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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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05.10.2006
 

In pädagogischer Verantwortung
Das hessische Kultusministerium rechtfertigt die „kleine Reparatur“

De mortuis nil nise bene – aber der mutmaßlich wirkliche Verfasser dieses vom Ministerialbeamten Günter Habedank unterzeichneten Schreibens lebt ja noch:


Hessisches Kultusministerium, Postfach 3160, 65021 Wiesbaden
VI A - 601/83 - 246 - Wiesbaden, im September 1997
Betr.: Neuregelung der deutschen Rechtschreibung; hier: Argumente für die Umsetzung
Bezug: Ihr Schreiben vom ...

Neuregelung der deutschen Rechtschreibung
- in zehn Punkten -

1. Die Rechtschreibreform ist eine kleine Reparatur der Orthographie.
Dabei wird der Geltungsbereich der Grundregeln etwas ausgedehnt. Einige Ausnahmen und Besonderheiten werden abgeschafft. Die Rechtschreibung wird insofern vereinfacht. Abbau von Oberreglementierungen und eines zu fein verästelten Regelwerks.
Beispiele: Bisher Auto fahren, aber: radfahren; neu: Rad fahren wie Auto fahren. Bisher: Nummer, aber numerieren; neu: nummerieren wie Nummer. Bisher: Nur in der Schweiz seit 1935 Bindewort "dass" mit zwei s, ab 1998 bzw. 2005 im ganzen Geltungsbereich der deutschen Schriftsprache.

2. Die Rechtschreibreform vermindert die Grundregeln und liberalisiert die Zeichensetzung, enthält Vereinfachungen bei der Silbentrennung, Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung.
Beispiele: Die bisherigen Rechtschreibregeln werden von 212 Duden-Regeln auf 112 verringert, die Komma-Regeln von 52 auf 9 - bei gleichzeitiger Freiheit, Kommas zur Satzgliederung nach eigenem Ermessen zu setzen. Bisher lu-stig, neu lus-tig (Trenne nie st, denn es tut ihm weh! Wieso? Regel aus dem Anfang des Jahrhunderts = Ligatur = Buchstabenverbindung auf einem Typenkörper, gegenwärtig nicht mehr notwendig.) Bisher Päd-ago-gik, künftig dürfen Fremdwörter auch nach der deutschen Silbentrennungsregel getrennt werden, also auch Pä-da-go-gik. Auch, also wer nicht will oder kann, läßt's bleiben = Liberalität als besonderer Zug der Neuregelung!

3. Das Änderungsvolumen der Neuregelung ist hervorhebenswert gering.
Nur 0,8 % des Wortschatzes sind betroffen; allerdings Wörter, deren Schreibweise besonders häufig zu Fehlern in der Schule führte. Hier ist erneut die Liberalisierung hervorzuheben. Unsere Schriftsprache wird für Varianten geöffnet. Beispiele: Es wird weder die Schreibvariante Spaghetti noch Spagetti künftig in der Schule als fehlerhaft angestrichen. Welche Variante sich durchsetzt, entscheidet die Sprachgemeinschaft durch Gebrauch. So war es auch mit Büro und Bureau in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Es wird künftig in der Schule weder Delphin noch Delfin als fehlerhaft angestrichen; ebenso Megaphon auch: Megafon; Bonbonniere auch: Bonboniere, Biographie auch Biografie. Von einem "Diktat" kann also keine Rede sein. Die alternativen Schreibweisen werden ungekürzt an die Schülerinnen und Schüler weitergegeben.

4. Der Geltungsbereich der Rechtschreibreform ist optimal durch Übereinstimmung (Konsens) gesichert.
Die Wiener Vereinbarung wurde von den deutschsprachigen Staaten (4 = D, A, Ch und Liechtenstein) und Ländern mit deutschsprachigen Minderheiten (4 = Belgien, Italien-Südtirol, Rumänien, Ungarn) unterzeichnet. Es wird also keine niedersächsische, hessische oder sächsische Rechtschreibung an den Schulen geben, sondern die bisherige, international geltende, nunmehr rechtschreibreformierte. Zu den wesentlichen Besonderheiten der Rechtschreibreform gehört, daß sie auf einem zwischenstaatlichen Konsens beruht. Die einheitliche Rechtschreibung im deutschen Sprachgebiet gibt es erst seit ca. 100 Jahren (im Juni 1901 Rechtschreibkonferenz in Berlin) - nach einer fast tausendjährigen Vorgeschichte bzw. Entwicklung, intensiviert ab ca. 1500. Auch 1903 (1901) traf die Reform (Thür, Thor; daß st nicht getrennt wurde, setzte die Druckindustrie durch, die diese Buchstaben als untrennbare Verbindung = Ligatur auf einer Drucktype in ihren Setzkästen hatte) auf viele Widerstände. Und auch Kaiser Wilhelm II. sprach sich zunächst gegen die neuen Regeln im Schriftverkehr der Behörden aus, gab aber im Juni 1902 dann doch sein Einverständnis. Können die Gegner so liberal wie Kaiser Wilhelm sein?

5. Die Rechtschreibreform betrifft nur wenige Regelungen der Schriftsprache.
Es ist den Reformern gelungen, das Minimum an Regelungen herauszufinden, das zugleich ein Optimum an Korrekturen leistet. Die Gegner suggerieren immer wieder, unsere Sprache sei betroffen. Das ist eine Fälschung. Betroffen ist ein kleiner Ausschnitt der Orthographie unserer Schriftsprache. Also betroffen ist weder die gesprochene Sprache der Medien, noch die Umgangssprache, noch die Muttersprache. Betroffen sind weder die Dialekte noch die Fachsprachen (z.B. der Mediziner oder Juristen) noch das Schwyzerdütsch, reformiert wird einzig und allein an einigen wenigen Stellen das richtige Schreiben der deutschen Schriftsprache. Die Änderungen betreffen nicht die Bedeutung der Wörter bzw. der Sprache. Deshalb verändert sich auch nicht der Inhalt oder Sinn der Texte.

6. Die Reform gilt wie am Anfang dieses Jahrhunderts für Schulen und Behörden.
Die Schulen haben - wie sich das für Pädagogen gehört - schrittweise begonnen, die Behörden folgen 1998. Aber kein einziges Formular muß neu gedruckt werden. Die Übergangszeit dauert bis 2005. Zeiten mit Oberlappungen hat es wiederholt gegeben. So gibt es z.B. heute noch Schreiber(innen), die die Sütterlin-Schrift gelernt haben und benutzen. Die Sütterlin-Schrift war 1935 bis 1941 an deutschen Grundschulen eingeführt und gilt heute als veraltet. Auch nach den jeweiligen Duden-Neuauflagen wurde kein einziges Werk eines Schriftstellers neu gedruckt. Alle Bestände der Bibliotheken blieben und bleiben erhalten. Geändert wurden die neu anzuschaffenden Schulbücher, besonders die deutschen Sprachbücher. Nicht mehr und nicht weniger ist Ziel; und - das haben wir überprüft - das ergibt Preissteigerungen von 3 bis 5 % zu Beginn des nächsten Schuljahres. Hier sind wir also bei einer weiteren Fälschung, nämlich von angeblichen Milliarden Kosten.

7. Die Lüge von tausenden Unterschiedschreibungen zwischen Wörterbüchern.
Zu den Lügen und Fälschungen der Gegner gehören
- das Märchen von den Milliarden Kosten (eine neue Textil- oder Schuhmode kostet auch viele Millionen, aber der einzelne zahlt nur ein paar Mark mehr als bisher.) Wie unter 6. dargestellt: Das Land Hessen bzw. der einzelne zahlt für rechtschreibreformierte Schulbücher 3 bis 5 % mehr. Das entspricht den Preissteigerungen der letzten Jahre ohne Rechtschreibreform.
- das Märchen von der Veränderung der Werke deutscher Schriftsteller (Kein einziges Werk eines Schriftstellers braucht wegen der Rechtschreibreform geändert zu werden!) Werden sie geändert, bleibt der Sinn unverändert erhalten (vgl. "Woche").
- die Lüge von tausenden von unterschiedlichen Schreibweisen. Tatsächlich liegt die Zahl der Abweichungen zwischen den Wörterbüchern z.B. bei dem Buchstaben H bei 36. Vergleicht man zwei frühere Wörterbücher (also: bisherige Schreibweisen), ergeben sich dreißig Abweichungen voneinander. Die meisten Abweichungen ergeben sich dadurch, daß unterschiedliche, aber zulässige Varianten - z.B. der Trennung - angegeben werden.

8. Zur Rechtschreibreform gehört die Einrichtung einer Kommission für die deutsche Rechtschreibung.
Geschäftsstelle beim Institut für deutsche Sprache in Mannheim. Die Kommission wirkt auf die Wahrung einer einheitlichen Rechtschreibung bei den Benutzern der deutschen Schriftsprache hin. In der Kommission arbeiten Experten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Kommission begleitet die Einführung der Neuregelung und beobachtet die künftige Entwicklung der Schriftsprache. Das bedeutet, die Kommission kann nach zehn, zwanzig oder dreißig Jahren zu dem Ergebnis gelangen, daß manche Liberalisierung der Zeichensetzung zu festen Regeln und manche Variantenschreibung von Fremdwörtern auf eine Schreibweise zurückgeführt werden kann (z.B. Büro). Die Kommission arbeitet u.a. mit Wörterbuch-Redaktionen zusammen.

9. Durch die Rechtschreibreform sind weder Grundrechte noch Elternrechte, noch andere Rechte berührt.
Welches Recht kann denn ernsthaft davon betroffen sein, daß in den Schulen - wie in der Schweiz seit 1935 - die Konjunktion dass mit zwei s geschrieben wird? Welches Recht kann ernsthaft davon berührt sein, wenn in Briefentwürfen in der Schule die Anrede-Pronomina du, dein, dich usw. nicht mehr als fehlerhaft angestrichen werden, wenn sie klein geschrieben sind? Die Rechtschreibreform war in fünfzehn Landtagen z.T. mehrfach Beratungs- und Befassungsgegenstand, ohne daß auch nur ein Landtag es für notwendig gehalten hat, eine gesetzliche Grundlage für die Einführung der Neuregelung in den Schulen zu schaffen. Gesetzliche Regelungen und Prozesse um Rechtschreibregeln hat es während der gesamten Sprachgeschichte bisher nicht gegeben.

10. Die Länder haben - in pädagogischer Verantwortung und auf der Grundlage des Beschlusses der KMK - die Rechtschreibreform an den Schulen eingeführt.
Die in den Ländern etwas unterschiedlichen Verfahren sind allerdings völlig identisch in der Sache. Die Grundschulen in NRW wurden zu 97 % eingeführt, im übrigen kann von 90 % ausgegangen werden. Die Einführung verläuft in den Grundschulen problemlos - von Bayern bis Schleswig-Holstein. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten erfolgreich mit den neuen Regeln. Sie machen weniger Fehler. Alle Lehrerverbände und der Verband der Schulbuchverleger unterstützen die Reform. Den Schülerinnen und Schülern ist nicht zuzumuten, im Unterricht weiterhin Schreibregeln zu lernen, die in absehbarer Zeit keine oder eine veränderte Geltung haben werden. Beispiel: S-Schreibung. So viel ist zweifelsfrei: eine Rückkehr zur bisherigen Rechtschreibung würde größeren pädagogischen Schaden anrichten als die Fortsetzung der bewährten Einführung.

Habedank



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Kommentare zu »In pädagogischer Verantwortung«
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Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 07.10.2006 um 13.43 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=652#5802

Wer hatte den Mut, das Wort Verantwortung in der Diskussion zu verwenden, wenn auch eingeschränkt auf pädagogische solche? Vorsicht ist geboten, denn über dieses Wort könnte sich der Gedanke einschleichen, nach der Verantwortung der die Graphie deformierenden Reformer und ihrer staatsmachtlichen Helfer zu fragen.
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 07.10.2006 um 13.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=652#5801

Super!

"Es ist den Reformern gelungen, das Minimum an Regeln herauszufinden, das zugleich ein Optimum an Korrekturen leistet." Ist das nicht wunderbar? Dazu noch der Vergleich mit einer neuen Schuh- und Textilmode, was die Kosten angeht. (Wer hat denn dem Herrn H. das alles aufgeschrieben?)
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 07.10.2006 um 13.04 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=652#5799

Wie vermindert man eigentlich (Grund)regeln. Sind Regeln ein verminderbarer Gegenstand? Wir sind wieder beim sprachlichen Unvermögen, diesmal dem ministerieller Texter.
 
 

Kommentar von Lost, verfaßt am 06.10.2006 um 11.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=652#5783

Wenn ich mich recht erinnere, wurde die Reform seinerzeit beschlossen, um die Rechtschreibfehler der geplagten Schüler signifikant zu reduzieren. Natürlich gab es noch andere offizielle und inoffizielle Begründungen, aber der pädagogische Faktor wurde stets besonders betont.

Gleichzeitig beschwichtigte man die Reformgegner regelmäßig mit der Behauptung, daß das "Änderungsvolumen" der Reform sehr gering sei.

Wie soll eine Reform, deren "Änderungsvolumen" sehr gering ist, zu einer signifikanten Reduzierung der Rechtschreibfehler führen?

Warum wird eine Reform, die angeblich kaum zu Veränderungen führt, mit einem derart großen administrativen Aufwand betrieben und verteidigt?

Warum mußten Schulbibliotheken Bücher aussondern (d.h. wegwerfen), wenn die Veränderungen doch nur marginal sind?
 
 

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