dürfe“ diese Adjektive nur noch groß und mit Apostroph schreiben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.09.2009 um 14.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#14990

Der Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung bringt heute ein Foto, auf dem man angeblich Wilhelm von Humboldt sieht, wie er in Marmor vor der Berliner Humboldt-Universität sitzt. Dargestellt ist aber Alexander.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.10.2012 um 05.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#21772

Die Verfilmung von Kehlmanns Buch wird in den Feuilletons stark kritisiert. Tilman Krause meint in der "Welt", der Filme werfe auch ein ungünstiges Licht auf die Vorlage, immerhin hat Kehlmann selbst am Drehbuch mitgearbeitet. Es ist eben eine alte Einsicht, daß ein Kluger sich dumm stellen kann, aber nicht umgekehrt. Schade, daß vor allem Gauß durch Buch und Film im Bewußtsein der heutigen Menschen so verzwergt fortlebt. Die Sache wird den Deutschunterricht eine Zeitlang beleben, aber den MINT-Bemühungen schaden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.10.2012 um 12.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#21780

Die Rezensenten sind sich weitgehend einig, daß die Verfilmung Kehlmanns Roman „versemmelt“ hat (Tilman Krause in der „Welt“). Wenn da nicht die ärgerliche Tatsache wäre, daß Kehlmann am Drehbuch mitgearbeitet hat und den Film, in dem er selbst auftritt, offensichtlich gut findet. Da bleibt nur die Philologenausflucht, daß Kehlmann sein eigenes Buch nicht verstanden habe, jedenfalls nicht so gut wie die Schar der Interpreten. (Andreas Kilb schwärmt in der FAZ immer noch vom Buch, wenn auch nicht vom Film. Besonders komisch wird im „Spiegel“ versucht, Kehlmann gegen sich selbst in Schutz zu nehmen.) Ich fand damals, daß Kehlmann es schlau und in Maßen auch talentiert angestellt hat, aber begeistert war ich nicht. Der Film könnte auch zeigen, daß Kehlmann überschätzt wird.
„Alle bewegen sich naiv, geradezu einfältig, so wie Marionetten von der Reservebank der Augsburger Puppenkiste. Das sollen große Geister gewesen sein? Nie und nimmer.“ (Deutschlandradio) Das konnte man vom Buch aber auch schon sagen. Um die Größe fürs Publikum ironisch zu verkleinern, müßte man sie erst einmal begriffen haben. Bei Humboldt bleiben immerhin die Strapazen, aber schon bei Gauß versagt die Darstellung, weil die Wunderwelt der Mathematik für einen Roman nicht geeignet ist, und eine grundsätzlich andere Zugangsweise ist Kehlmann nicht eingefallen. So bleibt der Spaß besonders an Gauß schal. Aber das ist natürlich Geschmackssache. Ich selbst neige dazu, die großen Leistungen der exakteren Wissenschaftler wirklich tief zu bewundern, auch wenn ich inhaltlich nicht folgen kann. „Wie isses nu bloß möglich!“ – so etwas entfährt mir gewissermaßen innerlich, und ich bemerke, während ich dies notiere, daß ich so etwas ab und zu brauche und deshalb auch „Max Planck Forschung“ u. ä. von vorn bis hinten durchlese. (Es geht mir so ähnlich wie Mörike mit seinem berühmten Rettich ...)

Naturwissenschaftler und Mathematiker sind keineswegs von vornherein unmusische Menschen, wenn sie auch vielleicht im Durchschnitt mehr zur Musik neigen und bei Romanen leicht die Geduld verlieren. Ich habe aber aus vielen Reaktionen den Eindruck, daß sie mit Kehlmann nicht so glücklich sind wie andere Leute; daß irgendein Mathematiker oder Physiker sich an der Gauß-Karikatur erfreuen kann, kann ich mir auch kaum vorstellen. Aber es gibt natürlich ein viel breiteres Publikum, das Gelehrte grundsätzlich kauzig findet und an entsprechenden Darstellungen viel Spaß hat.

Viele Rezensenten behaupten, Kehlmanns Roman „lustig“ zu finden. „Kehlmann kann mit der historischen Wahrheit machen, was er will, denn es geht nicht um Daten, sondern um innere Wahrheiten in seinem Roman und um Sprache, vor allem um die. Die ‚Vermessung der Welt‘ ist auch ein Sprachspiel, das seine Komik aus der indirekten Rede zieht, aus ihrem referierenden, pseudoverbindlichen Ton, der oft eine Seriosität vorgaukelt, die der schnöden Realität abgeht. Das macht ihn wahnsinnig lustig.“ (Berliner Morgenpost) Nur die Junge Welt mokiert sich über „das schrecklich amüsante Dauergrinsen von Kehlmanns Prosa“. Der Ruf des Amüsanten dürfte zum Verkaufserfolg beigetragen haben. Viele lesen aber auch nicht zu Ende, gerade weil es eben immer so weitergehen könnte und auf die Dauer „nervt“.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.07.2015 um 06.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#29559

Das Problem von Dokudramen usw., also der Fiktionalisierung von Geschichte, könnte man auch am Beispiel des gerade verstorbenen Dieter Kühn behandeln.
Ich bin aber gerade auf etwas anderes gestoßen, nachdem ich mir "Selma" angesehen hatte, mit verhältnismäßig guten geschichtlichen Vorkenntnissen. Wikipedia berichtet zu den (maßvollen) Vorhaltungen wegen einiger Unkorrektheiten:

Director DuVernay and US Representative John Lewis (whom the film portrays when a young man) responded separately that the film Selma is a work of art about the people of Selma, not a documentary. DuVernay said in an interview that she did not see herself as "a custodian of anyone's legacy". In response to criticisms that she rewrote history to portray her own agenda, DuVernay said that the movie is "not a documentary. I'm not a historian. I'm a storyteller". Lewis wrote in an op-ed for The Los Angeles Times: "We do not demand completeness of other historical dramas, so why is it required of this film?"

Das ist wieder das Dilemma: Was ist ein Storyteller, wenn die Story zugleich History ist? Was wird aus der "Lehre" (der Film wird Schulen ans Herz gelegt), wenn sich der Urheber auf künstlerische Freiheit zurückzieht, sobald es an die Tatsachenfrage geht? Wie sind die Originalaufnahmen kurz vor Schluß einzuordnen? Alles nur "künstlerische Freiheit"?

Ich kritisiere den Film gar nicht, darum geht es mir nicht, auch wenn zum großen Teil nur die Versatzstücke des Kinos aneinandergereiht werden, um die Pausen zwischen den Aktionen zu füllen. Das ist ganz allgemein der Grund, warum ich praktisch nie ins Kino gehe und auch kein Fernsehen will. Wie oft hat man das schon gesehen: das Ehepaar allein in der Wohnung, die Frau konfrontiert den Mann mit seinen Seitensprüngen, bedeutsame Blicke usw. Wahrscheinlich werden diese Nummern auf Schauspielschulen gelernt, und der geübte Zuschauer hält es für das wirkliche Leben.
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 28.07.2015 um 09.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#29561

Fiktionalisierung von Geschichte (#29559): «Alles nur "künstlerische Freiheit"?» Völlig berechtigte Frage! Aber so es es nun einmal. Ja, und auch die rein wissenschaftlichen geschichtlichen Untersuchungen, zu denen Ickler vor kurzem mal den Kommentar abgab, daß Amerikaner oft interessanter schrieben als vielleicht unsere Historiker, sie hätten es eben besser gelernt in ihrer Laufbahn als Historiker. Aber da haben wir Wallenstein, Mutter Courage, den Stellvertreter, Valkyrie, zu welch letzterem erst die Zeitungen (www.telegraph.co.uk/culture/film/3558716/Claus-von-Stauffenberg-the-true-story-behind-the-film-Valkyrie-starring-Tom-Cruise.html) also den genauen geschichtlichen Ablauf nachzutragen versuchen. (Aber was wissen die Zeitungen denn? fragen wir uns ja auch oft zu Recht.) Da gibt's eben nur das, was wir auf der Leinwand oder der Bühne sehen oder im Buche lesen. Was wirklich war, war nur damals.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.07.2015 um 12.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#29562

Wenn Historiker Biographien schreiben, müssen sie erzählen und damit notwendigerweise Fleisch zu den Knochen hinzufügen und Sinn geben, wo vielleicht keiner oder ein anderer war. Aber trotzdem kann man mit ihnen wissenschaftlich streiten und argumentieren, während das bei der Fiktionalisierung unmöglich ist. Eine gelungene Geschichte ist eben nicht unbedingt eine wahre Geschichte.

Man hat gesagt, von keinem Menschen der Antike sei so viel bekannt wie von Cicero, natürlich wegen der Briefe. Aber ist deshalb die Person unumstritten? Natürlich nicht. Aber man kann dran arbeiten wie an anderen historischen Gegenständen. Das Ergebnis ist kein Cicero-Roman und erst recht kein Film.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.11.2015 um 09.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#30588

Frank Holl stellt grundsätzlich in Frage, daß man durch Verdrehung der Tatsachen eine verborgene, tiefere oder höhere Wahrheit ans Licht bringen könne: http://www.uni-potsdam.de/romanistik/hin/hin25/holl.htm

Sehr richtig. Warum sollte ein Schriftsteller solche Weisheit besitzen, daß er sagen dürfte: Um so schlimmer für die Tatsachen!

„Im Grunde ist Die Vermessung der Welt ein antiaufklärerisches Buch. Im besten Fall ist es nicht mehr als ein sinnfreier historischer Spaß. Dieser geht allerdings auf Kosten zweier Personen, die sich nicht mehr wehren können.“

Den Lesern gefällt's? Um so schlimmer für die Leser!
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 17.11.2015 um 09.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#30589

"Um so schlimmer für die Leser!“ Das muß ich unterstreichen. Ich habe mich nach der Lektüre sehr alt und gebrechlich gefühlt. Demnach war das zähe Elend der Figuren entweder besonders anschaulich oder besonders ermüdend. Viel „historischen Spaß“ hatte ich jedenfalls nicht.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 17.11.2015 um 10.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#30590

Kehlmann scheint seinen Alexander auch mit Elementen Wilhelms angereichert zu haben, um ihn abstoßender zu machen. Kern der ganzen Sache ist vermutlich der banale, halbstarke Haß auf das »typisch Deutsche«.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.10.2016 um 06.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#33610

Kehlmann schreibt übrigens seit etwa 2014 reformiert; ist mir erst jetzt aufgefallen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.10.2017 um 04.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#36491

Der neue Roman von Kehlmann ("Tyll") in Reformschreibung: Behändigkeit, rau usw.

Nicht lesen!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.11.2018 um 17.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1097#40173

Sehe zufällig, daß der Jurist und Amazon-Rezensent Lothar Müller-Güldemeister meine kritische Einstellung zu Kehlmann (und anderen) teilt:

"Das Buch beschränkt sich auf eine Aneinanderreihung von platten Anekdötchen und Histörchen über Gauss und Humboldt (ich hatte gehofft, er würde uns wenigstens nicht auch noch die Uraltgeschichte "5050" altklug als tolle Neuigkeit verkaufen), ohne sich den Persönlichkeiten als Menschen und ihren grandiosen Leistungen als Wissenschaftler jemals auch nur zu nähern. Das ganze bleibt darüberhinaus völlig pointenlos und ohne erzählerische Linie und somit ärgerlich und langweilig: Wissenschaftsgeschichte auf Spanner- und Schlüssellochkuckerniveau. Die Wikipedia-Einträge über Gauss und Humboldt sind lehrreicher und kurzweiliger als dieses Buch. Preise hat es nicht verdient."
 
 

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