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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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30.03.2006
 

Noch mal zum ss
Im Februar 2005 ließ die österreichische Unterrichtsministerin 500 Lehrer befragen

Die etwas undurchsichtige Untersuchung ergab, daß 73 bzw. 93 Prozent die neue ss-Schreibung positiv bewerten bzw. für eine Erleichterung halten.
Andererseits zeigen alle Untersuchungen (Marx) und Erfahrungen, daß in diesem Bereich jetzt mehr Fehler gemacht werden, auch von Erwachsenen. Der häufigste Einzelfehler (das/dass/daß) ist von der Reform gar nicht betroffen.
Die Auflösung dieses Rätsels dürfte so aussehen: Die Lehrer, die ja meist keine besondere orthographische Ausbildung genossen haben, finden die reformerische Erklärung der s-Schreibung logisch und einfach, was sie ja auch ist (vor allem, wenn man die Ausnahmen beiseite läßt). Die Sache mit den kurzen und langen Silben läßt sich leicht vermitteln, und darüber sind nicht nur Lehrer glücklich, sondern auch viele andere, zum Beispiel Journalisten, finden das durchaus attraktiv. Die traditionelle s-Schreibung wird gern als schwierig und ausnahmehaft dargestellt.
Etwas ganz anderes ist die Umsetzung in der Schreibpraxis. Haben sich die befragten Lehrer einmal darüber Gedanken gemacht, warum die "einfache" Erklärung, die sie jetzt zur Hand haben, sich nicht in fehlerfreien Texten niederschlägt?



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Kommentare zu »Noch mal zum ss«
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Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 13.08.2021 um 21.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#46825

Ja, natürlich, nach alt kann nur ß stehen, neu verlangt jedoch ganz klar ss.

Davon abgesehen, wenn schon Mess statt Messe, dann sollte es eigentlich nach der hiesigen Mundart auch Mannemer statt Mannheimer heißen.
 
 

Kommentar von Christof Schardt, verfaßt am 13.08.2021 um 14.08 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#46824

Interessant erscheint mir dabei, daß von den Meßplätzen der "Alte" seinen Namen verteidigen kann und der "Neue" zwangsreformiert wird. Zufall oder spielt Freud mit?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 13.08.2021 um 12.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#46823

Mannheimer Morgen, 13.8.21, S. 33 (Hervorhebungen von mir):

Der [Stadtteil Neckarstadt-Ost] erstreckt sich vom Alten Meßplatz, entlang der Waldhofstraße bis runter zum Neuen Messplatz vorbei am Herzogenriedpark bis hin zur Friedrich-Ebert-Brücke und wieder zurück.

Am besten überblicken lässt sich das alles oben auf dem Riesenrad, das zweimal im Jahr mit der Mannheimer Mess auf dem Neuen Messplatz aufgebaut wird.

An der Stelle des heutigen Alten Meßplatzes in der Neckarstadt-Ost war bis Ende des 18. Jahrhunderts die Neckarschanze als Vorwerk, um die Brücke vor Angriffen zu sichern.

Laut amtlichem Mannheimer Straßenverzeichnis wurde weder der Alte noch der Neue Meßplatz nach der RSR umbenannt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.08.2020 um 04.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#44067

die Erkenntnis, das die Welt eben mehr ist

ohne das es jemand merkt

ein Bisschen


(alles aus demselben Beitrag in der SZ 8.8.20)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.01.2020 um 17.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#42707

„Der Vorschlag, die Konjunktion daß künftig das zu schreiben, fand trotz guter Argumente keine Zustimmung. Die Schreibung dass bedeutet keine Erleichterung und wird dafür sorgen, dass dieses Wort weiterhin mit weitem Abstand auf Platz 1 der Fehlerhitliste rangiert.“ (Burkhard Schaeder in ders., Hg.: Neuregelung der deutschen Rechtschreibung: Beiträge zu ihrer Geschichte, Diskussion und Umsetzung. Frankfurt 1999:45)

Früher war die Fehlschreibung Wenigschreibern und Anfängern vorbehalten, heute findet man sie in jeder Zeitung, Hunderte von Belegen allein aus der FAZ sind gesammelt worden.

Übrigens steht es ja, wie wir oft hören mußten, jedermann frei zu schreiben, wie er will. Warum halten sich alle Reformer an die von ihnen mißbilligte Schreibung? Mentrup, der Vertreter der Einheitsschreibung, hat es gelegentlich damit versucht, aber nicht lange.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 15.10.2019 um 20.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#42243

Partei droht die innere Zerreisprobe
...
Zugleich droht die Spaltung [...]
(MM, 15.10.19, S. 2)

Ja, spalten schreibt sich zumindest leichter als zerreißen.
Nebenbei, nach der Überschrift hätte es eigentlich heißen müssen:
Zugleich droht die Spaltungsprobe [...]
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.06.2019 um 06.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#41658

In einer Rezension zu Benjamin Libet in „Cicero“ schrieb R. D. Precht durchgehend Mess-Ergebnisse. Meßergebnisse wäre auch ohne den unbeholfenen Bindestrich gut lesbar geblieben. - Man denkt bei jedem Vorkommen: Aha, das macht er wegen der Neuregelung...
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.10.2013 um 05.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#24248

Strukturalistisch läßt sich begründen, daß die Gespanntheit und nicht die Länge das wesentliche Unterscheidungsmerkmal deutscher Vokale ist. Für Sprecher und Hörer aber nicht! Deshalb bin ich immer dafür gewesen, im Unterricht des Deutschen als Fremdsprache die langen Vokale zunächst überlang zu sprechen, weil damit kein Schaden entstehen kann, bloß eine gewisse Emphase, während der umgekehrte Fehler, die zu kurze Aussprache (Pollen statt Polen) einen großen Teil der Deutschlerner befällt und überhaupt die häufigste Ursache für einen sehr hartnäckigen, fast gar nicht korrigierbaren "ausländischen Akzent" ist.

Mir fiel das wieder einmal ein, als ich die Schreibweise gaaaanz groß las, mit der man eine emphatisch gedehnte Aussprache imitieren möchte. Es sieht nicht überzeugend aus. Freilich kommt es vor, aber in solchen Fällen greift man eher zu lauteren als zu längeren Tönen.
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 11.10.2006 um 19.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#5836

Es ist immer nützlich, wenn sich hier einmal ein Schulpraktiker zu Wort meldet. - Man kann die Rechtschreibreform an ihrem eigenen Anspruch wie auch an der herkömmlichen Orthographie messen. Zwei Kriterien stehen dabei im Vordergrund: 1. Hat die Reform das Erlernen und Beherrschen der deutschen Rechtschreibung leichter bzw. sicherer gemacht? (Dies war das erklärte Ziel der Reformer)
2. Welche (unbeabsichtigten) Nebenwirkungen sind an der aktuellen Rechtschreibung zu beobachten? Ist sie besser geworden (wie immer man die Qualität definieren mag)? Wie kommen diejenigen zurecht, die schon richtig schreiben konnten? -
Aus der Schule hört man bis jetzt nichts von einer nennenswerten Erleichterung für die Schüler. Eher das Gegenteil. Herr Tholen führt einen Fehler an, der außerhalb der Reichweite jeder Reform liegt. Zu diesem Genre dürfte heute die Mehrzahl aller von Schülern gemachten Fehler gehören. Das kommt auch daher, daß der Reform kein empirischer Befund über Art und Zahl typischer Schreibfehler zugrunde lag, sondern "einfach drauflosreformiert" wurde. Die Nebenwirkungen ("Kollateralschäden") der Reform treten uns täglich vor Augen, von der Presse bis zu amtlichen Schriftstücken. - Übrigens sagt die Leichtverständlichkeit einer Regel nichts über ihre praktische Brauchbarkeit. Entscheidend ist allein die Umsetzung in die Praxis. Rechtschreibung (mehr ein Können als ein Wissen) primär in Form von Regeln vermitteln zu wollen, ist der fundamentale Irrtum der Reformer.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 11.10.2006 um 12.01 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#5834

Norbert Tholen argumentiert nicht sachlich mit seinem Hinweis auf die fatalen Schreibfertigkeiten seiner 13. Klasse. Ob diese bei anderem Unterricht und ohne die Reform noch schlechter oder mit weniger/mehr Regeln besser wären, ist weder beleg- noch beweisbar.
 
 

Kommentar von Norbert Tholen, verfaßt am 11.10.2006 um 09.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#5832

Lieber Herr Ickler,

Ihre Argumentation ist fatal, weil sie zwei Dinge vermischt:
1. Was ist als Regel leicht verständlich?
2. Warum werden Fehler in der der Rechtschreibung gemacht?
Wenn Fehler gemacht werden, obwohl die Regel leicht verständlich ist, ist das kein Grund, sie abzuschaffen. Sie kämpfen (ziemlich verbissen) an der Regelfront, ich kämpfe als Deutschlehrer an der Fehlerfront - ich könnte Ihnen Beispiele (aus der letzten Klausur meines Kurses in Kl. 13 des Gymnasiums) liefern, da fiele Ihnen nichts mehr ein: "Er nennt ihn einen Toten man." Sollen wir wegen solcher Fehler (Fall 2.) die Großschreibung (Fall 1.) abschaffen?
Freundlichen Gruß, Norbert Tholen
 
 

Kommentar von Fortsetzung, verfaßt am 21.04.2006 um 19.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3908

bitte hier.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.04.2006 um 06.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3897

Meine unfanatische Haltung gegenüber der s-Schreibung ist schon mehrmals anerkannt worden. Heyse beseitigt in der Tat eine Unregelmäßigkeit, wenn man nämlich, wie ich es im "Schildbürgerstreich" gutmütigerweise getan habe, eine bestimmte Sicht der Doppelkonsonantenschreibung zugrunde legt. Sieht man im ß eine Ligatur mit zwei Verwendungsweisen (scharfes s und andererseits Gelenkschreibung in Nichtgelenkposition), bleibt immer noch eine gewisse Unregelmäßigkeit, was aber nicht heißt, daß man sie beseitigen müsse, denn es gibt noch andere Gesichtspunkte, die vielleicht wichtiger sind.
Viele von uns haben den Eindruck, daß Heyse zu mehr Fehlern führt und auch weniger lesefreundlich ist. Ich selbst bin fest überzeugt, daß es so ist, und habe auch mögliche Ursachen angegeben, besonders für die Diphthonge. Aber Beweise sind schwer zu bringen und können jederzeit mit dem Hinweis auf Übergangsschwierigkeiten heruntergeredet werden. Deshalb bringt die Diskussion nicht viel. Marx mußte ich gelegentlich erwähnen, weil es so wenige Untersuchungen zur neuen RS gibt.
Für mich ist das Aufgesetzte, Nachträgliche der so folgenreichen Änderung wichtiger; ich kann einfach nicht vergessen, mit welcher Heftigkeit sich Mentrup und andere für die Einheitsschreibung "das" ins Zeug gelegt haben und keineswegs für Heyse. Man bedenke auch die widersprüchliche, undurchdachte Argumentation von Schaeder und schließlich den Rückzug von Augst auf die Forderung, 25 Wörter mit ß auswendig lernen zu lassen! Wie wurde Heyse derart aufgeladen - angesichts dieser Randständigkeit im gesamten Hergang der RSR? Heute gilt ein Text ja als reformiert, wenn er das ss enthält und sonst nichts. Das müßte noch erforscht werden.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 21.04.2006 um 04.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3896

"Diese kleine Unregelmäßigkeit wird nun beseitigt. Dagegen ist natürlich nichts zu sagen, aber es bringt auch nicht viel."

Zu Herrn Achenbach: Die Darstellung von Professor Ickler ist klar und angenehm zu lesen und taugt in diesem Sinn zur Versachlichung. Aber was heißt "Versachlichung"? Wenn man sich als glühender Gegner der Reform präsentiert und zig Gründe gegen sie auflistet (wie Herr Salzburg oder ich selbst), hat man gerade "sachlich" recht, aber etwa als Buchautor verhindert man damit eine Verständigung mit jenen, die nicht sowieso schon auf derselben Seite stehen. Es ist daher "sachdienlicher", die Schärfe des eigenen Urteils zu verschweigen und zum Beispiel einen freundlichen, humorvollen Ton anzuschlagen, obwohl man mit einer solchen Verharmlosung gerade in rein sachlicher Hinsicht falsch liegt.

Beispielsweise hat Professor Ickler meistens geschrieben, daß sich an der Schwierigkeit, das und daß zu unterscheiden (bzw. nach der Reform das und dass zu unterscheiden), nichts geändert habe. Ich habe immer geschrieben, daß diese Unterscheidung viel, viel schwieriger geworden ist, was man an einer Zunahme der Fehler etwa um eine Größenordnung (!) ablesen könne. Meine Darstellung ist sachlich richtiger, aber die Formulierungen von Professor Ickler sind sachdienlicher, weil sie nicht so fanatisch aussehen, und taugen deshalb besser zur "Versachlichung" der Debatte. Eher selten hat Professor Ickler diesen speziellen Fall präzise dargestellt, zum Beispiel: daß man heute kaum noch eine Zeitung lesen kann, ohne auf diese Verwechslung zu stoßen, während es früher selbstverständlich war, daß Zeitungen die Unterscheidung von das und daß beherrschten. Trotzdem hat Professor Ickler immer besser geschrieben als ich, auch dieses Thema betreffend. Man muß in Rechnung stellen, wozu und zu welchem Zweck man überhaupt schreibt. (Das oben angeführte Zitat halte ich aber für grenzwertig, vor allem wenn es isoliert gelesen wird.)

Zur Versachlichung möchte ich noch auf folgendes hinweisen. Es geht darum, warum die Schreibung im Bereich s/ss/ß grundsätzlich schwieriger ist als bei anderen Konsonanten, so daß die Schreibgemeinschaft eine Regel besonders gut brauchen kann, die einfach anzuwenden ist, und nicht unbedingt eine Regel, die in theoretischer Hinsicht vielleicht besser einleuchtet.

Die Schreibung der s-Laute wäre ebenso einfach wie die Schreibung anderer Konsonanten, wenn der stimmhafte s-Laut und der stimmlose s-Laut einander ebenso gut unterscheidbar gegenüberstehen würden wie etwa d und t oder w und f; und wenn es dann noch dasselbe einheitliche Muster der Laut-Buchstaben-Beziehung gäbe wie bei den anderen Konsonsanten: einfacher Buchstabe wie bei Nadel und Meter, Doppelbuchstabe wie bei Paddel und Wetter. Also beim s-Laut: s und ss für den stimmhaften Laut, ß und ßß für den stimmlosen Laut. Das wäre einfach! Das wäre die Lösung.

Beide Bedingungen sind aber nicht erfüllt. Der stimmhafte s-Laut und der stimmlose s-Laut sind nur sehr schlecht unterscheidbar und für viele Sprachteilhaber überhaupt nicht unterscheidbar. (Ich selbst wurde erst etwa mit 15 Jahren darauf gestoßen, daß es überhaupt einen stimmhaften s-Laut gibt.) Der stimmhafte s-Laut existiert nicht in intensivierter Form, außer in Dialekten ("Hessen").

Entsprechend unregelmäßig ist nun in jedem Fall die Schreibung (mit oder ohne Reform): s kann den stimmlosen oder den stimmhaften Laut anzeigen. Für den stimmlosen Laut kann s oder ß oder ss stehen. Für den stimmhaften Laut steht immer s, aber ss zeigt gerade einen besonders intensiven stimmlosen Laut an und nicht einen besonders deutlichen stimmhaften Laut – dieser existiert nämlich gar nicht. Zudem ist s ein überaus häufiger Laut, der sich in sehr vielen Positionen und Kombinationen verwenden läßt.

Aufgrund dieser grundsätzlichen erheblichen Unregelmäßigkeit, die phonetisch vorgegeben ist, wirkt die Schreibung dieser Laute in jedem Fall ebenfalls unregelmäßig oder "unlogisch". Bei einer phonetisch orientierten Regelung der Schreibung (also bei der reformierten s-Schreibung) ist keineswegs derselbe Erfolg zu erwarten wie bei den anderen Konsonanten, denn die Phonetik ist beim s-Laut selbst schon schlecht differenziert und unregelmäßig, also "unlogisch". Es ist ganz besonders darauf zu achten, wie gut sich die Schreibregel in der Praxis anwenden läßt, und zwar von der Sprachgemeinschaft insgesamt.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 21.04.2006 um 04.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3895

Lieber Herr Fleischhauer, ich kann Sie bestätigen, daß ich Sie als Sündenbock für alle Reformfreunde verwendet habe. Ich wollte demonstrieren, daß so jemand wie Sie (Kennzeichen: interessierte Aufgeschlossenheit für die reformierte Handhabung der ss/ß-Schreibung) gegen die Argumente eines Gegners der ss/ß-Reform keine Chance hat. Nachdem Sie aber meinen Breitseiten überstanden haben und sogar fair und freundlich bleiben, muß ich einräumen, daß mir die Munition ausgeht, obwohl Herr Salzburg nicht weniger als dreißig Gründe gegen die ss/ß-Reform gesammelt hat.

Ich bestätige aus meiner Sicht auch, daß Kratzbaum recht hat: Ein wirklich hieb- und stichfester empirischer Nachweis, daß die neue ss/ß-Regelung automatisch zu mehr Fehlern führt, ist nicht möglich. Wir vergleichen immer die ungestörte ss/ß-Schreibung vor der Reform mit einer reformierten Praxis, bei der sich der Umlernprozeß und die Uneinheitlichkeit der Rechtschreibung störend auswirken. Ein Ende dieser systematischen Verzerrung ist nicht abzusehen. Wir sind daher strenggenommen auf Mutmaßungen (Theorien) angewiesen und können aus der Praxis Rückschlüsse nur mit Vorbehalten ziehen.

Ich selbst favorisiere wie Sie einen Vergleich der Fehlerträchtigkeit der neuen ss/ß-Schreibung (unter diesen erschwerten Bedingungen) mit der Fehlerträchtigkeit anderer Bereiche der Reform (unter denselben erschwerten Bedingungen). Ich plädiere auch dafür, wie Herr Markner, daß man vorzugsweise unredigierte Texte heranziehen sollte. Dabei ist unbedingt zu beachten, daß man regelmäßig einige wichtige Faktoren nicht kennt: Wieviel bewußte Sorgfalt verwendet der Schreiber? Nutzt er teilweise Rechtschreibhilfen? Was und wie hat er bisher gelernt? Bekommt er ab und zu Rückmeldungen durch einen Korrektor oder regelmäßig durch ein Korrekturprogramm? Welche Texte liest er, ist er von wechselnden Schreibungen zum Beispiel in seinem E-Mail-Verkehr beeinflußt?

Trotz dieser Schwierigkeiten meine ich, daß man bei einiger Erfahrung wegen der Eindeutigkeit des Gesamtbefundes zu dem Ergebnis gelangen müßte, daß die neue ss/ß-Regelung derart fehleranfällig ist, daß man auf eine grundsätzlich höhere Schwierigkeit im Vergleich zur ss/ß-Schreibung vor der Reform schließen muß. Ein vorläufiges Ergebnis, von dem bis zum Beweis des Gegenteils auszugehen ist. Dieses Zwischenergebnis leuchtet mir auch mit Hilfe meiner eher theoretischen Überlegungen ein, nach denen ich die permanente Beurteilung der Vokallängen (für den Schreiber erforderlich nach der Reform) für schwieriger halte als die Erfassung der Silbenstruktur (notwendig vor der Reform).

Ich ordne mich hier aufgrund meiner beruflichen Erfahrung als einer von vielen möglichen Gewährsleuten ein. Nach meinem Eindruck gelangen die meisten anderen Lektoren und Korrektoren zu demselben Ergebnis, so daß ich mich als Vertreter der empirisch orientierten Fachleute begreife. Aus dieser Perspektive sage ich: Es ist sehr wahrscheinlich, es ist nahezu sicher, daß die neue ss/ß-Regelung – und damit die Reform insgesamt – auf Dauer mehr Fehler produziert als die Rechtschreibung vor der Reform. Allein aus diesem Grund muß man die Reform ablehnen, auch wenn das Ergebnis nach wissenschaftlichen Maßstäben noch nicht ganz feststeht.

Zuletzt hat mich der engagierte Eintrag von Herrn Salzburg besonders berührt, der auf die Zerstörung der Schreibtradition und den gewaltigen kulturellen Verlust hinweist, der damit verbunden ist. Im Vergleich dazu sollte ein minimaler Vorteil der Reform, der sich vielleicht irgendwann, nach dem gigantischen Aufwand einer weitestgehend kompletten Umstellung, theoretisch vielleicht doch noch abzeichnen könnte, in der Tat keine Rolle spielen. Mein Standpunkt: Eine solche Reform ist mit so viel Ärger, Empörung, sinnlosen Auseinandersetzungen, Machtkämpfen, Zeitaufwand, Kosten, Verwirrung und anderen Nachteilen verbunden, daß man schon nach wenigen Jahren überwältigende Beweise für einen allgemeinen Nutzen braucht, der diese gesammelten Nachteile ausgleichen könnte. Ich sehe keinen solchen Nutzen, auch nicht bei der ss/ß-Schreibung. Ganz im Gegenteil. Ich sehe einfach nur Nachteile.

Einzige Ausnahme: Die neue ss/ß-Schreibung oder ihr phonetisches Prinzip gefällt manchen. Ich gönne es ihnen gern. Aber auch das muß man einordnen: Die Anhänger sind nicht in der Mehrheit. Deshalb würde ich, wenn mir persönlich die neue ss/ß-Schreibung gefällt, mich nicht hartnäckig der Mehrheit damit aufdrängen, so wie es in Extremform die Reformer und Reformeinpeitscher, sämtliche Politiker und viele Journalisten tun, sondern ich würde mich zurückhalten und fragen, was die Mehrheit möchte und für besser hält, wenn es schon nach persönlichen Präferenzen gehen soll. In erster Linie frage ich natürlich, was auf Dauer für die Schreibgemeinschaft besser ist. In jedem Fall und in jeder Hinsicht komme ich zu dem Ergebnis: Die Reform ist abzulehnen. Die Mehrheit will sie nicht, sie hat nur Nachteile, und am Horizont ist keine Änderung dieses Befundes in Sicht.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 20.04.2006 um 23.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3893

Ich bin kein Befürworter der Heyse-Schreibung, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß ich sie der Adelungschen oder schweizerischen vorziehen würde. Genau dies habe auch mehrfach zum Ausdruck gebracht.

Ich suche auch nicht händeringend nach Argumenten für Heyse. Gehen Sie, lieber Herr Schaefer, die Diskussion doch noch einmal durch, und sehen Sie sich meinen Anteil daran an.

Vielleicht bilde ich mir das nur ein, Sündenbock zu sein. Ich fühlte mich durch Herrn Luessens Frage gereizt, wahrscheinlich zu unrecht. Ich bitte aber darum, nicht immer nur meinen Namen zu nennen, wenn es um geäußerte Zweifel an der Fehlerträchtigkeit Heyses geht. Da fallen mir auf Anhieb gleich mehrere ein.

In manchen Foren sind interne Abstimmungen möglich. Mich würden schon die hiesigen Mehrheitsverhältnisse bezüglich der Frage nach der Heyseschen Fehlerträchtigkeit interessieren. Nur zu, jeder, der hier mitliest, darf sich gerne "outen".
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 20.04.2006 um 22.36 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3891

Zur Versachlichung der Debatte möchte ich an folgende Ausführungen von Prof. Ickler in seinem "Schildbürgerstreich" erinnern (Fettdruck von mir):

»Auffällig, ja das Auffälligste überhaupt ist an reformierten Texten die häufige Ersetzung von ß durch ss. Das „scharfe s“, also ß, hatte bisher zwei Aufgaben: Es bezeichnete nach langen Vokalen und Diphthongen das stimmlose [s] wie in reißen im Gegensatz zum stimmhaften [z] in reisen, und es trat für ss ein, wenn dieses durch Wortbildung oder Flexion an den Silbenrand oder vor einen anderen Konsonanten geriet: hassen, aber Haß, haßt. Grundschullehrer bringen ihren Schülern seit je eine nützliche Faustregel bei: „ss am Schluß bringt Verdruß“. Natürlich könnte man ganz ohne den Buchstaben ß auskommen, wie es die Schweizer ja schon seit Jahrzehnten vormachen. Auf der anderen Seite macht das ß die Binnengrenze von Zusammensetzungen deutlich: Meßergebnis. Ein angenehmer Nebeneffekt (auch für die Worttrennung am Zeilenende), der neuerdings entfällt: Messergebnis. Auch Mißstand liest sich leichter als Missstand.

Nach der Neuregelung dient die s-Schreibung nur noch der Bezeichnung der Vokallänge. Wir deuten ja die Kürze eines betonten Vokals durch die Verdoppelung des nachfolgenden Konsonanten an: kommen, komm usw. Ebenso hassen; nur bei Haß, haßt usw. schreiben wir ß, das aber bloß eine typographische Variante von ss ist und kein Buchstabe eigenen Rechts. Diese kleine Unregelmäßigkeit wird nun beseitigt. Dagegen ist natürlich nichts zu sagen, aber es bringt auch nicht viel. Die frohe Botschaft, daß nach kurzem unbetontem Vokal der Konsonantenbuchstabe doppelt geschrieben werde, wird nämlich ohnehin ein wenig getrübt durch nicht weniger als 12 Gruppen von Ausnahmen (§§ 4 und 5). Und mit der s-Schreibung gab es außerdem nie große Schwierigkeiten – bis auf eine einzige Ausnahme, und die bleibt gerade erhalten. Ich meine natürlich den Unterschied von das und daß, der immer für einen großen Anteil, nämlich rund 6 % aller Rechtschreibfehler verantwortlich war.«

Ich denke, diese Ausführungen belegen, daß man auch als Gegner der Rechtschreibreform die Heysesche ss/ß-Schreibung nicht unbedingt für reines Teufelszeug halten muß. Der Hinweis von Prof. Ickler auf "diese kleine Unregelmäßigkeit" der herkömmlichen Schreibung zeigt doch, daß diejenigen, denen die Heysesche Schreibung "logischer" vorkommt, nicht an reiner Geistesverwirrung leiden. Nur richten sich Sprache und Rechtschreibung nicht unbedingt nach irgendeiner "Logik". Daher bedeutet "logischer" keineswegs auch "besser", und deshalb ziehe ich wegen der in dem Zitat von Prof. Ickler aufgezeigten besseren Lesbarkeit die Adelungsche Schreibung vor.

Ganz einverstanden mit der zitierten Icklerschen Formulierung bin ich übrigens auch nicht. Ich würde (grob vereinfachend) die umgekehrte Formulierung vorziehen: "Das ß bezeichnet das 'scharfe s'. Zwischen zwei Vokalen tritt das ss für ß ein, um die Kürze des vorangehenden Vokals zu kennzeichnen."

 
 

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 20.04.2006 um 18.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3890

Lieber Herr Fleischhauer,

Haben Sie eigentlich jemals einen Beitrag von mir gelesen? Oder verwechseln Sie mich vielleicht mit jemand anderem?

Nun, Sie haben sich, sogar mehrfach, wenn ich mich recht entsinne, als "Fan" der Heyse-Schreibung bezeichnet. Das ist ja auch nicht verwerflich, aber H.-G. Luessen fragt dann doch wohl nicht zu Unrecht, warum Sie diese nicht anwenden.

Zum Glück gibt es hier nur wenige, die mich nun zum Sündenbock dafür machen, daß hier von einigen Mitstreitern Selbstkritik geäußert wurde.

Niemand macht Sie zum Sündenbock, hier wird lediglich munter diskutiert. Ich glaube doch, daß Sie die Ausführungen vieler Mitdiskutanten mit Gewinn gelesen haben, oder?

Nun scheinen die meisten hier der Meinung zu sein, daß die bisherige ss/ß-Schreibung einfacher war und die Reformvariante fehlerträchtiger ist. Hier fordern Sie belastbares Datenmaterial, weil Ihnen die Erfahrungswerte und die Argumente anderer nicht genügen (Herr Bärlein weist richtigerweise auf Frau Pfeiffer-Stolz hin, die m. E. das Notwendige gesagt und geschrieben hat). Auch dagegen ist selbstverständlich nichts zu sagen, im Gegenteil. Ihre Argumentation erweckt jedoch den Eindruck, daß Sie händeringend nach Argumenten suchen, die Heyse in ein besseres Licht stellen. Herrn Wrases Vergleich mit den vergangenen Utopien drängt sich hier durchaus auf: die Suche nach Idealbedingungen, unter denen es vielleicht, irgendwie, irgendwann besser funktionieren könnte. Das scheint mir auch die Ansicht von Herrn Marx zu sein, jedenfalls nach dem, was seinen Interviews zu entnehmen war. Schriftsprache findet aber nicht unter Laborbedingungen statt. Die Frage, "warum wir schreiben, wie wir schreiben" (Munske), und zwar erfolgreich, ist doch viel wichtiger als die nach Bedingungen, unter denen man auch fehlerfrei anders schreiben könnte. Von daher würde mich auch Ihre Meinung über das Verhältnis von Theorie und Praxis in bezug auf die Orthographie interessieren (keine Kritik; es interessiert mich wirklich). Meine Ansicht ist, daß eine Theorie, die jenseits der Sprachwirklichkeit ansetzt, höchst gefährlich ist. Das Ergebnis sind Gallmannsche Schreibweisen. Aber ich lasse mich gerne überzeugen.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 20.04.2006 um 17.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3889

Es ist eigentlich schade, daß wir so wenig Möglichkeiten haben, Kontakt mit Herrn Marx aufzunehmen. Zur allgemeinen Beruhigung: Ich wäre der letzte, der sich von empirischen Erhebungen nicht beeindrucken lassen würde.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 20.04.2006 um 17.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3888

An Herrn Luessen:
An Herrn Fleischhauer:
weshalb schreiben Sie nicht "muss" und "dass"?

Haben Sie eigentlich jemals einen Beitrag von mir gelesen? Oder verwechseln Sie mich vielleicht mit jemand anderem?

Zum Glück gibt es hier nur wenige, die mich nun zum Sündenbock dafür machen, daß hier von einigen Mitstreitern Selbstkritik geäußert wurde.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 20.04.2006 um 14.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3886

Blogs hat es vor 1999 noch gar nicht gegeben. Zu Vergleichszwecken könnte man Hörfunkmanuskripte heranziehen, von denen z. B. die Bayer. Staatsbibliothek eine größere Sammlung besitzt (und sicher auch jedes Rundfunkarchiv). Um eine »laxere Handhabung der Orthographie« geht es nicht, es geht um ihre minder sichere Beherrschung.

Ein Nachtrag noch zu Marx: Mein Artikel, der in einer etwas ausführlicheren Version auch von der Magdeburger Volksstimme gedruckt wurde, beruhte auf einem Gespräch mit ihm, in dem er mir sagte, daß seine jüngsten Testreihen eine weitere Zunahme von Übergeneralisierungen zeigten. Das waren wohlgemerkt Daten, die nach der Diskussion mit den Kommissionsmitgliedern erhoben worden waren. Solange sie uns nicht vorliegen, kann man sie aber nicht seriös beurteilen.
 
 

Kommentar von H.-G. Luessen, verfaßt am 20.04.2006 um 14.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3885

An Herrn Fleischhauer:
weshalb schreiben Sie nicht "muss" und "dass"?
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 20.04.2006 um 13.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3884

Zu Herrn Markner: Es hat über die Jahre natürlich eine starke Entwicklung auch in Art und Stil der Blogeinträge gegeben. (Und wieviel läßt sich da noch aus der Zeit vor 1999 einsehen?) Es ist sicherlich sehr, sehr schwierig, allgemeine Trends zur laxeren Handhabung der Orthographie richtig einzuschätzen. Ich wäre deshalb auch dafür, den Fokus auf das Verhältnis zwischen ss/ß- und anderen Fehlern zu richten.

Welche Art von Untersuchung würde die wenigste Arbeit machen? (Vergleich von Zeitungsjahrgängen?)
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 20.04.2006 um 13.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3883

Herr Ickler hat sich natürlich nur gelegentlich - und eher in Nebensätzen - zu Marx geäußert, allerdings immer im besagten Sinne. Ich habe zum Teil sehr heftige Kritik an Herrn Ickler geäußert; das liegt an seiner herausragenden Stellung - jedes seiner Worte zählt gewissermaßen doppelt. (Er wird sicher gleich Einspruch erheben.) Bezüglich meiner Kritik an unserer Auslegung der zweiten Marx-Studie hatte ich Herrn Ickler allerdins auch nur im Nebensatz erwähnt.

Lieber Herr Wrase, eine strenge Differenzierung zwischen Theorie und Praxis halte ich für unmöglich. Wer an Theorie interessiert ist, interessiert sich doch für die Praxis. Ich darf Sie daran erinnnern, daß Sie just in diesem Thread selbst "Theorien" vorgestellt haben.

Im übrigen bin ich für Empirie offen. Ihre eigenen Erfahrungen und Prophezeiungen widersprechen z.B. den Marxschen - da muß doch die Diskussion anfangen. Wir haben hier übrigens alle möglichen Meinungen vertreten. Und unsere Kommunikationsfähigkeit ist ja schon öfter auf die Probe gestellt worden.
 
 

Kommentar von Kaiser Günter, verfaßt am 20.04.2006 um 13.03 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3880

Adelung und Heyse; ferne Kindheitserinnerungen aus der Grundschulzeit: müssen-muß, nochmehr Nüsse-Nuß, das war für eine kurze Zeit nicht zu verstehen und etwas mühsam zu erlernen. Doch irgendwann saß dies sattelfest.
Nicht als Grundschüler, nicht als Jugendlicher, nicht als Student wäre ich auch nur einen Augenblick auf den Gedanken gekommen, etwa das Wort Schluß "Schluss" zu schreiben, weil hier ein kurzer Vokal vorliegt. Für mich persönlich geradezu abwegig.
So bin ich überzeugt, daß in der Adelungschen ss-Schreibung eine tiefe Weisheit liegt, welche für uns nicht ganz greifbar ist. Wie das Leben nicht absolut logisch ist, so kann es auch die Sprache nicht sein. Der Begriff Sprachintuition will uns nicht nur viel sagen, er mahnt sogar etwas ein.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 20.04.2006 um 12.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3879

Sowohl das japanische als auch das chinesische Schriftsystem sind nach 1945 reformiert worden (allerdings das chinesische nicht in der Republik China, Hongkong und Macau).

Noch einmal zur ss-Empirie: Ein Vergleich der gedruckten Zeitungen wäre zwar sinnvoll, aber noch erhellender ist natürlich ein Blick auf unredigierte Texte. Hier bieten sich die Blogs an, die von manchen Journalisten geführt werden.
 
 

Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 20.04.2006 um 11.48 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3878

Japaner und Chinesen sehen im zeitraubenden Erlernen ihrer Schrift wohl auch eine Schulung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit, der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und der feinmotorischen Geschicklichkeit. Bei uns dagegen war man zu der fortschrittlicheren Ansicht gelangt, das Schriftsystem fordere den Kindern zuviel ab und müsse deshalb vereinfacht werden. Bei uns werden diese Fähigkeiten irgendwie anders und viel moderner erlernt, etwa mit Computerspielen. Braucht man auch viel Zeit für!
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 20.04.2006 um 10.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3874

Es gilt zwar der Satz: Nichts ist praktischer als eine gute Theorie - aber er gilt nicht immer und nicht überall. Die Reformer wollten die Rechtschreibung durchregeln, sie dadurch leichter und, vor allem, leichter erlernbar machen. Bis jetzt ist dieses Ziel, nach immerhin fast zehnjähriger Erprobung, offenbar nicht erreicht worden. Da darf man wohl nach der Qualtität der zugrunde liegenden Theorie (hier nicht im wissenschaftlichen Sinne gemeint, denn der Reform liegen keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zugrunde) fragen. Die weitergehende Frage lautet, ob nicht der ganze Ansatz schon verkehrt war. Bei der Beurteilung des Unternehmens und seines Erfolgs muß man sauber unterscheiden, welche Klientel man heranzieht. Da wären erstens die Neulerner, also die Schüler, die von Anfang an nur die neue Schreibung gelernt haben. Dabei ist gleich zu bedenken, daß sie im außerschulischen Bersich ständig mit alter, neuer und auch fehlerhafter neuer konfrontiert sind. Hieb- und stichfeste Befunde ("unter Laborbedingungen") sind hier nur sehr eingeschränkt möglich und meines Wissens bisher auch nicht erhoben worden. Die zweite Gruppe sind die Umlerner oder jedenfalls Umorientierten, die die traditionelle Schreibung bereits mehr oder weniger gut beherrschten. In Zeitungen und anderen Publikationen sehen wir täglich das Durcheinander. Schließlich bleiben noch die vermeintlich objektiv und von höherer Warte aus Urteilenden. Wie die vorangegangene Diskussion um s/ss/ß zeigt, kann kein einziger von ihnen sein Vorwissen, seine tief verinnerlichten Schreibgewohnheiten völlig ausblenden. Sie können eben alle schon schreiben, da ist Stand der Unschuld auf immer verloren. Mit anderen Worten: Alles Urteilen und Bewerten ist ein Vergleichen von alt mit neu. Das liegt natürlich an der banalen Tatsache, daß die reformierte Rechtschreibung im Grunde nichts als ein Eingriff in die gewachsene ist. Wir vergleichen also immer die unbeschädigte Integrität der traditionellen Rechtschreibung mit ihrem augenblicklichen Zustand. Die herkömmliche, geradezu automatisch praktizierte Orthographie ist "im Hinterkopf" ständig präsent und wirksam. Da zudem noch alles im Fluß ist, bleibt wohl tatsächlich nur die Beschränkung auf eine Langzeitperspektive - auch wenn uns kämpferisch gesinnten Gegnern, die wir Waffen hier und jetzt brauchen, dies nicht gefallen mag.
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 20.04.2006 um 10.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3873

Lieber Herr Ickler, in Ihrem hiesigen Leittext beziehen Sie sich unter anderem auf Marx' Untersuchungen; vermutlich hatte Herr Fleischhauer das im Blick.
 
 

Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 20.04.2006 um 09.16 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3870

Die Japaner und Chinesen könnten sich 90 Prozent ihrer Lernzeit beim Schreiben ersparen, wenn sie eine Alphabetschrift übernähmen. Sie tun es nicht, weil sie die damit einhergehende Entfremdung von ihrer literarischen und dokumentarischen Geschichte als würdelos empfinden.

Und hier streiten sich Leute darum, ob eine Lernerleichterung durch das Heyse-System, aufs Ganze gesehen, von vielleicht 1 Prozent nachweisbar ist, oder ob die Fehlerzunahme in der ss-Schreibung doch bis zu 22 Prozent bei Grundschülern beträgt. Nie hätte es diese Diskussion gegeben ohne das Diktat kulturvergessener Kultusminister, die ideologischen Umfunktionierern und froschperspektivistischen Klippschuldidaktikern auf den Leim gegangen sind. Offensichtlich ist die Auseinandersetzung auf eine falsche Ebene gezogen worden.

Auch wenn die Lernerleichterung für ABC-Schützen von wesentlich größerer Überzeugungskraft wäre, müßte man eine Rechtschreibänderung, die eine 600jährige deutsche Schreibtradition abwürgt, die alle überlieferte bedeutende und weniger bedeutende Literatur befremdlich aussehen läßt und sie einem kostspieligen Anpassungszwang aussetzt, doch nur als würdelos bezeichnen. Genau das trifft auf die Umfunktionierung des ß im neuen Regelwerk zu.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.04.2006 um 08.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3869

Da ich ungern etwas umbiege, wüßte ich gern, was ich umgebogen habe. Auf H. Marx habe ich mich, soweit erinnerlich, ohnehin immer nur nebenbei bezogen, seine Studien spielen in meinen Büchern keine Rolle, ich referiere ihre Ergebnisse nirgends ausführlicher. Mancher hat sich schon darüber gewundert. Ich hatte aber meine Gründe.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 20.04.2006 um 06.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3867

Ich glaube, es ist mittlerweile allein in diesem Strang alles Wichtige zu der Frage der Praxistauglichkeit der ss/ß-Schreibung gesagt worden. Herr Fleischhauer wird sich sicherlich durch keine noch so erschöpfende, stichhaltige, umfassende, saubere usw. Argumentation überzeugen lassen, das ist klar. Die für jeden an der Wirklichkeit orientierten Praktiker offensichtliche Zunahme der Fehler ist so ausgeprägt – und zwar im Vergleich zu den sonstigen Fehlern und Umlernschwierigkeiten –, daß man es mittlerweile als Tatsache hinnehmen müßte, daß die Reform zu deutlich mehr Fehlern bei ss/ß führt und auch dann zu deutlich mehr Fehlern bei ss/ß führen würde, wenn sie sich jemals zu hundert Prozent gegen die bisherige Schreibweise durchsetzen könnte und sämtliche Texte in nichtreformierter Schreibung ausgerottet werden könnten. Das heißt natürlich wegen der Häufigkeit der ss/ß-Schreibungen, daß die Reform insgesamt zu deutlich mehr Fehlern führen wird – dauerhaft, denn aus anderen nennenswerten Bereichen der Rechtschreibung ist kein gegenteiliger Einfluß bekannt oder zu erwarten (nicht einmal bei der Kommasetzung, nebenbei bemerkt).

Herr Fleischhauer ist aber nicht an einer realistischen Auswertung der empirischen Befunde orientiert, sondern an der Theorie. Nach dieser reformgemäßen Theorie müßte die reformierte ss/ß-Schreibung dem Lernenden leichter fallen oder zumindest nicht schwerer fallen, so daß langfristig, nach einer möglichst vollständigen Durchsetzung der Reform, mit einer Abnahme der Fehlerzahlen zu rechnen sei, zumindest damit, daß die Fehlerzahlen das Niveau vor der Reform nicht mehr übersteigen; die sonstigen Faktoren, die auf die Fehlerquoten einen Einfluß haben, einmal als konstant angenommen (Lesefreudigkeit der Bevölkerung, Qualität des Schulunterrichts und so weiter).

Wir können ja warten. Es läuft gerade der ganz große Praxistest der reformierten ss/ß-Schreibung. Freilich sind wir von einer annähernd vollständigen Durchsetzung noch sehr weit entfernt. Also bleibt den Reformfreunden (bezogen auf ss/ß) noch sehr, sehr lange die Möglichkeit, die krasse Zunahme der Fehlerzahlen im Vergleich zum Zustand vor der Reform auf den Umstand zurückzuführen, daß sich das Nebeneinander der verschiedenen Schriftsysteme störend auswirkt, was ja nicht bestritten werden kann. Andererseits gehört die jahrzehntelange Erschwernis aufgrund dieser Umstellungssituation natürlich zu einer solchen Reform zwingend dazu, so daß man sie in einer Pro-Kontra-Rechnung selbstverständlich als Nachteil bzw. auf der Kostenseite zu vermerken hat.

Herr Fleischhauer, Sie haben auf die Frage nicht geantwortet, wieviel tausend Anläufe Sie einem erwachsenen Schreiber zugestehen, bis Sie sagen, nun müßte er die neue ss/ß-Schreibung draufhaben, auch wenn ihm noch abweichende und viele falsche Schreibungen begegnen. Teilen Sie uns das doch mal mit: tausend, zehntausend, hunderttausend Versuche? Bei meiner Schätzung von 25 ss/ß-Schreibungen pro Tag und rund 2000 Tagen hätte ein Betroffener, der den aktivsten 20 Millionen Schreibern angehört, seit 1999 fünfzigtausend Versuche auf dem Buckel.

Eine andere Frage an Sie wäre: Wie viele Jahrzehnte sollen wir noch warten, bis man die Fehlerquoten bestimmen darf, ohne daß Sie sagen werden, eine nach wie vor festzustellende Erhöhung der Fehlerzahlen bei ss/ß sei auf störende Umstände zurückzuführen, nicht aber notwendigerweise auf eine höhere Schwierigkeit der neuen ss/ß-Regel selbst?

Mein Eindruck: Es gibt immer Leute, sogar sehr viele, die einer schönen Theorie zuliebe die Fakten weginterpretieren. Der Sozialismus stand in den kommunistischen Staaten, etwa der Sowjetunion oder der DDR, auch immer kurz davor, seine endgültige Überlegenheit gegenüber der Marktwirtschaft zu beweisen, zum Beispiel. Da nützt kein Diskutieren, es spielt keine Rolle, daß 90 Prozent der Bevölkerung anderer Ansicht sind, jedes Potemkinsche Dorf taugt zur Verschönerung des Anblicks. Und wenn das ganze System zusammenbricht, wird ein eingefleischter Anhänger davon erst recht nicht bekehrt. Er hatte ja nur gemeint, der Durchbruch stehe unmittelbar bevor. Wenn dem Experiment nur noch ein paar Jahre oder Jahrzente mehr vergönnt gewesen wären, hätten sich die wahren Qualitäten des Systems schon noch herausgestellt.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 20.04.2006 um 00.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3866

Nach etwaigen Protokollen der Kommission müßte man im IdS nachfragen. Nur zu!
 
 

Kommentar von ub, verfaßt am 20.04.2006 um 00.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3865

Korrektur: Kein Dissens beim zweiten Satz im zweiten Absatz. Das Ausrufezeichen am Ende des ersten Satzes hatte ich irrigerweise als Überleitung ausgelegt.
 
 

Kommentar von ub, verfaßt am 19.04.2006 um 23.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3864

J.-M. Wagner: Beim ersten Satz im zweiten Absatz kein Dissens. Es ist mir nachgerade peinlich, mich in puncto s-Schreibung noch ein zweites Mal als Pfeiffer-Stolz-Adepten outen zu müssen: Der Witz ist doch gerade, daß Adelung beherrschen muß, wer nach Heyse schreiben will. Dessen System ist damit ungefähr so nützlich wie die B-Sprache.
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 19.04.2006 um 22.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3863

U. Bärlein: »Wenn die s-Schreibung nach Adelung erlernbar ist, dann ist es die nach Heyse auch. Den Beweis liefern jene "Umlerner", die aus beruflichen Gründen auf Heyse verpflichtet sind, privat aber an Adelung festhalten oder ihn zumindest nicht vergessen haben.«

Erster Satz: vermutlich ja; zweiter Satz: definitiv nein! Für reine Umlerner ist ja die vereinfachte Regel „nach kurzem Vokal [wird aus ß] ss, nach langem [bleibt es] ß“ richtig, die aber Neulerner (dann ohne die eingeklammerten Zusätze) ins Verderben führt. Um die Erlernbarkeit von Heyse wirklich beurteilen zu können, müßte man von Gottsched/Adelung komplett Abstand nehmen.
 
 

Kommentar von Chr Schaefer, verfaßt am 19.04.2006 um 21.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3862

Gibt es irgendwo schriftlich festgehaltene Aussagen/Berichte über das "muntere Gespräch", das Herr Marx mit der verblichenen Kommission geführt hat und dessen Stattfinden von Herrn Blüml im "Morgen" jüngst so tapfer verdrängt wurde?
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 19.04.2006 um 21.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3861

Wenn die s-Schreibung nach Adelung erlernbar ist, dann ist es die nach Heyse auch. Den Beweis liefern jene "Umlerner", die aus beruflichen Gründen auf Heyse verpflichtet sind, privat aber an Adelung festhalten oder ihn zumindest nicht vergessen haben. Mir selbst gelang der Wechsel vom einen System zum anderen und zurück von Anfang an in Sekundenbruchteilen, ohne großes Nachdenken. Hierzu hat Frau Pfeiffer-Stolz längst schon alles Erforderliche gesagt. Zu einer Fehlerquelle wird Heyse nur für den, der an die Logik dieses Systems glaubt und sich auf sie einläßt (da kann man dann allerdings die tollsten Sachen erleben, z. B. "isst" als 3. Person Singular von "sein" – und das bei einer Journalistin mit abgeschlossenem Germanistikstudium).

Wie von anderer Seite hier bereits vermerkt, beschränkt sich die tatsächliche Differenz zwischen den beiden Systemen auf die "Doppel-s am Schluß bringt Verdruß"-Regel. Ein Pädagoge, der das begriffen hat, wird seine Schüler auch erfolgreich in das System Heyse einweisen können. Es kommt in beiden Fällen letztlich darauf an, das Wort zu kennen, das man schreiben will.

Die eigentliche Frage lautet doch, wozu ein System gut sein soll, das nur dann funktioniert, wenn man die Logik ignoriert, die angeblich seinen Vorteil ausmacht. Sie stellt sich um so nachdrücklicher, als die Nachteile dieses Systems für den Leser unstrittig sind.
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 19.04.2006 um 21.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3860

Zu Prof. Marx siehe hier:

Neue Osnabrücker Zeitung, 21. 8. 2004: „Rechtschreibung wurde erschwert“ – Schriftsprachforscher Prof. Harald Marx: Negative Effekte durch Studien in Grundschulen belegt (Link)

Berliner Zeitung, 9. 9. 2004: „Neue Regeln erschweren das Lernen“ – Kultusminister wollen Erfolgskontrolle vermeiden (Link)

Neue Osnabrücker Zeitung, 22. 7. 2005: »Einen negativen Effekt der neuen Schreibung hat Marx, der an der Universität Leipzig lehrt, bereits in mehreren Vergleichsuntersuchungen mit Grundschülern nachgewiesen.« (Link)

 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 19.04.2006 um 20.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3859

Zur Erinnerung:

Gallmann, Peter (1997): "Warum die Schweizer weiterhin kein Eszett schreiben. Zugleich: Eine Anmerkung zu Eisenbergs Silbengelenk-Theorie" (PDF)

"ss/ß-Schreibung und die Problematik der Vokallänge in regionalen Varianten" (Link)

"Sammlung: Probleme der ss/ß-Schreibung" (Link)

"ss vs. ß" (Link)

Vielleicht hilft es, dort einiges nachzulesen, damit die Diskussion hier wieder etwas mehr vom Fleck kommt. Insbesondere möchte ich an die Erläuterungen Norbert Schäblers erinnern, daß das Eszett aufgrund seiner besonders auffälligen Form (in Schreibschrift hat es sowohl Ober- als auch Unterlänge) dazu führt, daß sich ß-Wörter lernenden Kindern besonders gut einprägen.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 19.04.2006 um 20.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3858

Es bleibt dabei: Die Fortsetzung der Marxschen Studie liegt uns sowenig vor wie Bd. IV des Kapitals. Wenn Herr Marx die Darstellung der Bild, auf die sich hier, soweit erinnerlich, noch nie jemand berufen hat, für unzutreffend hält, muß er eben für die Veröffentlichung seiner Ergebnisse an anderer Stelle sorgen.

Mit Hilfe der online verfügbaren Zeitungstexte läßt sich leicht feststellen, daß die ss-Konfusion gleich nach dem 1. 8. 1999 anfing: »Ausser Tscharikar, der Hauptstadt der Provinz Parwan, verlor Massud am Montag auch Mahmud-i-Raki, die Hauptstadt der benachbarten Provinz Kapisa.« (Der Tagesspiegel, 2. 8. 1999) Solche Treffer statistisch auszuwerten dürfte einigermaßen schwierig sein. Herrn Wrases Auswertung liegt bekanntlich vor. Es steht jedermann frei, eine aktuelle Samstagsausgabe der SZ zum Vergleich heranzuziehen.
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 19.04.2006 um 20.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3857

Ich meine auch, daß die Leistungen der professionellen Schreiber zeigen, was hier wirklich Sache ist. Schuldiktate nach Vorbereitung sind eben nur eine Sache, — wie dieselben Leutchen im Leben unter den dann gegebenen Umständen, also unter weiteren und anderen und vielleicht auch gar keinen Einflüssen schreiben würden, das ist eine ganz andere. Ein Beispiel jedoch zu dem, was ausgewachsene Journalisten bei einer "großen" deutschen Zeitung nach zehn Jahren "Mitdenken" alles zustande bringen, habe ich heute nacht hier in die Diskussion gestellt.
Daß im Artikel selbst das reformierte "ss" durchgehend statt "ß" erscheint, geht m. E. aufs elektronische Berichtigungsprogramm zurück, nicht auf Einsicht in Heysesche Schreibung. Fehlerlosigkeit bei "das/dass" zeigt dagegen, daß noch etwas von früherer Einsicht hängen geblieben ist. Wenn man sich hierzu jedoch im Netz die Beiträge von Schülern und anderen Jüngeren ansieht, also aus deren Leben, wie es außerhalb des Klassenzimmers abläuft, — mein Gott! Natürlich könnte jemand solche Ausrufe wie den meinen eben unter "impressionistischer Kritik" abhaken; ich selbst tue das natürlich nicht. Stephan Fleischhauer hat aber recht, wenn er aufs neue Datenmaterial einfordert. Das ist nötig, schon um die Diskussion in der Öffentlichkeit in Gang zu halten. Aber daß die "Rechtschreibreform" als ganzes ein allerdümmstes Unternehmen war und ihr Ergebnis für die Öffentlichkeit zum Himmel stinkt, dazu brauche ich keine weitere Untersuchung, wenn ich mir nur die Kosten dieses Dings vorstelle und seine inneren Wiedersprüche betrachte. Und das reicht auch den meisten anderen steuerzahlenden und mitdenkenden Staatsbürgern.

 
 

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 19.04.2006 um 20.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3856

Lieber Herr Fleischhauer,

die zweite Studie würden nicht nur Sie gerne sehen, aber die s-Schreibung scheint in der Tat nicht die Hauptsache gewesen zu sein. Im übrigen habe ich mich nirgendwo in dieser Diskussion auf Marx bezogen. Über eine Darstellung von Forschungsergebnissen auf BILD-Niveau dürfte außerdem kein Wissenschaftler erfreut sein

Ich habe Ihre Einstellung nicht mit Tricksereien verglichen, sondern mit einem häufig anzutreffenden "Argumentationsmuster". Das mit dem Dieb mag etwas ungeschickt gewesen sein, aber es ging um das Muster, nicht den Inhalt: Jemand behauptet etwas (Heyse ist einfacher und logischer), und obwohl damit offensichtlich etwas nicht stimmt, finden andere es plausibel. Anstatt die Behauptung zu beweisen, sehen sich plötzlich diejenigen einem Erkärungszwang ausgesetzt, die die Behauptung zurückweisen. Der Druck wird größer, weil wieder andere nun sagen, irgendwas muß an der Behauptung schon dran sein.

Ich finde übrigens keineswegs andere Fragen spannender. Vielmehr scheinen unsere Interessen sehr ähnlich gelagert zu sein, nur sind sie eben etwas anders formuliert, und die Schwerpunkte mögen leicht verschoben sein. Wenn wir über Vokallängen und Silbengelenke reden und offenbar Schwierigkeiten haben, auf die eine oder andere Art Adelung zufriedenstellend zu erklären, dann ist doch wirklich interessant, warum es so gut funktioniert. Wenn wir dies genau formulieren könnten, wären die hier aufgeworfenen Fragen beantwortet, meinen Sie nicht?

Außerdem können Sie meinen Ausführungen nicht entnehmen, daß ich "kein Interesse" an einer quantifizierenden Untersuchung habe, im Gegenteil. Nur müssen, wie Sie richtig sagen, die Prämissen stimmen. Außerdem habe ich bereits geschrieben, daß ich regelmäßig Texte von geübten Schreibern redigiere. Sie können davon ausgehen, daß ein normaler wissenschaftlicher oder Sachtext von zwanzig Seiten in Heyse nicht unter 7 Fehlern aufweist, während sich mit Adelung so gut wie keine Fehler einschleichen (unter 1 %) Wenn es Sie interessiert, führe ich demnächst Statistiken und nenne genaue Zahlen.

Untersuchungen bei Grundschulkindern sind natürlich nicht verkehrt, aber – auch hier scheinen wir uns einig zu sein – nicht hinreichend. Daher mein Vorschlag, nicht nur Zeitungen auszuwerten, sondern auch geschäftliche Texte. Und die Wissenschaft wurde noch gar nicht genannt. Diese ist besonders interessant, da in vielen Verlagen mittlerweile die Lektorenstellen weggefallen sind. Und was den Aufwand angeht, so könnte sich jemand mit einer Magister-, Diplom- oder Doktorarbeit sicherlich Meriten erwerben. Ich vermute jedoch, daß es schwierig sein wird, dafür Forschungsgelder zu erhalten – schließlich ist das ein brisantes Thema, das die für die jetzige Situation Verantwortlichen lieber nicht berührt sehen möchten.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 19.04.2006 um 19.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3855

Die zweite Leipziger Studie hatte den Rückgang der Fehlerhäufigkeit bei der s-Schreibung auf den Stand vor der Reform zum Ergebnis. Die in der Bild veröffentlichten Zahlen, die auf eine Fehlervermehrung schließen lassen konnten, hielt Marx selbst aus methodischen Gründen für zweifelhaft; sie betrafen nur einen Nebenaspekt seiner Studie und waren nicht hinreichend abgesichert. Herr Marx hat mir das ausführlich erläutert. Er schien mir auch nicht glücklich über jene Veröffentlichung in der Bild zu sein.

Die Studie muß hier regelmäßig als Beleg dafür herhalten, daß sich die Fehlerquoten nochmals erhöht haben.

Lieber Herr Schaefer, Sie vergleichen meine "Einstellung" mit irgendwelchen abgründigen Tricksereien, ohne daß ich Ihnen nur im geringsten folgen kann. Ich weiß nicht, was Sie überhaupt von meinen Ansichten begriffen haben. Liebäugelei mit der Heyseschen Schreibung könnten Sie genauso gut Herrn Krieger vorwerfen, der sie hier einmal als akzeptabel bezeichnet hat. Daß die Diskussion hier so in Fahrt gekommen ist, schreibe ich vor allem den brillanten Beiträgen tks zu. Es ging hier in der Tat um Vokallängen, Silbengelenke und die Frage, ob die Heyse-Schreibung systemimmanent fehlerträchtig ist. Daß Sie, lieber Herr Schaefer, andere Fragen spannender finden, ändert nichts an der Tatsache, daß es bei den zuvor genannten Diskussionsbedarf gibt.

Ihren weiteren Ausführungen entnehme ich, daß Sie keinerlei Interesse an einer objektivierbaren und quantifizierenden Untersuchung der (durch Heyse bedingten?) Fehlerquoten haben.

Eine solche Untersuchung erfordert einigen Aufwand, ich wäre aber bereit mitzuhelfen. Zuvor sollten wir uns allerdings gemeinsam über die Methodik verständigen. Ein erster Schritt könnte auch sein, in die zweite Marxsche Studie einzusehen. Solche an Grundschülern durchgeführte Studien halte ich nicht für grundsätzlich verfehlt - schon deshalb nicht, weil hier ja die Umstellungsproblematik weitgehend ausgeblendet werden kann. Fehlerquoten in verschiedenen Zeitungsjahrgängen fände ich auch interessant. Hat sich hier schon jemand die Arbeit gemacht?

Natürlich nehme ich Herrn Wrases Erfahrungen ernst. Daraus folgt jedoch nicht, daß ich mich seiner Einschätzung anschließen muß.
 
 

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 19.04.2006 um 17.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3853

Lieber Herr Fleischhauer,

wenn Sie häufiger Texte redigieren würden, dann wüßten Sie, daß bei der s-Schreibung – nicht nur dort, aber dort besonders auffällig – die reine Anarchie herrscht, und zwar wohlgemerkt in Texten aus der Hand gebildeter Schreiber. Ich mache das zwar nicht so oft wie Herr Wrase, aber es ist einfach nicht zu übersehen. Wenn Sie unbedingt eine Datenbasis schaffen wollen, nehmen Sie einen elektronischen Jahrgang der SZ oder des SPIEGEL aus der Zeit vor der Reform und einen aus dem Jahr 2005. Vergleichen Sie die beiden, und Ihre Bedenken dürften sich in Luft auflösen. Wenn Sie Lehrer kennen, bitten Sie um Einsicht in die Schulhefte und erstellen Sie eine Statistk. Falls möglich, vergleichen Sie die Fehlerquote mit der Zeit vor 1996. Gehen Sie in ein Unternehmen und bitten Sie um die Erlaubnis, die Geschäftskorrespondenz und die Drucksachen zweier entsprechender Jahrgänge auszuwerten. Das Ergebnis wird überall das gleiche sein, und zwar trotz stets verbesserter Korrekturfunktionen.

Wenn Sie ein Forschungsprojekt starten wollen, führen Sie zusätzlich Befragungen verschiedener Berufs- und Altersgruppen durch. Fragen Sie nach der subjektiven Einschätzung der Schwierigkeitsgrade beider Schreibweisen und führen Sie anschließend Tests durch, in denen die tatsächliche Beherrschung überprüft wird. Die Befragung müßte freilich etwas differenzierter ausfallen als hier angedeutet.

Das Ergebnis hinsichtlich der Fehleranfälligkeit von Heyse dürfte die wenigsten hier überraschen, aber vielleicht wüßte man besser, wieso Adelung so viel leichterfällt.

Ihre Einstellung erinnert ein wenig an die Reaktion auf ein mutwillig in die Welt gesetztes Gerücht. Es kann nicht bewiesen werden, aber irgendwas wird schon dran sein, und überhaupt: dem oder der würde ich so etwas jederzeit zutrauen:

A: "Sie haben mir etwas gestohlen."

B: "Ich? Wieso? Was denn? Wurde überhaupt etwas gestohlen?"

A: "Sie müssen beweisen, daß Sie nichts gestohlen haben, sonst sind Sie ein Dieb!"

Herr Fleischhauer: "Gibt es überhaupt Gründe anzunehmen, B habe nichts gestohlen? Es fehlt zwar nichts, aber die Person B muß gründlichst durchleuchtet werden, weil ich mir gut vorstellen kann, daß sie stiehlt."


Finden Sie eine solche Argumentation in Ordnung?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 19.04.2006 um 13.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3852

Wenn Sie jetzt noch die Güte hätten, uns darzulegen, was Ihnen Herr Marx wann und wo und in welchem Zusammenhang »bestätigt« hat, könnte man mit dieser Aussage vielleicht etwas anfangen.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 19.04.2006 um 13.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3851

Es wird in der Tat umgebogen. Herr Marx hat es mir bestätigt.
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 19.04.2006 um 12.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3849

Germanist hat recht: Der Erfolg und Mißerfolg der reformierten Rechtschreibung mißt sich daran, wie die ehemals sicheren professionellen Schreiber damit zurechtkommen. Die sogenannten Wenigschreiber machen vermutlich genauso viele Fehler wie vorher, besten- oder schlimmstenfalls eben andere. Wenn eine neue Technik, ein neues Werkzeug erprobt werden soll, zieht man auch die erfahrenen Praktiker hinzu. Aus dem Profigerät wird dann vielleicht ein solches für Heimwerker, der umgekehrte Vorgang dürfte so gut wie nie vorkommen.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 19.04.2006 um 11.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3847

Hier wird nichts umgebogen, Herr Fleischhauer. Die Fortsetzung der Studie liegt uns nicht vor, das ist alles. Im übrigen sollten Sie sich im eigenen Interesse dazu durchringen, Herrn Wrases langjährige Erfahrungen etwas ernster zu nehmen.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 19.04.2006 um 10.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3846

Um der scheinbaren Akzeptanz entgegenzuwirken ist es nützlich, statistisch zu beweisen, daß die umgestellten Zeitungen auch nach zehn Jahren immer noch nicht die Reformregeln richtig anwenden können. Wenn berufsmäßige Vielschreiber es in zehn Jahren nicht lernen können, ist es für Wenigschreiber erst recht nicht erlernbar. Diese Statistiken sind wichtiger als solche über Schüler, denn deren Akzeptanz ist eine erzwungene.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 19.04.2006 um 09.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3845

Ich meine natürlich NICHT (!!!) den ersten Teil der Studie, sondern den zweiten, dessen Ergebnis hier beharrlich umgebogen wird - sogar von Herrn Ickler.

Ich dachte auch an eine etwas "anspruchsvollere" Definition des Silbengelenkbegriffs als in dem angegebenen Link. Gerade für die hier vorliegene Diskussion wäre sie bitter nötig.

Wir haben - entgegen der Meinung Herrn Wrases - auch kein Datenmaterial (Fehlerquoten o.ä.) zur Fehlerträchtigkeit der Heyseschen Schreibung. Und das wiederum ist sehr wohl ein Problem für unsere Diskussion.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 19.04.2006 um 03.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3843

"Hilfe, wir haben keine Diskussionsgrundlage!"

Ich sehe im nachhinein, daß es Herrn Fleischhauer nicht um den Schweizer Sonderweg geht, sondern allgemein um die Praxistauglichkeit der reformierten ss/ß-Schreibweise.

Lieber Herr Fleischhauer, ich weiß nicht, wieso es Sie nach den Studien von Professor Marx verlangt. Diese sind zwar als Indiz interessant, andererseits stehen sie natürlich unter methodischen Vorbehalten: Es handelte sich um Kinder, die Neuregelung war noch nicht lange in Kraft; es kann nicht bestimmt werden, in welchem Maß die Kinder wechselnden Schreibungen oder unsicheren Lehrern ausgesetzt waren und wie sich das ausgewirkt hat.

Wirklich interessant ist doch nicht, wie eine Momentaufnahme bei Kindern zum Beispiel im Alter von zehn Jahren ausgesehen hat, sondern welche Folgen für die Sprachgemeinschaft insgesamt zu erwarten sind. Und hier haben wir mittlerweile eine überwältigende Fülle von Datenmaterial als Diskussionsgrundlage. Es sind nun, grob gerechnet, von 20 Millionen fleißigen Schreibern, die der Neuregelung unterworfen wurden, im Schnitt 7 Jahre lang täglich (also mehr als 2000 Tage lang) 25 Wörter geschrieben worden, die von der ss/ß-Neuregelung betroffen sind. Der Output beträgt also, grob geschätzt, 1 Billion ss/ß-Schreibungen. Für mich ist das eine Diskussionsgrundlage.

Wie lange braucht man, um eine einfache Regel zu lernen? Ich meine, nach tausend Anläufen, spätestens nach einigen tausend Anläufen sollte ein Schreiber eine Buchstabenregel anwenden können, wenn sie denn nicht fürchterlich schwierig ist. Diese Schonzeit haben die meisten Verfasser, deren Texte wir etwa im Internet auffinden können, längst hinter sich. Man kann bei vielen Texten unmittelbar erkennen oder mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, daß der Schreiber sehr geübt in der (versuchten) Anwendung der Neuregelung ist, etwa bei Zeitungstexten. Man kann weiter davon ausgehen, daß er in allererster Linie dabei versucht hat, die Neuregelung bei ss/ß zu beachten. Man kann zum Beispiel auch den Verdacht ausschließen, daß der Schreiber ein Schweizer ist oder zufällig dem Irrtum anhängt, das ß sei abgeschafft worden – dies wurde in unserer Diskussion ja als methodischer Zweifel eingebracht. Also, man gehe im Zweifelsfall in den Text hinein und sehe nach, ob wirklich überall ss geschrieben wurde oder doch abwechselnd ss und ß. In der Regel trifft letzteres zu; die anderen Texte schließe man aus der weiteren Auswertung aus. Weiter kann man methodisch so vorgehen, daß man die Fehlerquote bei ss/ß in Beziehung setzt zu den Fehlerquoten bei anderen Bereichen der Rechtschreibung, bei denen offensichtlich versucht wurde, die Neuregelung umzusetzen. So können Sie ein ziemlich gutes Bild gewinnen, wie schwierig ss/ß im Vergleich zu sonstigen Schwierigkeiten der Rechtschreibung und des Umlernens ist.

Wie viele tausend Versuche gestehen Sie einem erwachsenen Schreiber zu, bis Sie sagen, jetzt müßte er die neue ss/ß-Schreibweise draufhaben, auch wenn er noch abweichenden und falschen Schreibweisen begegnet? Davon hängt es in erster Linie ab, ob jemand das überwältigende Datenmaterial mit Ihrer Zustimmung auswerten kann oder nicht.

Es geht aber auch einfacher. Fragen Sie einen erfahrenen Korrektor oder einen in der Materie gefestigten Schullehrer Ihres Vertrauens, der sich nun sieben oder mehr Jahre mit der täglichen Praxis herumgeschlagen hat, ob die Neuregelung bei ss/ß fehlerträchtiger ist als die vorige Schreibweise oder nicht. Oder fragen Sie zehn solche Gewährsleute oder fünfzig, wenn Sie ganz sicher gehen wollen.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 19.04.2006 um 01.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3842

Was gibt es da zu klären? Die Trennung beis-sen ist aus verschiedenen Gründen schlecht, die Trennung bei-ssen ist aus verschiedenen Gründen schlecht. Beide Trennungen sind im Grunde abzulehnen; was der einzelne jeweils am schlechtesten findet, kann man ihm nicht vorschreiben. Ich sprach von Notbehelf, Notfall, Sonderfall. Man sollte, wenn man schon ss für ß schreibt, am besten beissen oder Strasse überhaupt nicht trennen, wenn man dem Leser etwas Ordentliches bieten will. Und man sollte als Sprachgemeinschaft nicht beissen oder Strasse schreiben, unter anderem wegen der unbefriedigenden Folgen bei der Silbentrennung. Der Doppelbuchstabe ss signalisiert ein Silbengelenk, das gar nicht vorliegt. Bei beissen haben Sie immerhin noch den Diphthong ei, der die Lesbarkeit erhält, aber bei schweizerisch Masse hört das Vergnügen des Lesers auf. Offensichtlich ist die Schweizer Ersatzschreibung hochproblematisch. (Dennoch kann man zur Not mit ihr leben.)

Ich kann nicht erkennen, was es da zu untersuchen gibt oder warum wir mehr Diskutanten bräuchten, um weitere Klärung herzustellen. Das spricht natürlich nicht gegen eine Einmischung von Professor Ickler. Sein Thema war übrigens: Die Neuregelung bei ss/ß hört sich zwar einfach an, ist aber in der Praxis insgesamt (nicht für jeden einzelnen, aber für die Sprachgemeinschaft insgesamt) schwieriger als die bisherige Schreibweise. Die Diskussion wurde unter anderem deshalb so lang, weil einige Diskutanten Schwierigkeiten mit dieser Tatsache haben. Sie würden lieber bei der Ansicht bleiben, die Neuregelung sei auch in der Praxis vorteilhaft.
 
 

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 19.04.2006 um 01.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3841

Ich finde es schade, daß Herr Ickler hier nicht mitdiskutiert.

Vielleicht ist er ja im Urlaub?

Als ich ihn einmal um eine Definition des Wortes Silbengelenk bat, meinte er, es sei ein silbenphonologischer Begriff und die Definition von Lauten sei bereits problematisch. Weiter nichts. Ich dachte mir: Wenn man es darauf anlegt, kann man selbst die wichtigsten Diskussionen so in eine ungangbare Richtung lenken, daß man keinen Schritt mehr weiterkommt.

Schauen Sie doch einmal hier nach, wo der Sachverhalt in aller Kürze und gut verständlich dargestellt ist.

Solange sich niemand "vom Fach" zu den Zusammenhängen zwischen Aussprache und Schreibung äußern möchte, wird es wohl kaum zu einer Klärung kommen.

Für weitere, auch für Laien verständliche Informationen ist das "Lob der Rechtschreibung" von Herrn Munske sehr zu empfehlen. Es gibt einfach komplexe Zusammenhänge, die man nicht so nebenher in Forumsbeiträgen abhandeln kann.

Ein Bedarf scheint aber zu bestehen. Hat dieser Thread nicht schon Rekordlänge erreicht?

Die spannende Frage hier ist: Wieso ist die auf den ersten Blick kompliziertere Adelungsche s-Schreibung so einfach zu lernen und zu beherrschen, und zwar auch von Wenigschreibern? Das ist nicht dasselbe wie die Frage nach der Fehleranfälligkeit von Heyse, denn diese ist ja mittlerweile wohl zufriedenstellend geklärt. Offenbar kommt Adelung der Sprachintuition vieler entgegen und zwingt nicht dazu, mit unsicherem Ausgang ständig über Vokallängen und -kürzen zu sinnieren.

Auch die Leipziger Studie (Marx) könnte uns weiterhelfen. Weiß jemand noch das Ergebnis? (Ich meine nicht das von der Bild veröffentlichte.) Ich glaube nicht, daß Herr Marx mir zuliebe einen Stapel Kopien versenden würde - ich bin ihm ja völlig unbekannt. Aber wahrscheinlich werde ich ihn doch noch darum bitten, damit wir endlich eine Diskussionsgrundlage haben.

Der erste Teil der Studie wurde hier veröffentlicht: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 31/4 (1999), S. 80–189.

Warum braucht man Marx als Diskussionsgrundlage?

Sie haben ja schon kundgetan, daß Sie mit Heyse liebäugeln, und das sei Ihnen unbenommern. Wer das möchte, soll es gerne tun, aber muß man deshalb eine Schreibvariante verbindlich machen, die es Lesern wie Schreibenden unnötig schwer macht? Warum muß ausgerechnet die schlechtestmögliche ss/ß-Variante für "verbindlich" erklärt werden, die zudem schon einmal gescheitert ist? Es funktioniert nicht gut, das steht fest und sollte als Grund für die Ablehnung zunächst einmal ausreichen. Adelung funktioniert in der Praxis bestens (bis auf das/daß, aber das Problem existiert ja in verschärfter Form weiter). Von daher gibt es außer der Sturheit der Kultusminister und der Dreistigkeit Karl Blümls in seinem Interview in der "Woche" zunächst keinen Grund, Adelung zu rechtfertigen. Wer ein funktionierendes System ändern will, muß Argumente vorbringen. Das wäre dann Ihre Aufgabe ;-)
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 18.04.2006 um 23.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3840

Herr Ickler lehnt die Trennung beis-sen, die nun auch Bestandteil der Neuregelung ist, ab.

Ich finde es schade, daß Herr Ickler hier nicht mitdiskutiert. Als ich ihn einmal um eine Definition des Wortes Silbengelenk bat, meinte er, es sei ein silbenphonologischer Begriff und die Definition von Lauten sei bereits problematisch. Weiter nichts. Ich dachte mir: Wenn man es darauf anlegt, kann man selbst die wichtigsten Diskussionen so in eine ungangbare Richtung lenken, daß man keinen Schritt mehr weiterkommt.

Solange sich niemand "vom Fach" zu den Zusammenhängen zwischen Aussprache und Schreibung äußern möchte, wird es wohl kaum zu einer Klärung kommen.
Ein Bedarf scheint aber zu bestehen. Hat dieser Thread nicht schon Rekordlänge erreicht?

Auch die Leipziger Studie (Marx) könnte uns weiterhelfen. Weiß jemand noch das Ergebnis? (Ich meine nicht das von der Bild veröffentlichte.) Ich glaube nicht, daß Herr Marx mir zuliebe einen Stapel Kopien versenden würde - ich bin ihm ja völlig unbekannt. Aber wahrscheinlich werde ich ihn doch noch darum bitten, damit wir endlich eine Diskussionsgrundlage haben.
 
 

Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 18.04.2006 um 11.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3836

Die von Herrn Wrase zu Recht kritisierte Trennung Grö-sse war nach altem Duden vorgeschrieben. Natürlich hat das kaum jemand gemacht. Ich habe allerdings beim Gugeln nach dem Parallelfall bei-ssen eine Friedhofsordnung aus einem Ort bei Basel gefunden, die tatsächlich diese Trennung enthält.

M.E. ist die Silbenregel nur einer unter mehreren möglichen Anhaltspunkten für gute Trennung. Persönlich richte ich mich nach folgender Heuristik: Falls nicht eine Zusammensetzungsfuge vorliegt, trenne ich so, daß möglichst viele Konsonanten in die neue Zeile kommen, falls sich dort eine passend anlautende SIlbe bildet. Das schließt z.B. die klassische muta-cum-liquida-Regel ein. Nach dieser Heuristik ist allerdings auch die Trennung Grös-se der vorgeschriebenen Grö-ße vorzuziehen, da keine Silbe mit ß anlautet. Zugegebenermaßen paßt die Trennung vor ch auch nicht gut.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 18.04.2006 um 10.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3835

R. M.: "Herr Ludwig erinnert zu Recht daran, daß man nie ein liebgewonnenes Beschreibungssystem mit der Wirklichkeit verwechseln sollte. Das gilt gerade für das Verhältnis von Schrift und Rede.
Die Schweizer haben immer schon gros|se getrennt – die Deutschen gewöhnlich auch, wenn sie ohne ß schrieben, nur der Duden wollte das nicht anerkennen."

Volle Zustimmung zu allen Kommentaren, Ergänzungen und Verbesserungen (betreffend zum Beispiel die Silbenstruktur, die doch nicht ganz so einfach zu erfassen sein dürfte, wie ich es dargestellt hatte). Auch hier Zustimmung zu den allgemeinen Sätzen. Dafür ist die an sich richtige Bemerkung zur Schweizer Trennung gros|se aber nicht als Erläuterung geeignet.

Die Trennung gro|sse, wie sähe das denn aus? Genauso häßlich und sprachwidrig, wie wenn man am Zeilenanfang rr, ff oder tt hätte. Wenn man schon einen Doppelbuchstaben als Notbehelf für einen Konsonanten nach langem Vokal hinzunehmen gezwungen ist, muß man es sich nicht auch noch antun, das ss am Anfang einer Silbe und am Anfang der Zeile zu präsentieren. Da ist offensichtlich das Bedürfnis vorrangig, die Trennung so durchzuführen wie in allen sonstigen Fällen von ss, mm, ll usw., das heißt so, als ob ss hier nicht als Notbehelf für ein Sonderzeichen dienen, sondern in seiner regulären Verwendung vorliegen würde. Vermutlich ist es auch einfacher, als die Trennstelle ständig hin und her zu schieben: gro|sse neben las|sen usw. Die regelmäßige Handhabung sieht wahrscheinlich auch für den Leser angenehmer aus.

Aus der Frage, welche von zwei möglichen Lösungen für diesen unangenehmen Notfall gewählt wurde, läßt sich m. E. jedenfalls nicht ableiten, welche Auffassung die Schweizer von der Silbenstruktur von Wörtern wie Größe bzw. Grösse haben. Falls Schweizer teilweise die Auskunft geben, es lägen die Silben Grös – se vor, ist dabei sicherlich ein Rückschluß aus dem gewohnten Schriftbild in Rechnung zu stellen. Dieser Sonderfall taugt somit nicht zur Klärung der Frage, wie leicht oder eindeutig Silbenstrukturen erkennbar sind.
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 18.04.2006 um 10.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3834

Prophete rechts, Prophete links

Die hochinteressanten, fesselnden und tiefgründigen Betrachtungen Herrn Wrases und anderer zum Schreiben nach Vokallänge, -kürze oder was auch immer, jedenfalls nach Gehör, führen bei mir zu der Frage, was das Schulkind, besonders auch dasjenige ausländischer Herkunft damit anfangen soll. Von da geht es natürlich sofort weiter zum Lehrer. Die Schüler müßten, wenn sie diesen Weg gehen sollen, zuerst das allerkorrekteste Sprechen lernen. Und selbst dies würde keine verläßliche Grundlage bieten. Wir alle, die wir nicht die geringste Mühe mit s, ss, ß haben, sollten uns fragen, wieso. Und dann versuchen, dies auch für den Lerner fruchtbar zu machen.
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 18.04.2006 um 06.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3832

Sie haben recht, Chr. Schäfer, Herrn Wrases und meine Ideen klaffen gar nicht so weit auseinander. Ich argumentiere gar nicht gegen ihn; auch wie er die Problematik seinen Klienten zu erklären versucht, — es funktioniert. Selbst die Verwendung der "falschen" Bezeichnungen "kurz" und "lang" funktioniert, solange die Lernenden mitbekommen, daß mit "lang" das zuhöchst geschlossene "i" in "ihn" und mit "kurz" das etwas offenere "i" in "in" gemeint ist. Ich "erkläre" das mit dem "ß" und "ss" meinen Studenten auch mit "kurz" und "lang", wobei ich sogar noch einen nicht ganz sauberen Trick verwende: Ich schließe alle Problematik mit dem einfachen "s" fürs stimmlose "s" aus und beginne: "Wenn das Problem "ß" oder "ss" ist..." Total unsauber ist das nicht, denn tatsächlich machen die Lerner zum einen sehr wenig Fehler mit den "s" in "das", "welches", "Hindernis" und "Frist", "Frost", "Trost", "fasten", "lispeln" und "Haus", "Gans" und "verreist", und zum andern lernen sie eben durchs Vorbild. (Auch die erste Gruppe [das, des Mannes, Bildnis, aus usw.] läßt sich übrigens zusammenfassen; und die "Erklärung" ist zwar richtig, aber löst eigentlich kein Problem beim Schreiben, denn die Erfahrung zeigt, da liegt ja keins vor.)
Ich hatte mit meinem Beitrag nur zeigen wollen, daß oft "leichte" Erklärungen nur scheinbar leicht sind und daß sie oft am wirklichen Problem vorbeigehen. Sie haben völlig recht mit Ihrem Hinweis auf die Hilfe durch "die hinlänglich bekannten Faustregeln", die mit der linguistisch problematischen "Silbierung" eingeschlossen. Die haben tatsächlich auch wenig geübten Schreibern helfen können, der allgemeinen Gewohnheit entsprechend, also richtig zu schreiben. Selbst wenn bei "ß" und "ss" im gleichen Wortstamm Fehler auftauchten, so war das m. E. mehr der Interferenz durch das Schweizer Vorbild zuzuschreiben (und Leuten, die auf der Schreibmaschine das "ß" nicht benutzen wollten oder konnten) als wirklicher Schwierigkeit bei der Erfassung des Problems. Meine Lösung des "ß/ss"-Problems: Immer "ß", außer wenn zwei Bedingungen erfüllt sind, a. der /s/-Laut muß intervokalisch und b. der vorausgehende Vokal muß kurz sein. Und wenn ich dies jedes Jahr wiederhole — ähnlich wie Herr Wrase, "damit der andere etwas davon hat, wenn er das nächste Mal unsicher ist" —, lächle ich in mich hinein, denn ich weiß, meine Studenten lernen auf jeden Fall die drei, vier Beispiele, mit denen ich diese Regel an der Tafel erkläre, und die anderen "Beispiele" lesen sie sich an, — so sie natürlich lesen!

Übrigens ist auch die "Behauptung" unseres Germanisten richtig: So mancher "standarddeutsch" kurze Vokal wird in Dialektgebieten gelängt und sogar diphthongiert gesprochen ("das" – "doas"; bei mir zu Hause war "der Bach" sogar "die Bache", mit langem "a" gesprochen!); bei "Glas" und meist auch bei "Gras" haben wir beide Längen schon im "Standard". Begründet ist auch unseres Germanisten Befürchtung "Eine Umschulung auf eine einheitliche hochdeutsche Aussprache ist unter Umständen in Deutschland denkbar." Bei den Kultusbeamten, die wir von der Regierung vorgesetzt bekommen, und deren Verständnis in Sachen Kultur sind derartige Umstände leider gar nicht so absurd!
 
 

Kommentar von tk, verfaßt am 18.04.2006 um 06.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3831

Sehr geehrter Herr Ludwig,

Das Einfache an der ß/ss-Schreibung vor der Reformfummelei lag darin, daß die Lehrer wußten, in welchen Wörtern und welchen Wortformen wir "ß" und in welchen wir "ss" schreiben, und daß sie es den Schülern durch Beispiel beibringen konnten.

Dem möchte ich voll und ganz zustimmen. Früher wußten die Lehrer (oder handelten zumindest entsprechend), daß die Schreibung des s-Lautes sich nicht in zwei einfache Regeln pressen läßt. Heute denkt jeder, jetzt sei alles „logisch“, bloß weil die triviale (Ausnahme-)Regel, daß ss vor Konsonant und am Silbende zu ß wird, nicht mehr gilt, und dann kommen solche falschen Regeln heraus wie „Nach kurzem Vokal immer ss.“
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 18.04.2006 um 04.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3830

Herr Ludwig erinnert zu Recht daran, daß man nie ein liebgewonnenes Beschreibungssystem mit der Wirklichkeit verwechseln sollte. Das gilt gerade für das Verhältnis von Schrift und Rede.
Die Schweizer haben immer schon gros|se getrennt – die Deutschen gewöhnlich auch, wenn sie ohne ß schrieben, nur der Duden wollte das nicht anerkennen.
 
 

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 18.04.2006 um 02.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3829

Herzlichen Dank für diese Zeilen, Herr Ludwig. Ich stimme Ihnen überwiegend zu und bin erst jetzt auf den Gedanken gekommen, daß die Idee zur Wiederbelebung der Heyse-Schreibung ihren Ursprung in der "Idealvorstellung" der Reformer von der Abschaffung der "Dehnungszeichen" gehabt haben könnte. Anscheinend waren hier verkürzte Vorstellungen von Phonetik im Spiel.

Indes würde ich Ihre und Herrn Wrases Vorstellungen durchaus nicht als einander ausschließend bezeichen. Was ein Silbengelenk ist, läßt sich durchaus, wenn auch nicht mit absoluter Sicherheit, hören. Den letzten Schliff in Sachen Adelung erhalten Lernende dann beim Lesen und Üben, unterstützt durch die hinlänglich bekannten Faustregeln. Daß die Anwendung der Adelungschen s-Schreibweise ganz überwiegend unfallfrei möglich ist, zeigen die Texte selbst wenig geübter Schreiber vor der Reform. Zu meinem Bekannten- und Freundeskreis zähle ich durchaus nicht nur Akademiker, sondern auch Hauptschulabsolventen, die gewiß nicht besonders sattelfest in Orthographie sind. Seltsamerweise ist bei diesen die korrekte Anwendung Adelungs so gut wie nie ein Problem, und die statistische Häufigkeit von s-Fehlern bewegt sich in etwa auf dem Niveau von Tippfehlern. Das trifft jedoch nur zu, solange sie sich an Adelung halten. Bei Heyse ist die Sache hoffnungslos, weil diese netten Menschen für Sprachmelodien einfach kein Ohr haben und auch nicht haben sollten, um richtig zu schreiben. Und wie uns die Zeitungen täglich vor Augen führen, sind nicht nur Wenigschreiber damit überfordert.

Am Rande übrigens noch eine Erfahrung aus Diskussionen mit Heyse-Befürwortern: Diese betonen, einmal "in die Ecke getrieben", gerne, die Heyse-Schreibung sei doch ein idealer Anlaß, die korrekte hochdeutsche Aussprache zu lernen. Die Kinder werden es den Reformern bestimmt danken!
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 18.04.2006 um 01.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3828

Wolfgang Wrases Hilfesucher haben völlig recht: "Wolfgang, tut mir leid, ich kann das einfach nicht sagen. Ich sage dir es offen, ich weiß nicht, ob der Vokal in Straße lang ist oder nicht." Warum können die das nicht? Nun, nicht weil sie nicht sehr intelligent sind, sondern weil sie sehr gut hinhören! Der Unterschied zwischen dem "o" in "Roß" und dem in "groß" ist nämlich gar nicht aufs genaueste mit der Länge des Vokals, sondern nur mit der Art des Vokals beschreibbar. Es sind zwei verschiedene Vokale, die wir traditionell zwar, aber eben trotzdem leider nicht richtig, mit den Adjektiven "kurz" und "lang" auseinanderhalten. Wir hätten "kurze" und "lange" Selbstlaute, das ist uns allen einfach anerzogen worden, und wir reden es einfach nach. Aber längen Sie mal das "a" in "As" und finden Sie selbst heraus, ob dadurch Ihr "Aas" produziert wird. Und kommen Sie ohne Änderung der Vokalqualität von "Kuß" zu "Gruß" und von "küss'" zu "grüß'" und von "offen" zu "Ofen"?

Natürlich brauchen wir das alles nicht zu wissen, weil wir als Muttersprachler alle ja phonemisch richtig sprechen. Dennoch hülfe es, wenn der Grammatik-Duden diese Laute richtig beschrieben hätte und vor falscher Beschreibung ausdrücklich gewarnt hätte, so daß die Leute nicht auf jede nur scheinbar einfache "Erklärung" hereinfallen. Denn auf einmal brauchen wir bei der Verschriftung die Kenntlichmachung des einen der zwei sehr nahe beieinander ausgesprochenen Vokale durch Verdoppelung des folgenden Konsonantenbuchstaben, bei dem anderen der zwei haben wir kein besonderes Kennzeichen (Namen) oder aber andere Kennzeichen (nahmen), die wir nun konsequent zwar, aber ebenso unrichtig, "Dehnungs-h" (oder Dehnungs-e [Soest] oder Dehnungs-c [Mecklenburg]) nennen.

Allerdings stimme ich Herrn Wrase nicht zu, wenn er sagt: "Die Silbenstruktur ist absolut eindeutig und leicht lernbar." Denn wir sprechen ja normalerweise nicht so langsam, daß wir die Silben "heraushören"; und wenn wir es manchmal, in ganz außergewöhnlichen Fällen doch tun, dann wiederholen wir meist nur, was wir zur Silbentrennung beim Schreiben gelernt haben. Jedenfalls ist m. E. die Trennung von "Wasser" am "Silbengelenk" eingeübt (Silbenklatschen); denn die Aussprache dieses Wortes ist die gleiche wie "wasser" in "Was er gesagt hat" mit unbetontem "er"! Und wer das "Silbengelenk" hinters sog. "kurze a" legt, ist ebenfalls nicht unintelligent; er hat nur im Unterricht nicht immer zugehört. Die Ausdehnungsprobe hilft hier nicht. Ausgedehnt ist "Waaaaaa-sser" ebenso möglich wie auch "grooooooß-ße".
"Deshalb war auch die ss/ß-Schreibung vor der Reform einfach. Sie war ebenso eindeutig und einfach wie die Silbentrennung." Ja und nein! Nein, denn genügend Leute fragten Wrase "jahrelang" nach der doch eigentlich so einfachen Schreibung. Ja, denn sie *war* so einfach wie die Silbentrennung; — aber eben die ist im Grunde gar nicht so einfach mitgegeben! Trennen nun die Schweizer "gro-sse" oder "gros-se"? Und selbst beim betonten "er" in "Was er gesagt hat": Wer sagt denn, daß in einer Dialektvariante *"Wassehr gesagt hat" der Kehlkopfknacklaut am Beginn von "er" nicht ans vorausgehende "s" assimiliert ist und das "Silbengelenk" nicht mitten im stimmlosen "s" liegt?
Das Einfache an der ß/ss-Schreibung vor der Reformfummelei lag darin, daß die Lehrer wußten, in welchen Wörtern und welchen Wortformen wir "ß" und in welchen wir "ss" schreiben, und daß sie es den Schülern durch Beispiel beibringen konnten. Aber es gab auch Leute, die damit Schwierigkeiten hatten, sogar deutsche Doktoranden fürs Fach Deutsch. Ich erinnere mich an einen Fall, wo "Flüße" als Pluralform von "Fluß" ausgegeben wurde! Solchen Leuten wollten die Reformer großzügig helfen. Dabei ist es pädagogisch viel besser, den Lernenden richtig geschriebene Texte vorzusetzen. Damit lernt man richtig schreiben.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 17.04.2006 um 23.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3827

Ich behaupte, daß in manchen Gegenden innerhalb des ehemals viel größeren deutschen Sprachgebietes z.B. auch Wasser als [Waaßer] gesprochen wurde oder noch wird. Ich behaupte, daß eine Rechtschreibung nach Vokallängen und -kürzen der deutschen Umgangssprache wesenfremd ist, wenn man das gesamte deutsche Sprachgebiet betrachtet. Eine Umschulung auf eine einheitliche hochdeutsche Aussprache ist unter Umständen in Deutschland denkbar, aber in Österreich und der Schweiz ausgeschlossen. Ich behaupte, daß sie gar nicht wünschenswert und der Verzicht auf landschaftliche Sprachakzente ein Verlust wäre.
 
 

Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 17.04.2006 um 22.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3826

Ich möchte borellas Argument noch etwas verschärfen. DIe wesentliche Auswirkung der Heyse-Schreibung ist die, daß das ß jetzt sehr viel seltener vorkommt. Die Frage, ob es in diesen Fällen noch etwas nützt, beantwortet sich leicht, indem man die Frage stellt, was an der Schweizer Schreibweise anstössig bleibt: praktisch nichts. Die Alternative besteht also zwischen einer nützlichen Funktion (bei Adelung) und Schweizer Schreibweise mit einer unnützen Sonderregelung (Heyse).
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 17.04.2006 um 22.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3824

Ich meine, man kann sehr wohl unterscheiden, welches Modell dem Schreiber leichter zugänglich ist. Im Moment ist dies deshalb verdeckt, weil tk seine Frage auf den Fall Wasser (Beispiel) gerichtet hat. Hier ist der Vokal ganz eindeutig kurz, gleichzeitig ist aber auch das Silbengelenk als solches unmittelbar erfaßbar; sicherlich mit einer gewissen Unterstützung durch den besonders kurzen betonten Vokal, aber der Schreiber ist nicht von der Vokalbetrachtung abhängig. Praktisch sah und sieht es so, aus, daß das Wort Wasser gar nicht anders geschrieben werden kann. Wie denn sonst?? Waser, Waßer, Waßßer – das kam doch alles gar nicht vor. Also, dies ist nicht das Problem. Es gab keine Fehler, es gibt keine Fehler. Die Diskussion, in welchem Maße Vokalkürze und Konsonantenverdoppelung (hier aufgrund von hoher Konsonantenquantität und zugleich aufgrund der Verteilung auf beide Silben) nun zusammenhängen oder um die Aufmerksamkeit des Schreibers konkurrieren, ist in diesem Fall müßig. Die Reform war für Wasser absolut nicht nötig, sie schadet aber auch in diesem speziellen Fall nicht, weil die Schreibung eben gar nicht anders aussehen kann, ausweislich einer minimalen Fehlerquote.

Interessant wird es erst bei den sogenannten langen Vokalen im Sinn der Reform. Hierauf ist das Augenmerk zu richten, wenn es um die Frage geht, welche Regelung mehr oder weniger einfach ist, das heißt welche Regelung auf Dauer mehr oder weniger Fehler produziert. Und da fehlt tk offensichtlich die Erkenntnis oder die Erfahrung, daß es für viele Menschen eben wirklich nicht einfach oder sogar unmöglich ist, den Vokal in einem Wort wie groß als lang zu erkennen. Aber in der Tat: Was soll an diesem Vokal eigentlich lang sein? Er ist in aller Regel eher kurz als lang. Er ist jedenfalls nicht besonders lang, oder? Die beste Beschreibung für den Normalfall ist meiner Meinung nach: Der Vokal ist etwas weniger kurz als der Vokal in Wasser. Wirklich lang wäre ein Vokal, den man in der Schreibung so wiedergeben könnte: groooooß. Das wäre eine überzeugende, sofort erfaßbare Länge. Aber so spricht man normalerweise nicht! Und deshalb müssen viele Leute nun erst einmal diese Dehnbarkeitsprüfung durchführen: Man spricht zwar normalerweise nur "groß" oder höchstens einmal "grooß", aber man könnte zur Not und ganz ausnahmsweise auch sagen: "groooooß". Aha! Der Vokal ist lang. Erst auf diesem Umweg erschließt sich die "Länge" wirklich. Oder aber, wenn man jeweils eine Gegenüberstellung mit einem eindeutig kurzen Vokal herstellt. So erklärt es sich unmittelbar, daß die Leute treu und unterwürfig die Neuregelung anwenden wollen und dabei so häufig die Schreibung gross hervorbringen: Der Schreiber hat jeweils nichts von einer Länge bemerkt! Also macht er es, wie er es nach kurzen Vokalen machen soll, und schreibt mit Doppel-s.

Indirekt wird es noch deutlicher, wenn man betrachtet, wie häufig die Fehler noch immer im Fall der Diphthonge sind: aussen, heiss usw. Dabei ist es ja so, daß die Diphthonge im Prinzip etwas mehr Dauer in Anspruch nehmen, weil man von einem Vokal zum andern erst einmal wechseln muß, bevor der Konsonant folgt. Man muß zwei Vokale sprechen, nicht nur einen. Aber immer noch kann man mit voller Berechtigung fragen: "Was soll denn an dem "au" oder an dem "ei" bitte lang sein? Für mich ist das kurz." Natürlich spielt hier eine Rolle, daß die Dehnbarkeitsprüfung zu einem falschen Ergebnis führt, wenn der Schreiber immerhin schon so fit ist, sie durchzuführen, aber noch nicht so fit, daß er bemerkt, daß die Längenbetrachtung bei Diphthongen gar nicht gefragt ist, weil hier die Antwort unabhängig von dem Ergebnis, zu dem er gelangen würde, als "lang" vorgegeben ist. Auch bei Diphthongen mangelt es, wenn man ehrlich ist, an einer unmittelbar erfaßbaren Länge, und das, obwohl sie mindestens soviel Zeit in Anspruch nehmen wie ein normal, also zügig gesprochenes o in "groß" oder "große".

Also: Kurze Vokale sind zwar einfach zu erkennen, aber hier hatten wir sowieso keine Probleme, die Reform bringt keinen Vorteil. Bei "langen" Vokalen hingegen wird es ernst. Hier ist die angebliche "Länge" tatsächlich für viele nicht leicht zu erfassen, ebenso bei Diphthongen, bei denen die Schwierigkeit hinzutritt, daß man die Länge gar nicht prüfen, sondern automatisch zuordnen sollte.

Und nun die bisherige Regelung. Sie war an der Silbenstruktur orientiert, nicht an der Länge der Vokale. Sehen wir uns die Silbenstruktur im Fall der "langen" Vokale und der Diphthonge an. Man lernt die Silbengliederung, indem man die Zäsur zunächst der Klarheit halber überdeutlich ausdehnt: groooß. (Eine Silbe, sowieso kein Problem.) grooo---ße. auuu---ßen. heiiiß. (Eine Silbe, sowieso kein Problem.) heiii---ße. Also, wo gab es hier ein Problem?? Wie denn sonst hätte getrennt werden sollen? Die Silbenstruktur ist absolut eindeutig und leicht lernbar. Deshalb war auch die ss/ß-Schreibung vor der Reform einfach. Sie war ebenso eindeutig und einfach wie die Silbentrennung.

Nun nehme man noch hinzu, worauf Germanist hinweist: Man muß auch sonst nicht die Vokallänge systematisch prüfen. Dieser Zwang zur Vokallängenprüfung ist und bleibt ein Fremdkörper im Schreibprozeß. Und das ausgerechnet bei s/ss/ß, wo die Verteilung der Zeichen nun wirklich komplizierter ist als bei allen anderen Konsonanten. Deshalb bräuchte man gerade hier eine besonders solide und eingängige Regel, keine Spezialprüfung, die die sonstigen Anforderungen übersteigt. Anderes kommt erschwerend hinzu, zum Beispiel manchmal eine irreführende Aussprache in Dialekten. Germanist hat das ebenfalls treffend formuliert.

Ich wurde jahrelang von meinen Klienten angerufen, teilweise auch heute noch, und gefragt: "Wolfgang, wie schreibt man Straße, mit ss oder mit scharfem s? Wie schreibt man Fußball? Wie schreibt man heiß?" Ich dachte jeweils: "Komisch, das habe ich doch schon so oft erklärt, das müßte sich doch allmählich herumgesprochen haben." Ich füge fast jedesmal die Regel hinzu, damit der andere etwas davon hat, wenn er das nächste Mal unsicher ist: "Nach langem Vokal ß, nach kurzem Vokal ss. Diphthonge gelten grundsätzlich als lang." Manchmal fragte ich nach, um den Lernprozeß zu festigen oder zu kontrollieren: "Und, ist der Vokal in Straße lang oder kurz?" Dabei ergab es sich manchmal, daß auch Schreiber, die ich für sehr intelligent halte und von denen ich es nie gedacht hätte, antworteten: "Wolfgang, tut mir leid, ich kann das einfach nicht sagen. Ich sage dir es offen, ich weiß nicht, ob der Vokal in Straße lang ist oder nicht."

Diese Erfahrungen seien hiermit denjenigen mitgeteilt, die nicht aufhören zu verkünden, wie überaus schön, einfach und leicht lernbar die neue ss/ß-Regelung sei.
 
 

Kommentar von borella, verfaßt am 17.04.2006 um 21.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3823

Durch die Diskussion zwischen tk und Hr. Wrase angeregt, stelle ich für mich persönlich fest:
Beide Sichtweisen sind augenscheinlich angreifbar. Wahrscheinlich reicht für beide Modelle Sprachgefühl alleine nicht, man muß einfach eine gewisse Zusatzerfahrung haben (durch Lernen bzw. Lesen angeeignet).
Die Entscheidung für eine der beiden treffe ich persönlich dann auch gar nicht im Kernbereich. Ich treffe sie dort , wo die Frage der Lesefreundlichkeit gestellt wird.
Und das ist dort, wo eine Verdreifachung des s' auftritt.
Kann man die beiden Modelle zunächst noch als ähnlichwertig betrachten, so trennt sich für mich spätestens bei der Schreibung von "Kongresssaal" die Spreu vom Weizen.
Hier gewinnt für mich eindeutig die lesefreundliche Variante "Kongreßsaal" und damit die s-Schreibung nach Adelung.

 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 17.04.2006 um 19.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3822

Sehr geehrter tk,

bitte denken Sie doch erst einmal selber nach, bevor Sie immer wieder dieselbe Frage stellen und dann behaupten, "wir" würden uns im Kreis drehen. Wo und an welchen Stellen kamen Fehler vor? Wie viele? Warum? Was spielt dabei eine Rolle? Wie häufig sind die Fälle? Wer ist wann betroffen? Das sollten Sie schlüssig und realistisch beantworten können, anstatt zum x-ten Mal mit denselben Fragen und Behauptungen anzukommen. In diesem Fall dreht es sich um Ihr Dogma: "Ohne die Beurteilung der Vokalkürze kann man ein folgendes Silbengelenk nicht erkennen."

Ich hatte Ihnen doch schon ein Kind vorgeführt, das die Silbengliederung lernt: nennnnn-nen, gemisssss-sen usw. Ganz viel n, ganz viel s. Es stimmt zwar, daß das i kurz ist, aber achtet das lernende Kind darauf? Wir konzentrieren uns doch auf den Silbenwechsel selbst, auf den ausgebreiteten Konsonanten. Dabei bemerkt man, daß er sowohl zum Ende der ersten Silbe gehört wie zum Anfang der zweiten Silbe. Also, man kann hier die Silbenstruktur sehr wohl erkennen, ohne auf die Vokallänge zu achten. Daß etwas regelmäßig in der Nähe einer Struktur vorhanden ist, heißt doch nicht, daß man es mit beachten oder gar vorrangig beurteilen muß, um die Struktur selbst erkennen zu können, oder?

Es kann zum Beispiel sein, daß Sie blaue Augen haben. Es schreibt in diesem Fall immer jemand mit blauen Augen, wenn "tk" schreibt. Aber das heißt doch nicht, daß ich diese blauen Augen erkennen oder auf sie achten muß, um den Schreiber "tk" zu erkennen, oder?

Ich gebe Ihnen zehn Freischeine für Beiträge, in denen Sie behaupten: "Man kann nur erkennen, daß es ein Silbengelenk ist, wenn man die Vokallänge beurteilt." Darauf gebe ich Ihnen jeweils diese Antwort hier. Zur Entlastung der übrigen Leser schlage ich vor, daß wir uns jeweils die Niederschrift sparen.
 
 

Kommentar von tk, verfaßt am 17.04.2006 um 12.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3817

Sehr geehrter Herr Wrase,

ich fürchte, wir drehen uns im Kreis:

Entweder am Ende oder am Anfang, dann ß: heiß, hei-ße. Oder über die Silbengrenze hinweg, dann natürlich ss: geschmis-sen. ­– Woran erkennt man denn nun, daß der s-Laut hier eine Silbengrenze überspannt, aber in aßen, Maßen oder Soße nicht, wenn man die Vokallänge nicht (er)kennt?

Was mein Beispiel mit dem schpitzen Schtein angeht, haben Sie natürlich recht, daß es für st und sp im Anlaut die von Ihnen genannte universal geltende Regel gibt. Ich wollte mit meinem (schlechten) Beispiel auch nur darauf hinweisen, daß Germanists Behauptung übertrieben ist. Vielleicht gefallen Ihnen diese Beispiele besser: meischtens für meistens bei den Schwaben oder konnst für kannst bei den Bayern? (Ich bin weder Schwabe noch Bayer, hoffe aber, nicht allzu falsch zu liegen). Im übrigen sprechen manche ja auch Honig mit einem g am Ende; hier scheinen die Hochdeutschen im Nachteil zu sein.
 
 

Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 17.04.2006 um 11.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3816

Das für mein Gefühl schwerwiegenste Argument gegen die Heyse-Schreibung ist, daß die geforderte Unterscheidung der schriftlichen hochdeutschen Sprache auch sonst nicht zu eigen ist. Nehmen wir z.B. das Wort "weg", einmal als "der Weg" lang, andererseits bie "lauf weg" kurz. Längen- und Kürzemarkierung sind die gewöhnlich Ausnahmen, bei Heyse werden sie zum Regelfall.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 17.04.2006 um 02.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3815

Zu Germanist / tk:
Germanist hat recht, jedenfalls enthält die Bemerkung von tk kein Gegenargument. Daß man am Silbenanfang niemals scht oder schp schreibt, sondern st bzw. sp, obwohl die Standardaussprache mit einem sch-Laut beginnt, ist eine ganz einfache Regel. Natürlich haben die Hamburger damit erst recht kein Problem. Die Regel gilt immer, das macht sie so einfach und problemlos automatisierbar. Ganz anders die reformierte ss/ß-Schreibung.

Es ginge ja noch, wenn man sich wortweise merken müßte bzw. könnte, ob mit ss oder mit ß geschrieben wird. Das haut aber nicht hin, weil die Schreibung beim selben Wort wechseln kann, hin und her je nach der genauen Beugungsform. Bei der reformierten Schreibung braucht man deshalb ein sicheres Gespür dafür, ob der vorhergehende Vokal "lang" oder "kurz" ist, um die Schreibung richtig auszuwählen, z. B. heißen – hieß, schmeißen – geschmissen. Ein Dialektsprecher wird immer wieder auf die falsche Fährte gelockt und schreibt dann unter Umständen: geschmießen. Google liefert dafür Belege.

Das Kriterium "lang" vs. "kurz" ist alles andere als verläßlich, auch deshalb, weil es im Grunde "dehnbar" vs. "nicht dehnbar" bedeutet, allenfalls bedeutet es relative "Länge" vs. relative "Kürze" im Vergleich zum jeweils anderen Typ; bei normaler, variierender Sprechgeschwindigkeit könnte man die verschiedensten Ergebnisse erhalten. Dazu kommt noch die Durchmischung mit der formalen Regel, daß Diphthonge grundsätzlich "lang" seien, obwohl sie gerade nicht dehnbar sind; das heißt, man muß die Prüfung in dieser Hinsicht jeweils zuverlässig abschalten können.

Insgesamt müßte es einleuchten, daß mehr Mitbürger damit Schwierigkeiten haben als mit dem einfachen, soliden Kriterium der unreformierten Schreibung, wo in der Silbe der s-Laut steht. Entweder am Ende oder am Anfang, dann ß: heiß, hei-ße. Oder über die Silbengrenze hinweg, dann natürlich ss: geschmis-sen. Das ist auch so eine Regel, die praktisch immer gilt, also ganz einfach ist (über tz und ck und Ausnahmen wie Feta gehe ich hinweg). Die Automatisierung der Regel lautete: "Wörter mit ss/ß schreibt man mit ß. (Die Ausnahmen mit ss drängen sich von selbst auf, das mache ich dann schon richtig.)" Eine einfache Regel, gegebenenfalls automatisch außer Kraft gesetzt durch eine noch stärkere Regel.

Man sieht das alles an den Fehlerquoten. "Mir macht das aber keine Probleme" ist kein Gegenargument. Es geht darum, was für die Sprachgemeinschaft insgesamt leichter oder schwerer ist, einschließlich der weniger Begabten, der weniger Geübten und der Dialektsprecher.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 17.04.2006 um 01.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3814

Hie und da gebräuchlich schon, aber sicher nicht mehr üblich im Sinne eines vorherrschenden Gebrauchs.
 
 

Kommentar von borella, verfaßt am 16.04.2006 um 20.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3812

Nochmals zum langen ſ:
In einem Buch über Carl Bellingrodt (Eisenbahnfreunde werden den berühmten Eisenbahnfotografen sicher kennen) ist die Abbildung einer handgeschriebenen Karte aus dem Jahre 1947 abgedruckt. Es wird die Geburt "unſerer zweiten Tochter Urſula" (also zweimal mit langem ſ) bekannt gegeben. Als Adresse wird "Siegesſtraße" genannt.
Damals war das lange ſ also offenbar noch üblich.
 
 

Kommentar von tk, verfaßt am 08.04.2006 um 13.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3734

Für eine Schreibung nach Vokallängen oder -kürzen müßte man erst einmal allen Deutschsprechern die regionalen Ausspracheakzente austreiben. – Das scheint mir übertrieben: Auch außerhalb Hamburgs schtolpert niemand über einen schpitzen Schtein.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 08.04.2006 um 11.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3733

Für eine Schreibung nach Vokallängen oder -kürzen müßte man erst einmal allen Deutschsprechern die regionalen Ausspracheakzente austreiben. Um eine Analogie zu "My Fair Lady" zu benutzen: So reines Hochdeutsch spricht man nur im Ausland.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 08.04.2006 um 04.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3730

Lieber Herr Achenbach,

ich kann es durchaus nachvollziehen, daß meine Argumentation zumindest stellenweise zirkulär aussieht. Das ist aber nur so, wenn man sich im Bereich der Theorie bewegt. Die Theorie weiß nichts davon, ob in erster Linie die Silbenstruktur oder die Vokallänge das Kriterium ist, das den Schreiber bei der Konsonantenschreibung oder auch bei der Worttrennung leitet. Eine "Regelung" der Rechtschreibreform vollzieht nur auf einer theoretischen Ebene die Schreibungen nach, auf die sich die Schreibgemeinschaft geeinigt hat (vor der Reform) oder zu denen die Schreibgemeinschaft nach dem Willen des Staates und einiger Claqueure erzogen werden soll (jetziger Zustand).

Nicht einmal die Schreiber selber wissen, in welchem Maß und mit welchem Verhältnis sie diese kombinierbaren Kriterien erspüren und in welchem Maß unbewußt (automatisiert) oder doch ab und zu bewußt der Entscheidungsprozeß beim einzelnen Schreibvorgang abläuft. Argumentationen auf theoretischer Ebene (Regelformulierungen im Duden oder im reformierten Regelwerk) sind daher nicht besonders wirklichkeitsnah, sondern im Gegenteil eher abgehoben. Man vergißt dabei schnell, was man sonst "Anwenderfreundlichkeit" oder "Praxisrelevanz" nennt.

Eine Regel kann sehr logisch oder einfach aussehen, aber es kann dennoch sehr schwer sein, sie zu befolgen, weil sie in der Praxis eben nicht abgefragt und angewendet wird, sondern es können ganz andere Mechanismen das Bedürfnis bestimmen, so oder so zu schreiben. Man denke doch vor allem daran, daß die Schreiber selbstverständlich nicht bei jedem einzelnen Wort oder gar bei jeder Silbe irgendwelche Regeln heranziehen und Prüfungen veranstalten wollen, sondern das Schreiben läuft natürlich nach den ersten Grundschuljahren fast ausschließlich automatisiert ab. Dabei dürften Analogiebildungen eine ungeheure Rolle spielen: die Automatisierung der Gewohnheiten selbst und die Übertragung auf ähnlich aussehende Fälle. Wie oft wurde hingegen eine angeblich federführende Regel wie die von Ihnen zitierte aus dem Duden zum Ausgangspunkt der Entscheidung, ss oder ß zu wählen?

R 183: "Man schreibt ß im Inlaut nach langem Vokal (Selbstlaut) oder nach Doppellaut (Diphthong)." Hatte man etwa die Anwendung einer solchen Regel automatisiert? Das ist im höchsten Maße zweifelhaft. Zumindest ist es nicht so, daß die Schreiber unter der Anleitung durch diese Regel standen, nur weil sie im Duden so stand. Es wird zu Recht darauf hingewiesen, daß (jedenfalls vor der Reform) die meisten Leute gar nicht wußten, daß im Rechtschreibduden vorne Regeln drinstanden! Und viele Leute hatten auch gar keinen Duden. Ich möchte mal wissen, wer überhaupt diese Regel aufsagen konnte. Das war sicherlich nur eine winzige Gruppe von Spezialisten und Regelfanatikern. Das heißt doch auf deutsch: Man mußte die Regel überhaupt nicht kennen – und konnte dennoch genausogut schreiben, als wenn man sie kennen und jedesmal anwenden würde.

Ich gehe von der Praxis aus und beobachte zum Beispiel: Bei Silbengelenkschreibungen wie bellen oder Suppe kommen praktisch keine Fehler vor. Genauso bei den Trennungen: bel-len, Sup-pe. Diese Schreibungen sind also einfach, offenbar geradezu selbstverständlich. Das heißt: Sie sind für die automatische, gewohnheitsmäßige Anwendung besonders geeignet. Das spricht dafür, daß sie eine sprachliche Tatsache auf eine Weise wiedergeben, die dem Schreiber einleuchtet, so daß er eben nicht auf irgendeine Regel zurückgreifen muß. Unter anderem fällt doch auf, daß die Schreibung für alle Konsonanten gleichzeitig gilt: sehr günstig für die Anwendung.

Und das bedeutet, daß die Regelformulierung überhaupt keine Rolle spielt. Nur der Vollständigkeit halber wird die entsprechende "Regel" dann eben auch im Duden oder in einem sonstigen Regelwerk aufgeführt, wie immer sie da formuliert wird. Fragen wie "Woher soll ich denn wissen, daß ich Masse schreiben soll?" oder "Woher weiß denn der Schreiber, daß die Silben Mas-se vorliegen, wenn er nicht zuvor die Kürze des Vokals erkannt hat?" haben kaum etwas mit der Praxis zu tun. Das ist reine Theorie, die sich diesen Kopf zerbricht. Der Schreiber weiß es einfach, das ist die Wirklichkeit. Er macht es richtig, und die Herren Regelformulierer können, wenn sie Lust haben, anschließend mit ihrer Regel hinterherlaufen, als ob das Volk sie nötig hätte.

In ähnlicher Weise kann man nun beobachten, daß die ss/ß-Neuregelung eine enorme Zunahme der Fehler mit sich bringt. Davon würde ich bei der Diskussion dieses Themas ausgehen, nicht davon, ob die Regelformulierung schön logisch aussieht oder nicht. Offenbar verlangt sie etwas von den Schreibern, was ihnen nicht liegt, was in der Praxis nicht einfach ist und was sich vor allem schlecht automatisieren läßt.

Hier geht es vor allem darum: Was ist einfacher – Silben zu erkennen oder die "Länge" von Vokalen zu erkennen? Ich bin mir sehr sicher: Das erstere ist einfacher. Manche Schreiber sind so geübt oder persönlich so gelagert, daß sie die Vokallänge sofort beurteilen können, und neigen dann zu der Vorstellung, es müsse allen anderen Schreibern ebenso ergehen; oder sie neigen zu dem falschen Schluß, es könne keine Erschwernis mit etwas verbunden sein, was man selbst jedenfalls bewältigen kann.

Sicherheit in dieser wichtigen Frage müßte ein Test bringen, der schon längst zur Qualitätsprüfung der Rechtschreibreform im großen Maßstab hätte angesetzt werden müssen: Man nehme mindestens tausend Versuchspersonen und fordere sie auf, bei fünfzig relevanten Wörtern, die ss/ß enthalten, a) die Vokallänge vor dem s-Laut anzugeben, b) in einem separaten Durchgang die Wörter in Silben zu zerlegen, wie man es bei der Worttrennung am Zeilenende machen würde. Das Ergebnis würde eine sehr gute Voraussage erlauben, in welche Richtung und in welchem Maß sich die Fehlerquote im Bereich ss/ß auf Dauer durch die Reform verändern wird. Und das interessiert uns doch letztlich viel mehr, als ob eine Regel mehr oder weniger einfach klingt, nicht wahr?
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 07.04.2006 um 14.21 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3726

Lieber Herr Wrase,
mir kommt Ihr Kriterium leider immer noch zirkulär vor. Wenn ich nicht weiß, ob ich "Maße" oder "Masse" schreiben soll, weil ich die unterschiedliche Silbenlänge nicht erkennen kann, woher soll ich denn dann die richtige Silbentrennung kennen?
Wenn ich aber weiß, wie man "Masse" schreibt, weil ich irgendwann gelernt habe, daß diese unterschiedlichen Wörter unterschiedlich geschrieben werden, dann weiß ich in der Tat, daß ich "Mas-se" zu trennen habe, und zwar nicht von der Aussprache, sondern vom Schriftbild her. Deshalb hilft die Silbentrennung bei der ss/ß-Schreibung keinen Deut.
Die auf die Silbenlänge bezogene Regel für die ss/ß-Schreibung ist ja auch nicht eine Erfindung der Rechtschreibreform, sondern war ja schon im alten Duden enthalten:
"R 183 Man schreibt ß im Inlaut nach langem Vokal (Selbstlaut) oder nach Doppellaut (Diphthong)."
Die RSR hat diese Regel nur verallgemeinert, was vielleicht erklärt, warum die Neuregelung vielen "logischer" vorkommt.
 
 

Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 07.04.2006 um 13.52 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3725

Ich habe, lieber Herr Wrase, Ihre Erörterungen mit Freude gelesen, weil sie ein Grundproblem ansprechen, das mir auch in der Medizin täglich begegnet. Habe ich in meiner Studienzeit mit meinen Kommilitonen noch darum gewetteifert, wer die Erkrankung eines im Hörsaal vorgestellten Patienten am schnellsten erriet (wir waren erstaunt, daß unsere Ergebnisse rasch viel besser waren, als es nach unserem klinischen Kenntnisstand eigentlich hätte sein dürfen), darf man das heutigen Studenten gegenüber kaum mehr erwähnen, weil es mehr und mehr darum geht, an jeder Stelle des Vorgehens dokumentierbare und justizfeste Befunde vorzulegen. Was meine Mitstudenten und ich damals getan haben, war eine "pattern recognition" ohne wirkliche Kenntnis der das Muster ausmachenden Einzelelemente. Das paßt heute nicht mehr gut in die Zeit. Intuitive Erfassung der Wirklichkeit, ohne einen Abzählreim bei der Hand zu haben, mit dem ich meine Intuition in computergängige Segmente überführen kann, ist nicht in abrechenbaren Einheiten zu erfassen und deshalb heute unnütz.

Zum ss/ß-"Problem": Vor der Rechtschreibreform gab es keins. Mir wurde dazu auch nie eine Regel beigebracht, die ich beim Schreiben angewandt (und mich folglich auch an sie erinnert) hätte. Erst nach der RSR habe ich mich undeutlich darauf besonnen, daß meine Großmutter mir mal etwas zur Trennbarkeit gesagt haben muß, etwa so, wie ich es unter meiner "Eszett-Seite" (die inzwischen von erstaunlich vielen Leuten zitiert wird) unter "alte Regelung" zu dokumentieren versucht habe.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 07.04.2006 um 08.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3722

Herrn Wrases Ausführungen zur Geschlechtererkennung ist wirklich ein schönes Beispiel. Es zeigt, daß Menschen sehr schnell auch komplexe Zusammenhänge begreifen, ohne daß sie ihnen bewußt werden.
Wir sollten uns bei der Diskussion auch einmal dem Schreibenlernen zuwenden, und zwar ganz praxisnah. Ich glaube kaum, daß man Grundschüler mit Silbengelenken traktieren kann, auch nicht - wie es die Neuregelung nahelegt - mit Stämmen, bei bei denen es darauf ankommt, ob dem betonten Vokal ein oder zwei Konsonanten folgen. (Silben- und Voklallängen-Bestimmungen werden übrigens außerhalb betonter Stämme schwieriger.) Ich glaube auch nicht, daß heutige Schüler sich in ihrer Freizeit klammheimlich die alte Rechtschreibung aneignen, weil sie die neue, ohne die alte zu kennen, nicht lernen können. Ich meine, man hat auch früher den Unsinn gelehrt, daß nach einem kurzen Vokal der Konsonant verdoppelt wird.
Eigentlich ist das alles irrelevant. Man lernt nur zu einem geringen Teil nach Regeln. Die meisten Schreiber haben mit dem Wort Eimer kein Problem, egal wo sie die Silbengrenze ziehen, wenn sie dazu aufgefordert werden.
Daß Eingriffe, die zum Umlernen zwingen, für langanhaltende Verwirrung sorgen, wundert mich nicht. Es soll ja heute, zehn Jahre nach der Reform, noch Leute geben, die meinen, daß das Anredepronomen Sie jetzt klein geschrieben werde (ob sie das wirklich praktizieren, sei dahingestellt). Dabei ist dieses Thema nicht einmal besonders kompliziert und die Neuregelung sogar eine Erleichterung, wenn auch unzulässig.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 07.04.2006 um 06.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3720

Herr Achenbach, ob Sie nun "ist untrennbar verbunden mit" für eine bessere Formulierung halten als "korrespondiert mit", ist auch Geschmackssache. Ich habe meine Formulierung erstens deshalb gewählt, weil man doch in aller Regel Silbentrennungen richtig wählen kann, also die Silben erkennt, ohne sich über die Vokallänge Gedanken machen zu müssen. Jeder trennt ganz automatisch Af-fe, kom-men usw., nicht etwa nach dem Prinzip: "Wie lang ist der Vokal vorher? Kurz, also trenne ich nicht schon vor dem f ..." oder so ähnlich. Das ist abwegig.

Zweitens die Diphthonge, ganz genau: Da hätte man doch regelmäßig auf die Idee kommen müssen, heisse und weiss usw. zu schreiben, wenn die Vokallänge eine Rolle bei der Beurteilung gespielt hätte: genau wie jetzt massenhaft unter der Reform, wo die Vokallänge tatsächlich zur Entscheidung herangezogen wird und wo sich die Länge des Diphthongs vielen nicht erschließen will. Das kam aber praktisch nicht vor, weil man eben ein supereinfaches Kriterium hatte: Silbenanfang und Silbenende ß. Das war ebenso einfach, wie schon Kinder trennen können: hei-ße usw. Im Silbengelenk natürlich ss, wie bei allen anderen Konsonanten – hier gab es so gut wie keine Fehler! Dieser Befund verweist auf die Selbstverständlichkeit dieser Schreibung: Der Schreiber braucht sie nicht erst aufgrund einer Vokalbetrachtung herzuleiten.

Drittens gilt das Prinzip, ss/ß abhängig von der Silbenstruktur zu wählen, wie es meiner Meinung nach beim Schreiben (zumindest vorrangig) gemacht wurde, auch für einsilbige Wörter, während Sie mit Ihrer Vokallängenprüfung in die Röhre geschaut hätten: "Lang, also ß? Oder kurz, also ss? Ach so, das ist ein einsilbiges Wort, da muß ich das ja gar nicht prüfen, da haben wir sowieso immer ß." Es ist völlig unplausibel zu unterstellen, daß ein Schreiber es sich zur Gewohnheit machen würde, zunächst zu entscheiden, ob bei einem Wort die Vokallängenprüfung in Frage kommt (Silben zählen), um dann abwechselnd bei Gruß oder Kuß auf die Prüfung zu verzichten und sie bei Grüße oder Küsse durchzuführen, bei Grußformel oder Kußhand jedoch wieder nicht. Oder jedesmal stoisch die Frustration auf sich zu nehmen, wenn die Prüfung wieder mal umsonst war. Absurd!

Mir scheint, die Rechtschreibreform hat bei einigen Herren in unserem Kreis den Effekt ausgelöst, daß sie sich überhaupt nicht mehr vorstellen können, ohne Vokallängenprüfung richtig schreiben zu können, selbst wenn sie die traditionelle Rechtschreibung bevorzugen.

Daß die Vokallänge mit der Silbenstruktur korrespondiert, trifft zu, es heißt aber noch lange nicht, daß sie ein praktikables Kriterium für die Wahl der Schreibung ist. Was wollen wir mit einem unsicheren Kriterium, das nicht alle Fälle abdeckt und bei dem wir zuerst einmal prüfen müßten, ob wir es im vorliegenden Fall überhaupt brauchen können?

Das ist so, wie wenn ich beurteilen will, ob eine erwachsene Person ein Mann oder eine Frau ist. Ich mache das so: Ich sehe die Person an und weiß es sofort (warum auch immer). Nun kommt jemand und sagt: Woher weiß ich denn, daß es zum Beispiel ein Mann ist? Das liegt an der Stimme: Männer sprechen meistens eine Oktave tiefer. Also spreche ich die Person an, um eine Antwort zu bekommen und aus der Tonlage auf das Geschlecht zu schließen. Vorher prüfe ich, ob die Person einer Gruppe angehört, bei der das Geschlecht sowieso schon feststeht, um mir das Gespräch eventuell zu ersparen. So kann man es auch machen. Es spricht jedoch nichts dafür, daß der normale Mitmensch so vorgeht.
 
 

Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 06.04.2006 um 20.54 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3718

Zu Herrn Fleischhauers Beitrag: Daß ich bei "street" die Vokallänge besser erkennen kann als bei "Straße", hat genau mit meinem Beitrag über die "Entscheidungskriterien" zu tun: Die Aussprache von "street" mußte ich lernen (im Englischunterricht), während ich bei der Aussprache von "Straße" möglicherweise durch meinen süddeutschen Dialekt beeinflußt bin (den ich als Kleinkind schon verinnerlicht habe). Jedenfalls habe ich hier nie auf die Vokallänge geachtet, weil dies vor der Reform ja kein Kriterium war. ("Straße" ist da allerdings weniger problematisch als "Spaß".)
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 06.04.2006 um 19.42 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3716

Leider überzeugt auch mich die einfache Regel von Herrn Wrase nicht. Woher weiß ich denn, wo die Silbenfuge ist? Das schließe ich aus der Länge des vorangehenden einfachen Vokals. Länge oder Kürze der Silbe "korrespondieren" nicht nur mit der Silbenfuge, beides ist untrennbar miteinander verbunden nach der Regel "lange offene und kurze geschlossene Silbe".
Anders liegt es bei Diphthongen. Dort ist die Silbenlänge undefiniert, und m.E. daher auch die Silbenfuge. Es ist deshalb reine Konvention, daß man "wei-ße" und nicht "weis-se" schreibt. Daran findet auch die "Logik" der Heyse-Schreibung ihre Grenze.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 06.04.2006 um 16.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3713

Interessant finde ich, daß Frau Morin bei street die Vokallänge besser erkennen kann als bei Straße - ganz im Gegensatz zu Herrn Wrase, der in dieser Hinsicht einsilbige Wörter für problematischer hält als zweisilbige. Ich werde mich natürlich - wie versprochen - nicht mehr zu Heyse äußern, empfehle aber, einmal die Regelung im Ickler zur Laut-Buchstaben-Zuordnung nachzulesen. Auch der Vergleich mit anderen Konsonanten kann weiterhelfen, wie etwa Spann - Span (vgl. auch den Einwand von tk, das ß sei visuell auffälliger). Bei Betrachtung der anderen Konsonanten findet man auch dort unregelmäßige Verben mit den entsprechenden Inkonsequenzen bei der Stammschreibung.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 06.04.2006 um 11.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3704

Sehr geehrter tk,

wie ich schon sagte, lernt man, daß es bestimmte Wörter mit einfachem s gibt, andererseits Wörter mit ss/ß. Nur bei der Verteilung von ss/ß gab und gibt es eine Regel, weil nur hier die Schreibung beim selben Wort oder Wortstamm wechseln kann, und nur diese Regel wurde verändert. Ihre Behauptung, ich hätte die Fälle mit einfachem s in der Regel nicht untergebracht oder sie würden meine Regelformulierung widerlegen, ist damit gegenstandslos.

Die Idee, alle drei Möglichkeiten s/ss/ß in einer einzigen (komplexen) Regelung unterbringen zu wollen, führt überhaupt erst möglicherweise zu einem Kopfzerbrechen, ob man vielleicht Ergebniß oder Ergebniss schreiben "müßte", wenn man aus dem dauernden Anwenden der Vokallängenprüfung nicht mehr herausfindet. Solche Fehler beobachten wir auch erst seit der Neuregelung. Im Prinzip geht es aber nur um die Verteilung von ss und ß.

Da Sie nun in der Wirklichkeit "ein Problem" mit ss/ß-Schreibung vorfinden, das gewaltig zugenommen hat, wäre es doch ganz sinnvoll, wenn Sie nicht weiter damit argumentieren, "auch früher schon" habe man die Vokallänge prüfen müssen, denn das trifft nicht zu, wie ich gezeigt habe. Erst unter der Neuregelung müssen Sie Vokallängen bestimmen. Somit liegt es auch außerordentlich nahe, die offenbar sehr großen Probleme, die die Neuregelung im Bereich ss/ß mit sich bringt, damit in Verbindung zu bringen, daß die Deutschen neuerdings Vokallängen am laufenden Band zu prüfen haben. Früher mußte man das eben nicht tun. Es sei eingeräumt, daß die Regel für die ss/ß-Verteilung "Hinten (= am Silbenende) ß, sonst ss" den Fall "Silbenanfang" und das angehängte t nicht eingeschlossen hat (hei-ßen, heißt). Also, dann wie folgt: Das "scharfe s" wird ss geschrieben, wenn es sich über die Silbengrenze hinwegzieht. Sonst immer ß. Ganz kurz: "Im Silbengelenk ss, sonst ß." Das ist immer noch einfacher anzuwenden als die Neuregelung mit der Vokallänge oder -kürze.
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 06.04.2006 um 11.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3703

U. Morin (#3635): »Ich habe leider noch nicht die Zeit gefunden, in den allerneuesten Regeln dazu Nachforschungen anzustellen.«

Der Rechtschreibrat hat bekanntlich die Laut-Buchstaben-Zuordnungen unangetastet gelassen, daher stimmen die neuen neuen Regeln mit den alten neuen Regeln in diesem Bereich vollkommen überein.
 
 

Kommentar von tk, verfaßt am 06.04.2006 um 09.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3702

Sehr geehrter Herr Wrase,

Ich möchte aber doch fragen, wozu Ihre Theorie mit dem Format [...] gut sein soll. – Eine Theorie soll kein Ziel haben, sondern ein in der Realität beobachtetes Problem erklären. Im Gegenteil, eine Theorie, die einen bestimmten Zweck verfolgt, läuft immer Gefahr, um des Zieles willen die Fakten zu schönigen.

Da ich aber mit Ihnen übereinstimme, daß Wir [...] uns da nicht gegenseitig überzeugen [können], möchte ich nur noch kurz bemerken, daß Sie mein neben anderen Kriterien übergangen haben und daher eine falsche Regel aufstellen: Kurz: Das "scharfe s" wird ss geschrieben, wenn es sich über die Silbengrenze hinwegzieht (Wissen mit ganz viel s). Sonst immer ß, also am Wortende oder am Silbenende. (Oder noch kürzer: Hinten ß, sonst ss.) Wenn man es derart absolut formuliert, stimmt das natürlich nicht. Abgesehen von den Ausnahmen (die man einfach lernen muß(te)) wie aus, was oder -nis gibt es beispielsweise ich weiß nichts oder weiß-blau vs. ich weis dir den Weg oder auch natürlich du hast/du haßt (oder Ihr Beispiel biß, bißchen, aber bis). Hier hilft nur das Stammprinzip (eines der anderen Kriterien).
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 06.04.2006 um 05.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3701

Nachtrag und Korrektur.

tk schrieb: "Meine Theorie ... ist, daß man die Vokallänge (neben anderen Kriterien) schon früher kennen mußte, um richtig zwischen s, ss und ß unterscheiden zu können."

Ich bin zuvor auf diese These eingegangen, weil sie anhand der Gegenüberstellung von Wiese (langes i) und Wissen (kurzes i) plausibel aussah. Mir fällt gerade erst auf, daß das so nicht stimmt. Die These wird nämlich genauso schnell wieder unplausibel, wenn man Bissen (kurzes i) und Biß oder bißchen (ebenfalls kurzes i) gegenüberstellt. Oder Wiese (langes i) und Grieß (ebenfalls langes i) sowie weiß (Länge unklar oder mittlere Länge). Die Bestimmung der Vokalquantität hatte offensichtlich nichts damit zu tun, daß früher die ss/ß-Schreibung viel weniger fehlerträchtig war. Wie sah die alte ss/ß-Regelung aus?

Es ging nicht um die Vokalquantität, obwohl sie (bei mehrsilbigen Wörtern) mit dem entscheidenden Kriterium korrespondierte und deshalb dabei mithalf, die richtige Schreibung zu wählen. In Wirklichkeit ging es jedoch um die Silbengrenzen.

Ich bin ein Kind und lerne, das Wort Wiese zu schreiben: Wiiiiie --- se. Ein ganz langes i --- Zäsur --- dann kommt noch: se. Dann lerne ich, das Wort Wissen zu schreiben: Wisssss ---- sen. Ein kurzes i, dann ganz viel s, das sich über die mögliche Zäsur hinwegzieht – dann kommt die zweite Silbe: sen. Also, gesprochen: Wissss-sen, geschrieben: Wissen. (Nebenbei lerne ich so die Silbentrennung.)

Bei der s-Schreibung lernt das Kind (egal ob mit oder trotz welcher Erklärung im Unterricht): Es gibt Wörter mit einfachem s, die werden immer mit s geschrieben. Und es gibt Wörter mit "scharfem s", die werden je nach der genauen Form mit ss oder mit ß geschrieben. Und zwar kommt ss nur zwischen zwei Silben vor, in solchen Fällen wie Wissen. Genau dasselbe wie bei anderen Konsonanten, mit denen die erste Silbe aufhört und die zweite Silbe anfängt: kommen, bellen usw. Sonst schreibt man das "scharfe s" immer als ß, der Vokal vorher ist ganz egal: Biß, Grieß, weiß. Zusätzlich erkennt man, daß es fast immer das Wortende ist, manchmal nur das Silbenende: biß-chen, miß-mutig, Eß-zimmer.

Kurz: Das "scharfe s" wird ss geschrieben, wenn es sich über die Silbengrenze hinwegzieht (Wissen mit ganz viel s). Sonst immer ß, also am Wortende oder am Silbenende. (Oder noch kürzer: Hinten ß, sonst ss.)

Also, tk, Ihre Annahme trifft gar nicht zu. (Zwischenzeitlich bin ich auf die Behauptung hereingefallen.) Ich meine nun, daß die Anwendung der früheren Schreibung, wie sie im letzten Absatz zusammengefaßt ist, OFFENSICHTLICH viel einfacher ist als dieses ständige Erspüren von langen und kurzen Vokalen, das in dieser Zuspitzung eine ganz neue Aufgabe für den deutschen Schreiber bedeutet. Frau Morin hat das bereits festgestellt. Je nach Sprechgeschwindigkeit, Dialekt, Diphthongierung und Betonung/Nichtbetonung ist die angeblich eindeutige Länge oder Kürze von Vokalen auch eine reichlich unklare Angelegenheit.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 06.04.2006 um 04.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3700

Sehr geehrter tk,

ich fasse Ihre These so zusammen: "Eigentlich dürfte die neue ss/ß-Schreibung nicht schwieriger sein als die frühere ss/ß-Schreibung. Ich halte sie jedenfalls für keine Erschwernis."

Ich selbst halte sie für eine Erschwernis, und zwar nicht einfach aufgrund der Zunahme der Fehlerzahlen, sondern a) wegen verschiedener theoretischer Überlegungen (Erkennbarkeit der Vokalquantität, Häufigkeiten, Häufigkeit des Wechsels zwischen ss/ß beim selben Stamm und ähnliches), von denen ich einige angedeutet habe; b) weil die Zunahme der Fehler nach meiner Einschätzung zu groß ist, um sich mit "sonstigen" Einflüssen erklären zu lassen (Gewohnheit der Umlerner, Verwirrung wegen der Vermischung der Rechtschreibungen, falsche Informationen über die Neuregelung, Nachahmung von gelesenen Falschsschreibungen und ähnliches).

Es ist nicht möglich, alle diese Faktoren zu kennen, sie zu quantifizieren und mit ihnen die Schreibwirklichkeit umfassend abzubilden. Somit wird es bei den Lagern bleiben: Manche halten die ss/ß-Neuregelung für keine Erschwernis und verbuchen die große Fehlerzunahme unter "Sonstige und unerklärliche Einflüsse"; zum Beispiel Sie. Andere sehen sie gewaltige Zunahme der Fehlerzahlen als einen Hinweis auf die tatsächliche Erschwernis allein schon aufgrund der neuen Regelung und versuchen vielleicht auch zu erklären, wie diese Erschwernis eigentlich zustande kommt; zum Beispiel ich.

Ich glaube, wir können uns da nicht gegenseitig überzeugen. Ich möchte aber doch fragen, wozu Ihre Theorie mit dem Format "Eigentlich dürfte ... nicht ..." gut sein soll. Es handelt sich um die Anwendung einer Annahme auf die Wirklichkeit, die nicht das gewünschte Ergebnis zeigt. Das erinnert mich an Politiker, die zehn Jahre lang unverdrossen sagen: Eigentlich müßte die Arbeitslosigkeit schon viel niedriger sein. Eigentlich müßten die Schulden schon weniger geworden sein. Eigentlich hätte der Aufschwung schon beginnen müssen.

Was bringt das eigentlich? Damit wird immer neu der eigene Ansatz verteidigt, der offensichtlich den Verhältnissen nicht gerecht wird, weder gestern noch heute und vermutlich auch morgen nicht.

Stattdessen sollte man sich doch ganz auf folgendes konzentrieren: Die Neuregelung bringt keine Verbesserung (Maßstab: Fehlerträchtigkeit), sondern eine erhebliche Verschlechterung. Die theoretischen Hintergründe sind zweitrangig oder sogar belanglos. Also ist die Neuregelung (jedenfalls nach diesem wichtigen Maßstab) abzulehnen.

Man kann natürlich auch der eigenen Überlegung treu bleiben, bösartige Störeinflüsse geltend machen (bei der Wirtschaft etwa die Globalisierung, den Ölpreis, den Pessimismus der Konsumenten, Terroranschläge von Krawallmachern) und abwarten, ob sich der erhoffte segensreiche Effekt eines Tages noch zeigen wird, wenn die Störeinflüsse sich beruhigt haben werden.
 
 

Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 05.04.2006 um 20.27 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3699

Lieber tk, bitte lesen Sie meinen letzten Beitrag, in dem ich darstelle, daß mir die Heyse-s keine Probleme bereiten, was aber nur der Tatsache zu verdanken ist, daß ich die Adelungsche Schreibung gelernt habe. Wäre das nicht der Fall, würde ich u.U. heute "Strasse" schreiben, was man nun ja auch recht häufig sieht.

Natürlich ist es hilfreich, wenn man sich etwas damit auskennt, wie Wörter entstanden sein können, z.B. hat ja "Straße" auch mit "street" zu tun, d.h. es handelt sich um dieselbe Wurzel und man kann daraus schließen, daß auch in "Straße" ein langer Vokal sein muß. Aber solche Ratespiele sollten beim Schreiben eigentlich nicht nötig sein. Ich halte das Kriterium "Vokallänge" daher für völlig verfehlt.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 05.04.2006 um 15.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3696

Rechtschreibfehler waren früher peinlich und nicht cool. Aber sie galten nicht als Merkmal einer Gesellschaftsklasse, sondern der Dummheit oder Faulheit, und die war und ist klassenunabhängig.
 
 

Kommentar von Ruth Salber-Buchmüller, verfaßt am 05.04.2006 um 14.54 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3695

Lieber tk,

nicht nur "vielleicht war der Rechtschreibunterricht früher besser" - nein, Welten trennen diesen Unterricht von dem heutigen. Als WIR nach den vier "Volks"schuljahren auf die "Mädchen"oberschule kamen, konnte weitestgehend jeder fast einwandfrei schreiben. Auch diejenigen, die die vollen acht Jahre auf der Volksschule verblieben, konnten am Ende gut schreiben und rechnen und einen entsprechenden Beruf ergreifen.

Wir hatten noch die Sütterlinschrift. Da gab es:
das lange s
das runde s und
das scharfe s

Auch die schlagartige Umstellung im Jahre 1941 auf die heutige Schrift verlief so problemlos, daß kein Wort je darüber verloren wurde. Wir hatten wegen des Englischen ca. drei Jahre lang zwei Schrifttypen zu verwenden.

Es wurden in Volks- und Oberschule zuhauf Diktate geschrieben und eben auch viele, viele Aufsätze, in denen die Rechtschreibfehler dick angestrichen wurden.

Sie sehen, tk, ich gehöre hier - herausragend - zum "Methusalemkomplott".

Damit nicht genug: Ich habe noch einen fehlerlosen Brief, (fehlerlos eben auch beim "ß"!!), meiner Urgroßmutter, geb. ca. 1840.

Was gab es damals für Schulen? Eine Dorfschule bestenfalls. Was hatten diese Menschen zu lesen?

Soweit meine resignierenden Betrachtungen zum ss/ß.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 05.04.2006 um 13.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3693

Eben, darum ist das so einfach. :-)
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 05.04.2006 um 09.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3692

Den Grund für die Vokallängen oder -kürzen in Straße und Trasse und Wiese und Wissen kann man nur aus der Herkunft dieser Wörter ableiten:
Straße kommt von lat. via strata Straße und Trasse von lat. tractus Zug , Verlauf über frz. tracer vorzeichnen.
Wiese kommt von althochdeutsch wisa und Wissen von ahd. wizzan.
 
 

Kommentar von tk, verfaßt am 05.04.2006 um 09.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3691

Sehr geehrter Herr Wrase,

zunächst einmal leugne ich ja gar nicht die Empirie, nämlich daß mehr Fehler gemacht werden, oder daß beim s-Laut mehr Fehler gemacht werden als bei anderen Konsontanten (was mir vorher gar nicht bewußt war), sondern ich bezweifle die Erklärung für diese Fehler, die von Reformgegnern angebracht wird, nämlich daß Heyse inhärent schwieriger sei als Adelung.

Ich verstehe auch nicht, wie das Prinzip des Silbengelenks bei einsilbigen Wörtern helfen soll (außer über den Umweg des Stammprinzips).

[O]b ein Silbengelenk vorliegt oder nicht, [...] kann man sich mehr oder weniger spekulativ, mehr oder weniger plausibel erklären, aber letztlich kommt es darauf nicht an. Was hilft es dann einem Schreiber, der unsicher ist? Wenn man sich es nicht erklären kann, bleiben doch nur „Sprachgefühl“ (das der Unsichere aber nicht hat – sonst wäre er nicht unsicher), Gewöhnung („So geschrieben sieht es komisch aus, ist also wohl falsch.“) oder Auswendiglernen – auch hier sehe ich nicht den Vorteil Adelungs.

Ihre Theorie lautet: Vokallänge oder -kürze ist immer dasselbe, also muß es auch immer gleich gut möglich oder gleich schwierig sein, sie zu erkennen und abhängig vom Ergebnis der Prüfung die passende Konsonantendarstellung zu wählen. – Nein, das ist sie nicht. Meine Theorie (aber eher These) ist, daß man die Vokallänge (neben anderen Kriterien) schon früher kennen mußte, um richtig zwischen s, ss und ß unterscheiden zu können und daß die tatsächlichen Probleme mit der s-Schreibung ganz woanders liegen. Die Behauptung „Heyse ist schwieriger“ liefert zwar die richtige „Voraussage“, daß mehr Fehler gemacht werden, aber deshalb ist die Erklärung nicht notwendigerweise korrekt. Man kann auch andere Gründe anführen: Fehlinformation („Das ß ist abgeschafft.“, „Ob ss oder ß ist jetzt egal.“), falsche Darstellung der Heyse-Regel („Nach kurzem Vokal immer ss.“, „Scharfes s nach langem Vokal immer ß.“), infolge dieser zwei Gründe eine allgemeine ss-Verwirrung in gedruckten Texten, die bei Lesern das (unbewußte) Einprägen von Wortbildern verhindert (was ebenso erklären könnte, warum es beispielsweise kein Problem mit hat trotz hatte gibt, und nur wenige mit jedermann trotz man). Vielleicht war auch der Rechtschreibunterricht früher aus ganz anderen Gründen besser als heute, vielleicht las man früher mehr als heute, etc. pp. Sicherlich war es füher nicht „cool“, falsch zu schreiben, sondern peinlich, d.h. die Einstellung zur Orthographie hat sich geändert. Es ist immer schwierig, das Heute mit dem Gestern zu vergleichen und zu sagen: „Das ist heute anders, weil jenes damals geschah.“

Ich denke dazu: Jeder von uns versteht das allermeiste nicht, was man mit einer theoretischen Allwissenheit, Allerfahrung und unendlicher Intelligenz verstehen könnte. – In der Tat verstehe ich nicht, warum die Leute sich mit Heyse so schwer tun. Das heißt aber nicht, daß ich jede Erklärung schlucken muß, auch dann nicht, wenn ich keine bessere habe. Dann bleibt nur das Eingeständnis des Nichtwissens.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 05.04.2006 um 06.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3690

Sehr geehrter tk,

vielleicht denken Sie mal an einsilbige Wörter und nicht an dreisilbige. Darauf hatte ich zuvor mit Beispielen hingewiesen, und darum geht es. Der Schwerpunkt meiner Argumentation besteht darin, daß die Auswahl zwischen s/ss/ß eine ganze Nummer schwieriger ist als etwa die Auswahl t/tt oder n/nn. Das leuchtet Ihnen nicht ein?

Sie fragen, wie denn die Fähigkeit zustande komme, zu erkennen, ob ein Silbengelenk vorliegt oder nicht, also etwa Straße gegenüber Trasse. Das kann man sich mehr oder weniger spekulativ, mehr oder weniger plausibel erklären, aber letztlich kommt es darauf nicht an. Worauf es hier ankäme: Die Unterscheidung "Silbengelenk oder nicht?" ist einfacher, als die Kürze oder Länge des Vokals bei einsilbigen Wörtern zu beurteilen. Sie können hier – sehr empfehlenswert – die Empirie heranziehen, wenn Ihnen die statistische Auswertung der ersten Paragraphen des Regelwerks nicht zusagt. Betrachten Sie einfach, wie häufig Schreibfehler sind, bei denen ein Silbenübergang falsch bewertet wird, also etwa Buter für Butter oder Wisse für Wiese. Oder lassen Sie es sich von einem erfahrenen Korrektor erzählen. Ergebnis: Sehr geringe Fehlerquote, das ist also einfach, warum auch immer.

An solche Befunde würde ich meine Theorien (Fragen, Argumentationen) anzupassen versuchen, anstatt auf einer theoretischen Vorstellung zu beharren und ihr zuliebe die Befunde in Frage zu stellen. Ihre Theorie lautet: Vokallänge oder -kürze ist immer dasselbe, also muß es auch immer gleich gut möglich oder gleich schwierig sein, sie zu erkennen und abhängig vom Ergebnis der Prüfung die passende Konsonantendarstellung zu wählen. Es fällt Ihnen offensichtlich schwer, sich von dieser Vorstellung zu verabschieden. Etwas Überzeugenderes als meine Vergleiche etwa mit dem Bergsteigen oder dem Jonglieren fällt mir leider nicht ein!

Ich denke dazu: Jeder von uns versteht das allermeiste nicht, was man mit einer theoretischen Allwissenheit, Allerfahrung und unendlicher Intelligenz verstehen könnte. Insofern ist es der normalste Zustand der Welt, einen Sachverhalt nicht vollkommen zu verstehen. Denken Sie an die Tiere, die überhaupt nichts gedanklich nachvollziehen können und zu denen wir vor kurzem gehört haben. Oder denken Sie an die Spezialisten in den Naturwissenschaften: Da versteht doch jeder von uns kein Wort, wenn die ihre Erkenntnisse vortragen. Aber sie haben meistens recht, denn ihre Erkenntnisse sind die Grundlagen komplizierter Technik, die am Ende funktioniert. Deshalb ist es meiner Meinung nach eine unkluge Haltung, von der Umwelt einzufordern, daß sie einem gefälligst einleuchtende Erklärungen zu liefern habe, so als ob die eigene Erkenntnisfähigkeit selbstverständlich immer ausreichend gegeben sei. Die meisten Leute sagen irgendwann: "Tut mir leid, das kapiere ich nicht" und klinken sich aus. Manche sagen: "Wenn mir jemand etwas nicht erklären kann, muß er sich bemühen, es besser zu machen. Ich frage so lange weiter, bis ich eine Erklärung bekomme, die mir einleuchtet."
 
 

Kommentar von tk, verfaßt am 05.04.2006 um 05.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3689

Sehr geehrter Herr Wrase,

ich muß leider sagen, daß Sie mich nicht überzeugt haben. Sie argumentieren wieder mit der Vokallänge, diesmal um den Begriff des Silbengelenks zu erklären. Nur: Wie erkennt man das Silbengelenk in Trasse, und weiß aber, daß in Straße keines vorliegt? Wenn man die Vokallänge nicht erkennt, bliebe eigentlich nur noch die Hilfe, daß man Tras-se sagt (mit zwei stimmlosen s), aber Stra-ße (mit einem). Aber auch wenn ich glaube, daß das zwei gesprochene Konsonanten der ursprüngliche Grund für die Konsonantenverdoppelung in der Schrift ist, kenne ich niemanden, der tatsächlich so spricht.

Da ich aber schon ziemlich viel über dieses Thema geschrieben habe und dem nichts Neues hinzufügen kann, ist es vielleicht sinnvoller, wir fragen eine „Betroffene“.

Sehr geehrte Frau Morin,

Ihrem Kommentar #3684 entnehme ich, daß Sie bei der Frage ss oder ß nicht nach Vokallänge urteilen. Wie unterscheiden Sie die Schreibung des s-Lautes in Trasse und Straße?

PS: Herr Wrase, daß ich nur zweisilbige Beispiele gebracht habe, ist nicht so bemerkenswert, wie Sie vielleicht meinen. Versuchen Sie doch einmal ein deutsches Wort (kein Fremdwort, kein Eigenname) zu finden, das in der Grundform aus drei Silben besteht und nicht mit Hilfe von Vor- oder Nachsilben aus einem anderen Wort ableitbar ist (ganz zu schweigen von Zusammensetzungen). Ich glaube, in Ihrem Beitrag #3682 gibt es kein einziges...
 
 

Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 04.04.2006 um 17.02 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3688

Wenn es eine "allgemeine Rechtschreibverlotterung" gibt, welche Faktoren haben sie bewirkt? Auch das ein interessantes und wichtiges Thema! Und gibt es Anzeichen, daß die Reform ihr entgegenwirkt oder nicht? Eins ihrer Ziele war die Vereinfachung, und eine solche müßte doch der Verlotterung entgegenwirken.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 04.04.2006 um 16.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3687

Ich rege auch einmal an, Herrn Prof. Harald Marx um eine Teilabschrift seiner letzten Studie zu bitten. (Anfang letzten Jahres hatte ich - nach vorausgegangenen Schwierigkeiten - mit ihm telefoniert und kann bestätigen, daß er sehr freundlich und offen ist.)
 
 

Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 04.04.2006 um 16.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3686

Die Untersuchung der Veränderungen durch die "Reform" hat die Problematik aller Querschnittuntersuchungen, daß festgestellte Änderungen auch durch andere Ursachen erklärbar sind. In unserem Fall ist die offensichtliche allgemeine Rechtschreibverlotterung wohl ziemlich bedeutend. Lediglich für das schmale Gebiet der Heyse-Schreibung gibt es wegen der Sonderorthographie der Schweiz ein Gebiet, in dem eine stabile Kontrollgruppe existiert, die von diesem Teil des Unfugs nicht betroffen wurde.

Methodisch ist es also dringend erforderlich, erstens die Schweiz mit einzubeziehen, und zweitens die Auswirkungen der Reform bzgl. dieser Erklärungsvariable zu untersuchen.
 
 

Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 04.04.2006 um 16.00 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3685

Wichtig ist eine repräsentative empirische Untersuchung, in Fortführung und Erweiterung der Leipziger Ergebnisse, welche und wie viele Fehler mit der neuen Schreibweise gemacht werden. Es muß einfach fest- und dann klargestellt werden, ob und welche Verbesserungen erreicht wurden oder eben nicht. Wenn die Reformer selber nicht den Nachweis antreten wollen, müssen es andere machen - obwohl das schon für sich genommen ein Skandal ist. Denn wer tiefe Eingriffe vornimmt und großmaßstäbliche Veränderungen herbeiführt, muß Sinn und Nutzen nachweisen, nicht nur behaupten. Aber den Ergebnissen müssen sie sich stellen, so oder so.

 
 

Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 04.04.2006 um 15.15 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3684

Es ist vielleicht unnötig, das hier noch zu erwähnen (und ich habe nun leider auch nicht die Zeit, dies "grammatisch korrekt" vorzubringen), aber die Notwendigkeit der Erkennung der Vokallänge in bestimmten Positionen ist ein neues Kriterium in der deutschen Sprache. Wie jeder weiß, besteht die Schwierigkeit beim Erlernen von Fremdsprachen darin, daß diese Sprachen für gewisse Dinge unterschiedliche Entscheidungskriterien haben (z.B. erhalten die Adjektive im Schwedischen Endungen in anderen Satzstellungen als dies im Deutschen der Fall ist - man sagt z.B. nicht "das Haus ist blau", sondern "das Haus ist blaues"). Gerade diese Dinge sind es, die eine flüssige Beherrschung der jeweiligen Fremdsprache erschweren - weil das betreffende Kriterium ganz einfach nicht von Anfang an sozusagen "mit der Muttermilch" aufgesogen wurde. Bei diesen Kriterien kann man schwerlich intuitiv reagieren, sondern muß jedesmal innehalten und nachdenken - was natürlich Zeit kostet und gelegentlich auch zur falschen Entscheidung führt - woran man dann den Nicht-Muttersprachler erkennt.

Hier haben wir es nun mit einer Änderung der Kriterien in der Muttersprache zu tun, die aus vielen Deutschen sozusagen "Nicht-Muttersprachler" macht. Nun könnte man sagen, wenn die Schüler dieses Kriterium von Anfang an lernen, sollte das kein Problem sein - aber der "vorschulische" Spracherwerb war eben auch nicht auf die Erkennung von langen oder kurzen Vokalen in dieser Position abgestellt, daher die schlechten Resultate, die überall zu betrachten sind.

Ich persönlich habe damit kein Problem, weil ich die "ß"-Schreibung gelernt habe, sonst würde ich als Süddeutsche ganz schön dumm dastehen - genau wie die heutigen Schüler (wäre vielleicht interessant festzustellen, in welchem Teil Deutschlands die meisten "ss"-Fehler gemacht werden).
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 04.04.2006 um 13.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3682

Sehr geehrter tk!

Also, dann muß ich wohl mit meinen Theorien herausrücken.

Sie meinen: Hier hat es geklappt mit der Erkennung der Vokallänge, dann muß es dort auch klappen. Klingt logisch, aber man muß schon genauer hinschauen. Sie sagen ja auch nicht: "Ich bin auf die höchste Erhebung in Brandenburg gestiegen, also müßte ich genausogut auf die höchste Erhebung in Bayern (Österreich, Chile, Pakistan ...) steigen können, denn: Körperliche Anstrengung reicht hier aus, also reicht sie dort aus. Es sind jeweils Besteigungen, also praktisch dasselbe."

Zum einen haben Sie in Ihrer Frage nur Zweisilber als Beispiele angeführt. Lesen Sie mal die ersten Paragraphen der Neuregelung. Da wird durchbuchstabiert, in welchen Fällen ein Vokal kurz oder lang sein kann bzw. wann eine Länge oder eine Kürze in der Schrift wie angezeigt werden kann, wobei auch die Betonung eine Rolle spielt. Ganz schön kompliziert ist das. Worauf es hier ankommt: Die Wechselbeziehung Silbengelenk – Verdoppelung des Konsonantenbuchstabens ist eine ganz regelmäßige Angelegenheit (Silbengelenk: betonter kurzer Vokal, nur ein Konsonant zwischen zwei Silben). Sie entspringt offensichtlich einem starken Bedürfnis der Schreibenden. Umgekehrt wird sie durch den dauernden Anblick auch ständig weiter eingeübt und befestigt. (Die speziellen Schreibungen mit ck und tz sollten bei der Argumentation nicht stören.)

Ganz anders in sonstigen Fällen, bei denen man nach der ss/ß-Neuregelung ebenfalls die Vokallänge zu beurteilen hat. Da gibt es keine solche Regelmäßigkeit, kein natürliches, automatisches Bedürfnis, zu einer bestimmten Schreibweise zu greifen. Somit wird dem Schreiber sehr wohl etwas abverlangt, was er früher nicht zu leisten hatte. Denn außer dem eindeutigen, bei allen Konsonanten einheitlich gehandhabten Fall Silbengelenk lief es früher auf immer dieselbe Schreibung hinaus: immer ß für das "scharfe s", die Vokalquantität oder -intensität spielte gar keine Rolle!

Bedenken Sie auch: Wir haben sonst in der Regel einen Laut und einen Buchstaben dafür. Für den s-Laut (den viele auch in der Stimmhaftigkeit nicht beurteilen können) haben wir insgesamt gleich drei Zeichen, wobei ein Zeichen (s) für beide Laute zur Verfügung steht und zwei Zeichen nur für einen Laut (den stimmlosen), die einander bei denselben Wortstämmen munter abwechseln können. Finden Sie das nicht komplizierter als die Verhältnisse etwa bei t oder n?

Jonglieren ist nicht gleich Jonglieren. Wenn man mit zwei Bällen jonglieren kann (das kann fast jeder), kann man deshalb noch nicht mit drei Bällen jonglieren (das kann man nur mit viel Übung, das heißt, wenn man begabt ist und sich lange damit beschäftigt hat). Stellen Sie sich weiter vor, beim Jonglieren mit drei Bällen sei zusätzlich gefordert, ständig die Reihenfolge zu wechseln, also links herum, rechts herum und zwischendurch über Kreuz. Dann haben Sie den Unterschied zwischen der Aufgabe, ein Silbengelenk zu erkennen und ss zu schreiben (das entspricht Ihren Beispielen), und der Aufgabe, permanent die Vokalquantität vor s-Lauten zu beurteilen und die Neuregelung dann auch noch richtig anzuwenden.
 
 

Kommentar von tk, verfaßt am 04.04.2006 um 07.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3673

Sehr geehrter Herr Wrase,

Sie fragen: Habe ich Ihren Gedankengang richtig eingeschätzt? – Ja, völlig korrekt. (Obwohl ich zugeben muß, daß Wiesen vs. Wissen kein gutes Beispiel war, da sich diese zwei Wörter nicht nur in der Vokallänge, sondern auch in der Stimmhaftigkeit/-losigkeit unterscheiden. Da ist Maße vs. Masse besser).

 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 04.04.2006 um 07.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3671

Sehr geehrter tk!

Sie sind hartnäckig, und ich interpretiere das mal als "gewissenhaft". Auf Ihren Einwand entgegne ich, daß es um die Unterscheidung zwischen langen und kurzen Vokalen geht, so daß es im Prinzip keine Rolle spielt, ob man kurze oder lange Vokale oder beides nicht erkennen kann. "Lang" oder "kurz" ist der Vokal hier im Bezug auf den jeweiligen Gegensatz.

Aber Sie haben recht, ich bin auf Ihre ursprüngliche Frage nicht exakt eingegangen. Ich will Ihnen zunächst sagen, wie ich sie verstanden habe, nämlich als Umformulierung der folgenden Behauptung: "Wenn die Leute früher offenbar Wiesen und Wissen unterscheiden konnten, bedeutet das, daß sie Vokalkürze bzw. -länge erkennen konnten. Und das beudetet, daß sie genausogut im Rahmen der Neuregelung erkennen können oder erkennen müßten, ob ein Vokal vor ss/ß kurz oder lang ist. Sprich, die Neuregelung bei ss/ß stellt im Prinzip keine neuen Anforderungen, sondern nur solche, die zuvor schon bewältigt werden konnten."

Habe ich Ihren Gedankengang richtig eingeschätzt?

Falls ja, hätte ich da ein paar Antworten auf Lager.
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 03.04.2006 um 19.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3660

Die Umweltbank schreibt in ihren Druckerzeugnissen durchweg reformiert – mit einer Ausnahme: Genußschein.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.04.2006 um 17.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3656

Warum nicht einfach bei "LernEs" die Hefte bestellen, die sich ausschließlich mit s, ss, ß befassen? Da hat man das Goldmachen erfunden: Für lauter Unterabschnitte der Reformschreibung gibt es je zwei Hefte zum Üben, jeweils für 12,50 Euro. Auch eine Art der "Erleichterung" ...
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 03.04.2006 um 15.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3654

Senf mit Sosse: Herr Schubert hat zwar im Prinzip nicht unrecht, de facto aber liefert Google bereinigt mehr als 500 Treffer für Sosse von Schweizer Sites. Das ist nicht eben wenig.
 
 

Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 03.04.2006 um 15.09 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3653

Ich kann es mir nicht verkneifen, nochmals meinen "Senf" zu diesem Thema beizusteuern, da uns die Heyse-ss wohl noch eine ganze Zeit lang mit Lese- und Sehstörungen verfolgen werden. Ich halte es da ganz mit "tk" u.a. - vor allem stört mich die schlechtere Lesbarkeit und die Häufung von "s", z.B. in Wörtern wie Ausschusssitzung.
Ich habe zwar als Übersetzerin ohne Copyright keinen Einfluß darauf, ob und wie meine Texte bei den Kunden in reformerischer Absicht verunstaltet werden, versuche aber, zumindest in diesem Punkt gegenzusteuern, indem ich ihnen den Kommentar voranstelle, daß ich der besseren Lesbarkeit wegen das "ß" als Fugenzeichen beim Aufeinandertreffen von "sss" verwende. Es hat noch keiner protestiert - und ich denke, es wird sich keiner die Mühe machen, die offensichtlich häßlichen drei "s" wieder einzufügen (falls er nun nicht ein Rechtschreibprogramm drüberlaufen läßt).
Wie gesagt, wenn es das "ß" nicht gäbe, müßte man es ja erfinden - und ich bin also gerade dabei, dies zu tun. Vielleicht ein Tip für andere "Auftragsschreiber"?

(Mein Kommentar an den Kunden weist auch darauf hin, daß ich die neueste Version der Rechtschreibung benutze, die sich noch nicht in den Wörterbüchern niedergeschlagen hat. So versuche ich, Eingriffe in die Texte zu vermeiden - auch indem ich "anstößige" Wörter durch solche ersetze, die nicht verunstaltet werden können.)

 
 

Kommentar von Peter Schubert, verfaßt am 03.04.2006 um 14.48 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3652

"Sosse" schreiben sie nicht. Französisch ist eine der Landessprachen. Sie schreiben "Sauce".
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 03.04.2006 um 13.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3651

Und wie lesen alt-unvorbelastete Schweizer Schüler "Strasse, Sosse, Busse (für Buße) usw.? Die dürfen ja die Reformregel "ss nach kurzem und ß nach langem Vokal" gar nicht lernen, weil sie andernfalls Umkehrschlüsse von der Schreibung auf die Aussprache ziehen könnten.
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 03.04.2006 um 12.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3645

Bereits 1994 war mir beim Besuch einer Bekannten in Rumänien aufgefallen, daß sie „Schluß" nicht mit kurzem, sondern mit langem u sprach. Da hilft dann nur der Hinweis, daß dieses Wort anders ausgesprochen wird bzw. darauf, daß es das Wort mit dem lang ausgesprochenen Volkal im Deutschen nicht gibt.
 
 

Kommentar von Ruth Salber-Buchmüller, verfaßt am 03.04.2006 um 12.16 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3644

Wie lesen von der traditionellen Schreibweise "unvorbelastete" Schüler das "ß"?

Meine französische Enkelin, die Deutsch als Fremdsprache in der Schule hat, liest

Schloß wie: Schloos
Schluß wie: Schluus
Roß wie: Roos

Wie sollen denn überhaupt noch traditionelle Texte von dieser Gruppe gelesen werden können?

 
 

Kommentar von tk, verfaßt am 03.04.2006 um 08.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3642

Sehr geehrter Herr Wrase,

in Ihren zweiten Absatz im Kommentar #3630 schreiben Sie von Vokalkürze, aber mein Argument bezog sich ja gerade auf die Bemerkung anderer Forenteilnehmer, daß viele Leute die Vokallänge nicht bestimmen können, sei es, weil sie „Dialekt“ sprechen (Geschoß, pl. Geschoße, wie mein DDR-Duden von 1978 es den Österreichern „erlaubt“), sei es, weil sie die Vokallänge einfach nicht erkennen.


Sehr geehrte Frau Morin,

...wie unterscheidet man denn die Schreibung von "Mist" und "misst" anhand der Vokallänge (zumal als Süddeutscher)? – genau das ist das Problem: Man muß wissen, daß misst mit messen verwandt ist und daher sein ss bekommt. Allerdings muß man das auch Adelung für die Unterscheidung mißt – Mist wissen. Anders gesagt, was früher schwer war, ist es jetzt immer noch (und umgekehrt).


Sehr geehrter Herr Heyse (#3639),

wieso schreibt man nach Ihrer Regel Nr. 3 eigentlich nicht Misst ?


Sehr geehrter Herr Fleischauer,

Mit dieser Frage, rhetorisch oder nicht, begibt man sich nicht aufs Glatteis, sondern läuft geradewegs zum Feind über. ;-) – Diese Unterstellung muß ich mir doch verbitten!

Tatsächlich halte ich die s/ss/ß-Schreibung nach Heyse mit der s/ss/ß-Schreibung nach Adelung für den Schreiber (nicht für den Leser!) in beide Richtungen austauschbar. Wer die eine beherrscht, kann ohne Probleme umlernen („Nach kurzem Vokal ss, wo bisher ß stand.“ – „ss wird zu ß, wenn es nicht im Silbengelenk steht.“). Ansonsten muß man für beide Regelungen das Stammprinzip kennen, zwischen langen und kurzen Vokalen (in der Standardausprache des Hochdeutschen) sowie zwischen stimmhaftem und stimmlosem s unterscheiden können, und eine Reihe von Sonderregelungen kennen (-nis trotz -nisse, was (nicht wass/waß), usw.)

Der große Vorteil der Adelungschen Regelung liegt für mich in den besseren Wortbildern, die sie ergibt, zum einen weil die Oberlänge des ß eine markante Lesehilfe ist (daß hebt sich wesentlich von das ab, was man von dass nicht sagen kann), zum anderen weil Adelung uns viele ss erspart. Man sollte sich mal alle 26 Buchstaben des lateinischen Alphabets anschauen. Die Großbuchstaben sind im wesentlichen einfache geometrische Formen (Kreis, Dreieck, Rechteck) – bis auf das S. Und selbst unter den komplizierteren Kleinbuchstaben fällt das s aus der Rolle. Die Kleinbuchstaben sind von einem ruhigen Auf und Ab geprägt mit Ausnahme von a, g und eben des s. Und selbst hier sind a und g bei weitem nicht so unruhig wie das zappelige s, das nicht so recht weiß: Soll ich vorwärts gehen oder stehenbleiben? Am besten ich mache kehrt. Oder vielleicht doch...?

Ich denke auch, man sollte im Umgang mit der Heyse-Regel unterscheiden zwischen der eigentlichen Regel (die meiner Meinung nach eben nicht schwerer oder leichter ist als die Adelungs) und ihrer falschen Wiedergabe („Nach kurzem Vokal schreibe ss.“) durch Reformfreunde, die Neulerner eben in die Irre führt: A little learning is a dangerous thing.

 
 

Kommentar von Der Spiegel 14/2006, verfaßt am 03.04.2006 um 00.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3640

Alarmierendes Versagen
Nr. 12/2006, Bildung: Wie lernen Schüler am besten Lesen und Schreiben?

In unserer Schule, die seit zehn Jahren Kinder und Jugendliche mit Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) in Kleinstgruppen fördert, mussten wir bestürzt feststellen: während sieben Jahre lang im 5. Schuljahr durchschnittlich 16 bis 20 von 120 Schülern als leserechtschreibschwach getestet wurden, waren es im vergangenen Schuljahr schon 37 von 120. Die standardisierten Tests bei den diesjährigen Fünftklässlern ergaben, dass 83 von 114 LRS haben! Erste Indizien weisen auf eine Korrelation zwischen der im Artikel beschriebenen Schreiblernmethode und dem alarmierenden Rechtschreibversagen hin.

MANNHEIM, DR. BRIGITTE HOHLFELD, TULLA-REALSCHULE


Ein fachfremder Leser muss den Eindruck gewinnen, dass eine auf freies Schreiben basierende Schreiblernmethode einem Fibellehrgang in Bezug auf die Rechtschreibentwicklung des Kindes prinzipiell unterlegen ist. Dem ist nicht so. Fakt ist vielmehr, wie Sie selber erwähnen, dass der Erfolg jeder Methode entscheidend von ihrer kompetenten Umsetzung abhängt. Davon kann aber nicht die Rede sein, wenn ein Kind, wie in Ihrem Beispiel, erst im vierten Schuljahr mit orthografischen Phänomenen konfrontiert wird.

KÖLN, DR. THOMAS AURAS


Mit großer Verwunderung habe ich gelesen, dass ich den Berliner Bildungssenator aufgefordert hätte, das freie Schreiben zu unterbinden. Das ist eine Zeitungsente. Auch habe ich mich nicht gegen das freie Schreiben ausgesprochen, das ich für einen wichtigen Bestandteil des Erstunterrichts im Schriftspracherwerb halte, und zwar kombiniert mit einem systematischen Vorgehen beim Lesenlernen anhand von Schlüsselwörtern, so wie es der vielfach überarbeitete halboffene Leselehrgang "Fara und Fu" realisiert. Ausgesprochen habe ich mich allerdings gegen den Ansatz "Lesen durch Schreiben", der in der Tat viele Nachteile in sich birgt, vor allem für die Kinder, die kein lautreines Hochdeutsch beherrschen.

BERLIN, PROF. DR. RENATE VALTIN,
ABTEILUNG GRUNDSCHULPÄDAGOGIK,
HUMBOLDT UNIVERSITÄT


Wenn immer mehr Kinder große Schwierigkeiten haben, Lesen und Schreiben zu erlernen, halte ich "freies Schreiben" für verantwortungslos. Falsche Schreibungen prägen sich ebenso ein wie richtige, dadurch wird der Aufbau des "inneren Lexikons" als zentrale Hilfe unnötig und nachhaltig gestört. Die sich alle paar Jahre ändernden Moden und Methoden des Erst-Lese- und -Schreibunterrichts ignorieren die schlichte Erkenntnis, dass Kinder Lesen und Schreiben im Wesentlichen durch Lesen und Schreiben lernen.

GLÜCKSTADT (SCHL.-HOLST.), JAN WALLRAF
 
 

Kommentar von Heyse-Regel, verfaßt am 03.04.2006 um 00.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3639

Regel K159

1. Für den stimmlosen s-Laut nach langem Vokal oder Doppellaut (Diphtong) schreibt man "ß" (Blöße, Maße, Maß, grüßen, grüßte, Gruß, außer, reißen, es reißt, Fleiß, Preußen). Ausnahmen: aus, heraus usw.

2. Dies gilt jedoch nur, wenn der s-Laut in allen Beugungsformen stimmlos bleibt und wenn im Wortstamm kein weiterer Konsonant folgt. (§23 und §25). Haus (stimmhaftes s in Häuser), Gras (stimmhaftes s in Gräser), sauste (stimmhaftes s in sausen), meistens (folgender Konsonant im Wortstamm).

3. Für den stimmlosen s-Laut nach kurzem Vokal schreibt man ss. Das gilt auch im Auslaut der Wortstämme (§2). Masse, Kongress, wässrig, Erstklässler, dass, hassen, ihr hasst, Fluss, missachten, isst, iss. Ausnahmen: das (Pronomen, Artikel), was, des, wes, bis.

4. Wörter auf "-nis" und bestimmte Fremdwörter werden nur mit einem s geschrieben, obwohl ihr Plural mit Doppel-s gebildet wird (§4 und §5): Zeugnis (trotz Zeugnisse), Geheimnis (trotz Geheimnisse), Bus (trotz Busse), Atlas (trotz Atlasse).
 
 

Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 02.04.2006 um 23.38 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3638

Lieber Glasreiniger,
vielen Dank für die Antwort, aber meine Frage war tatsächlich "halbrhetorisch" insofern als ich darauf verweisen wollte, daß die allgemein übliche Erklärung "ss nach kurzem Vokal", die von allen Reformfreunden als Vereinfachung gepriesen wird - und die sogar manche Reformgegner als "irgendwie" logisch betrachten - eben nicht genügen kann, und es hat mich eben interessiert, welche weiteren Erläuterungen es in den allerneuesten neuen Regeln dazu gibt (ich habe zumindest aus den Beschreibungen auf dieser Seite nichts entnehmen können). Es sind ja tatsächlich viele Fehlschreibungen nun zu bestaunen.

Vielleicht war die Frage wirklich dumm oder falsch gestellt (da keiner sie zu verstehen scheint - Herr Fleischhauer, ich wollte damit niemand quälen). Ich werde wohl selbst nachschauen müssen. Nach einer gründlichen Durchnahme der ersten "neuen Regeln" vor einigen Jahren, nebst gründlichem Studium der Kommentare von Prof. Ickler, wollte ich mir das eigentlich nicht mehr antun.

Dennoch vielen Dank!

 
 

Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 02.04.2006 um 21.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3637

Liebe Frau Morin,

im Grunde ist es einfach: Ein Doppelbuchstabe steht niemals ohne Grund da. Darum : Mist. "mißt" ist hingegen eine Flektionsform von "messen", und Flektionsformen behalten dies als Eigenschaft des Stamms. Na ja, nicht immer: Bei Wörtern auf -nis und ähnlichen wurde der Doppelbuchstabe bis 1901 aufgegeben, mE wegen der Unbetontheit der Silbe, da Doppelbuchstaben nicht nur die Kürze, sondern auch die Tonhaltigkeit des vorgehenden Vokals markieren.
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 02.04.2006 um 21.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3636

Liebe Frau Morin,
ich werde hier keinen der Beteiligten schlauchen. Meine Mail-Adresse ist ste.fle@web.de.
Ich darf Sie auch daran erinnern, daß Sie die von tk gestellte halbrhetorische Frage noch nicht beantwortet haben.
 
 

Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 02.04.2006 um 21.20 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3635

»'Halbrhetorische' Frage an 'tk/S. Fleischhauer'- wie unterscheidet man denn die Schreibung von 'Mist' und 'misst' anhand der Vokallänge (zumal als Süddeutscher)?«

Ich warte seit dem 1.4.2006 gespannt auf die Beantwortung dieser Frage durch einen der hier versammelten Experten. Ich habe leider noch nicht die Zeit gefunden, in den allerneuesten Regeln dazu Nachforschungen anzustellen. Weiß jemand, was diese dazu sagen oder wie die Lehrer diese Schreibungen im Unterricht vermitteln?

Es würde mich wirklich interessieren, da man in letzter Zeit auch häufig Schreibung wie "Ergebniss" u.ä. sieht, was den Blick ins 18. Jahrhundert lenkt und wiederum auf obige Frage.

(Sollte die Frage jemand als zu dumm erscheinen, wäre ich auch für diesen Hinweis dankbar - obwohl ich der Meinung bin, daß es selten dumme Fragen, hingegen häufig dumme Antworten gibt.)

 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 02.04.2006 um 15.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3634

Vereinfachungen aus der Sicht der Lehrer im Unterricht, z.B.:
- 93% s-Schreibung
- 85% Wort- Silbentrennung
- 65% Fremdwörter-Schreibung
Die Änderungen der ss-ß-Schreibung bewerten 73 % positiv, besonders die Volksschullehrer/innen sehen eine Verbesserung."

Die Zahl 93% für die s-Schreibung wird hier nicht genannt:

www.politikportal.at

www.pressemitteilungen-24.de

 
 

Kommentar von borella, verfaßt am 02.04.2006 um 14.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3633

Durch den "tribüne"-Hinweis von Prof. Ickler stieß ich auf einen Artikel von Richard Schrodt. Zwar schon 2004 geschrieben, ist er trotzdem auch aus heutiger Sicht noch interessant, wie ich finde. Grob zusammengefaßt bleibt bei mir etwa folgender Eindruck: Reformiert schreibt man aus damaliger Sicht nicht das, was man ausdrücken will, sondern bestimmt die Schreibung anhand von Formalkriterien, wie etwa einer Steigerbarkeit des ersten Gliedes ...
 
 

Kommentar von borella, verfaßt am 02.04.2006 um 11.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3632

Aus den Befragungsresultaten wird offenbar der Schluß gezogen, daß automatisch, wenn ein Lehrer sich mit dem Unterricht leichter tut, auch das Ergebnis besser sein muß; nämlich, daß sich bei den Schülern auch verbesserte Fähigkeiten einstellen, gesprochene Sprache treffsicher und sinnrichtig zu verschriftlichen.
Mathematisches Analogon: Man reduziere den zu unterrichtenden Stoff um jene Teile, bei deren erfolgreicher Vermittlung Lehrer erfahrungsgemäß die größten Schwierigkeiten haben...
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.04.2006 um 10.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3631

Sobald man Grundschullehrer mit der gesamten Reform bekannt macht und nicht nur mit dem, was auf dem AOL-Kärtchen steht oder allenfalls im GEW-Faltblättchen, ist es mit der Akzeptanz vorbei. Das war eine meiner ersten Erfahrungen nach Vorträgen.

Noch eine Bemerkung zu Österreich: Die "Untersuchung", die Professor Baumberger in der NZZ entlarvt hat, ist in der "tribüne" erschienen, dem Zentralblatt der Kleinschreiber, und stammt von der Lehrerin Evelyn Thornton, einer der ersten Vorkämpferinnen der Reform in Österreich. Sie hat auch mit dafür gesorgt, daß an ihrer Schule schon 1995 (!) die Reformschreibung eingeführt wurde. Interessant wäre, was sie inzwischen mit den vielen Veränderungen gemacht hat und ob sie auch dies noch frohen Herzens vermarktet.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 02.04.2006 um 07.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3630

tk:
»Ich weiß, daß ich mich mit meiner halbrhetorischen Frage auf Glatteis begebe, aber: Wenn es so schwierig wäre/ist, zwischen langen und kurzen Vokalen zu unterscheiden, wie konnten dann früher Schreiber zwischen Maßen und Massen, zwischen Wiesen und Wissen, zwischen Wesen und wessen unterscheiden?«

Die Frage ist rhetorisch, weil (nur) zweisilbige Wörter aufgeführt werden. Bei diesen gibt es kein Problem, weil im Fall der Vokalkürze ein Silbengelenk vorliegt: Massen, Wissen, wessen. Silbengelenke werden immer mit der Verdoppelung des Konsonantenbuchstabens geschrieben, was in verschiedener Hinsicht sinnvoll ist und als ganz selbstverständlich empfunden wird. Vgl. etwa auch im Englischen: put, shop etc., putting, shopper etc. (Vielleicht würde es Herr Achenbach neidlos als Geniestreich bezeichnen, wenn die Engländer eine Rechtschreibreform erleiden müßten, bei der putt, shopp etc. verordnet wird.)

Also, die Frage von tk müßte hier lauten:
Wenn es heute so schwierig wäre/ist, zwischen langen und kurzen Vokalen zu unterscheiden, wie konnten Schreiber früher Ruß und Kuß, bloß und floß, Maß und Haß richtig schreiben?

So formuliert, enthält die Frage natürlich schon die Antwort. Wenn man dem Befragten noch Gelegenheit geben will, die Antwort selber herauszufinden, könnte die Frage lauten:
Wenn es heute so schwierig ist, Ruß und Kuss, bloß und floss, Maß und Hass richtig zu schreiben – woran liegt es, daß es vor der Reform einfacher war?
 
 

Kommentar von rrbth, verfaßt am 02.04.2006 um 07.00 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3629

Inzwischen halte ich auch die ss/ß-Schreibung für zentral. Sehr häufig kann man hören, die RSR sei Käse, die ss-Schreibung aber doch viiel besser (und logischer) als früher.

Ich gestehe, ich habe auch mal gedacht, mit der ss-Schreibung könn(t)e ich mich anfreunden.

Nein, es geht nicht! Inzwischen habe ich, weil das „ss/ß“ in reformierten Texten ja zur Markierung der Vokalqualität dient und man diesen Texten nicht auskommt, Schwierigkeiten beim Lesen z.B. von Schweizer Texten. Das war früher nicht so.
Gerade hier hat die RSR die vielbeschworene Einheitlichkeit der deutschen Schriftsprache, die sie doch herstellen sollte, nachhaltig ge- und zerstört.

Trotzdem ist die ss-Schreibung manchmal ganz praktisch, denn sie ermöglicht es einem, schnell und eindeutig die RSR-unterwürfig-geschriebenen Texte zu erkennen. Wenn es nur irgend geht, kaufe ich solche Bücher nicht (mehr). Wozu gibt es denn http://www.zvab.com?
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 02.04.2006 um 06.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3628

Herr Stodtmeister: Ob „daß“ oder „dass“: dieses Hindernis bleibt gleich hoch. (Das sagt auch Profssor Ickler immer wieder.)

Ich stimme in diesem einen Punkt nicht zu. Richtig ist: Das Hindernis ist höher geworden. Ein Stück höher beim Schreiben mit der Hand und viel, viel höher beim Schreiben auf der Tastatur. Sinnvollerweise gemessen an der Fehlerquote, weil es letztlich nicht nur um die Fähigkeit zur grammatischen Unterscheidung geht (hier hat sich nichts verändert), sondern mechanische Schreibfehler (auf der Tastatur: Tippfehler) kommen hinzu. Ich habe es schon so oft genauer begründet, ich verzichte hier darauf. Man kann die Allgegenwart des Problems "das[s]?" (bei der Einleitung von Nebensätzen) mühelos in aktuellen Texten besichtigen.

 
 

Kommentar von rrbth, verfaßt am 02.04.2006 um 06.30 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3627

Was das Ministerium verschweigt:

Durch die neuen Regeln erschwert worden ist nach Ansicht der Pädagogen hingegen die Vermittlung der Getrennt- und Zusammenschreibung: Hier sehen nur 23 Prozent eine Erleichterung, 77 Prozent hingegen eine Erschwernis des Unterricht. [...]
Dementsprechend sehen auch 58 Prozent der Lehrer viel Nachbesserungsbedarf bei der Getrennt- und Zusammenschreibung. Auch bei der Groß- und Kleinschreibung wünschen sich 49 Prozent der Pädagogen noch viele Änderungen. Die restlichen neuen Regeln sind bei ihnen weitgehend unumstritten.


Herr Ickler zitiert:
•Vereinfachungen aus der Sicht der Lehrer im Unterricht, z.B.:
- 93% s-Schreibung
[...]
•Die Änderungen der ss-ß-Schreibung bewerten 73 % positiv, besonders die Volksschullehrer/innen sehen eine Verbesserung.

Das bedeutet doch aber, daß 20 % der befragten Lehrer die „Vereinfachung“ nicht als „positiv“ bewerten.

Die Deutschlehrer wurden auch „zu ihren Erfahrungen in der Praxis“ befragt. Dazu sagt das Unterrichtsministerium gar nix.

Und nocheinmal:
Ich bin der Meinung, daß vor allem Grundschullehrer die Reform „sehr gut angenommen“ haben. Das wird dann (wider besseres Wissen) verallgemeinert und von einer problemlosen Umsetzung der RSR an den Schulen (und bei den Lehrern) gesprochen.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.04.2006 um 04.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3626

Ich bezog mich auf diesen vom Unterrichtsministerium übermittelten Text:

"Rechtschreibreform wurde in Österreich sehr gut angenommen

Dies ergab eine Umfrage des FESSEL-Institutes

Befragungszeitraum: 20.1. - 14.2.2005
Befragt wurden
·551 Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer
- zu ihren Erfahrungen in der Praxis
- zur Gesamtbewertung der Reform (was hat sich dadurch vereinfacht bzw. erschwert)
- zum Handlungsbedarf und zu Nachbesserungsvorschlägen
·504 Personen aus der Gesamtbevölkerung

Ergebnis der Lehrerbefragung:
78% der Lehrer/innen stellen fest, dass die neue Rechtschreibung den Unterricht einfacher gemacht hat.

·Vereinfachungen aus der Sicht der Lehrer im Unterricht, z.B.:
- 93% s-Schreibung
- 85% Wort- Silbentrennung
- 65% Fremdwörter-Schreibung
·Die Änderungen der ss-ß-Schreibung bewerten 73 % positiv, besonders die Volksschullehrer/innen sehen eine Verbesserung.

Handlungsbedarf sehen die Lehrerinnen und Lehrer vor allem bei der:
·Getrennt- und Zusammenschreibung
·Groß- und Kleinschreibung


Ergebnis der Befragung der Gesamtbevölkerung

·64% der Bevölkerung geben an, die neue Rechtschreibung bereits zu verwenden,
- die Hälfte meint sie auch zu beherrschen
- bei der Altersgruppe bis 29 Jahre meinen dies sogar 73%.
- Von den über 60-Jährigen sagen dies immerhin 43%."

Interessant daran fand ich - bei aller Undurchsichtigkeit der Befragung - die erstmalige Einführung des Kriteriums, welche Rechtschreibung leichter zu unterrichten sei. Es ist bekannt, daß viele Deutschlehrer sich zum erstenmal systematischer mit Orthographie beschäftigt haben, als sie ihnen in Gestalt der Neuregelung entgegentrat. Die bisherige Rechtschreibung und ihre systematische Natur war nie Gegenstand der Deutschlehrerausbildung. Und in der Tat erhoben ja die alten Dudenrechtlinien nie den Anspruch, eine systematische Darstellung zu sein. So wurde ein gewisses Vorurteil zugunsten der Neuregelung erzeugt.


 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 01.04.2006 um 21.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3625

In dem von rrbth angegebenen Link wird die ss-Schreibung überhaupt nicht thematisiert. Es geht immer um die Reform als Ganzes.


 
 

Kommentar von rrbth, verfaßt am 01.04.2006 um 21.23 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3624

Das hatte ich auch schon gefunden. Um die Umfrage wirklich bewerten zu können, müßte man aber schon wissen, was (und wie) genau gefragt wurde.

Und:
Nachdem 78 % der befragten Deutschlehrer angegeben haben, daß „die neue Rechtschreibung den Unterricht einfacher“ macht, nehme ich an, daß hier (hauptsächlich?) Grundschullehrer befragt wurden. Und der Grundschulunterricht kann ja wirklich einfacher geworden sein. Und deshalb muß der Rest der (deutschlesenden) Menschheit sich den RSR-Schwachsinn gefallen lassen?
 
 

Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 01.04.2006 um 21.02 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3623

"Halbrhetorische" Frage an "tk/S. Fleischhauer" - wie unterscheidet man denn die Schreibung von "Mist" und "misst" anhand der Vokallänge (zumal als Süddeutscher)?
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 01.04.2006 um 19.55 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3622

Geben wir doch neidlos zu, daß die Einführung der Heyseschen ss/ß-Schreibung ein Geniestreich der Rechtschreibreformer war. Nicht nur überzeugt sie wahrscheinlich 90% oder mehr der Bevölkerung, die überhaupt darüber nachdenkt, als "logischer" als die herkömmliche Schreibung, sondern nur sie hat die Rechtschreibreform unumkehrbar gemacht. Alle anderen Änderungen, die Feinheiten der GZS, der GKS und der Kommasetzung, vom Apostroph ganz zu schweigen, sind dem größten Teil der Bevölkerung entweder unbekannt oder gleichgültig. Sie sind zumindest für den Grund- und Hauptschulunterricht auch weitgehend belanglos. All diese Änderungen hätten sich deshalb ohne große Probleme wieder rückgängig machen lassen.
Erst die ss/ß-Schreibung macht die Schüler zu Geiseln der Rechtschreibreformer. Diese Geiselnahme unserer Kinder und Enkelkinder ist das schlechthin Häßlichste an der Rechtschreibreform. Selbst die FAZ wird deshalb früher oder später einknicken, wenn sie nicht zu den jugendgefährdenden Schriften gezählt werden will.
Das Geniale an dem Manöver zeigt sich auch daran, daß selbst die Eltern nicht gegen diesen Mißbrauch von Minderjährigen protestieren, weil ihnen Angst gemacht wird, ihre Kinder könnten womöglich wieder umlernen müssen.

 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 01.04.2006 um 18.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3620

tk schrieb:
"Ich weiß, daß ich mich mit meiner halbrhetorischen Frage auf Glatteis begebe, aber: Wenn es so schwierig wäre/ist, zwischen langen und kurzen Vokalen zu unterscheiden, wie konnten dann früher Schreiber zwischen Maßen und Massen, zwischen Wiesen und Wissen, zwischen Wesen und wessen unterscheiden? "

Mit dieser Frage, rhetorisch oder nicht, begibt man sich nicht aufs Glatteis, sondern läuft geradewegs zum Feind über. ;-)
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 01.04.2006 um 18.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3619

Ich muß nochmal bei Herrn Ickler nachfragen. Im Beitrag ist von 73 bzw. 93% bezüglich des ss die Rede, nachträglich dann von 78% bezüglich der gesamten Reformschreibung. Irgendwie leuchten mir diese Zahlen nicht ein.
 
 

Kommentar von Hans-Jürgen Martin, verfaßt am 01.04.2006 um 16.35 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3618

Die "reformerische Erklärung der s-Schreibung" erscheint deshalb "logisch und einfach", weil sie auf einem "einfachen" Mißverständnis beruht: Ihre Fans (deren Herkunft von engl. fanatics auch und gerade in "progressiven" Lehrerkreisen oft genug unter Beweis gestellt wird) gehen ganz selbstverständlich und unreflektiert von ihrer Kenntnis der traditionellen Rechtschreibung aus: Wer weiß, wo im "Mißverständnis" traditionell ein "ß" steht und wo nur ein "s", kann nach kurzem "i" reformkorrekt das "ß" durch "ss" ersetzen.
Da ihre Schüler das nötige Vorwissen der deutschen Rechtschreibung nicht haben, haben sie viel größere Probleme, etwa das "Missverständnis" zu verstehen bzw. reformrichtig zu schreiben. Hinzu kommt die lernpsychologische Tatsache, daß Schüler im Vergleich zu Lehrern einen weiteren (und sich seit Jahren verschärfenden) Mangel haben: den der mangelnden Lesepraxis, die die Schreibung prägt bzw. nicht prägt – siehe Prof. Marx.

Solche Erkenntnisse sind nach meiner Erfahrung unter Deutschlehrern kaum verbreitet – man könnte sie häufig "problemlos" (um mal ein Lieblingswort der Kultusminister zu zitieren) durch jene "sachkundigen" Mitarbeiter ersetzen, die im Zuge der orthographischen Umstellung vor Jahren in den Kommunen "Fortbildungen" für städtische Mitarbeiter abhielten. Kürzlich geriet ich mit einer Deutschlehrerin aneinander, die die reformierte ss-Schreibung als große Erleichterung für Schreibanfänger hinausposaunte. Als ich Sie darauf aufmerksam machte, daß die Regel "ss" nach kurzem Vokal nur dort zutreffe, wo man voher "ß" geschrieben habe, bekam ich die empörte Antwort zu hören, natürlich müsse man auch künftig einzelne Schreibungen auswendig lernen (was in gewisser Weise stimmt). Dieselbe Lehrerin hatte in ihrer Stunde zuvor den Schülern per Tafelanschrieb den "Delfin" beigebracht in dem Glauben, dies sei die einzig richtige Schreibung. Als ich sie über den Irrtum aufklärte, bestand sie auf der "f"-Schreibung, weil "man ja zeigen will, daß (Verzeihung: dass) man Neuem gegenüber aufgeschlossen ist."

Da ich gerade dabei bin: Ein Schulleiter, der an einer der oben erwähnten Fortbildungen teilgenommen hatte, verpflichtete kürzlich schriftlich einen Schüler, regelmäßig und pünktlich am Unterricht "teil zu nehmen" …
 
 

Kommentar von W.L., verfaßt am 01.04.2006 um 14.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3616

Man muß sich fragen, wie man in den deutschsprachigen Ländern das Schreiben gelernt hat, als es noch keine Didaktiker gab. Vom Ergebnis her jedenfalls besser.
 
 

Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 01.04.2006 um 14.02 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3615

Der Lei(ch)tsinn

Zum wiederholten Male will ich den Begriff „Leitsinn“ ins Spiel bringen, ein Begriff, der aus dem Fachbereich der Biologie hinreichend bekannt ist. Dem Hund und dem Aal sagt man nach, daß sie vorwiegend geruchsorientiert sind; die Fledermaus erweist sich als vorzugsweise gehörsorientiert; die Katze setzt als Nachtjäger auf ihr Gefühl in den erschütterungssensiblen Tatzen; und der Adler besitzt extrem scharfe Augen.
Der Mensch dagegen – als Krönung der Schöpfung – ist sinnesoffen. Wird er blind, verstärkt er Tast- und Gehörsinn. Wird er taub, verlegt er sich auf Gestikulation und optische Feinwahrnehmungen. Ist er gesund, d.h. mit allen Sinnen ausgestattet und zudem denkfähig, dann sollte er sich glücklich schätzen und all seine Talente nicht verkümmern lassen.

Für das Rechtschreiben, einem für die zwischenmenschliche Kommunikation überaus wichtigen Trainingsbereich, kann und muß diese Sinnesoffenheit genutzt werden. Rechtschreibung ist ein vielfältiges naturgegebenes Betätigungsfeld. Spontanes Verständnis eines angenommen Lesers ist der Lohn für aufgebrachten Fleiß und vergossenen Schweiß.

Am Beispiel der S-Laut-Schreibung sei dokumentiert, wie frühere Rechtschreibmethodik zur Sicherung und Automatisierung des Sonderbuchstabens „ß“ beitrug. Im Gegensatz zur heutigen Methodik, die eindeutig das phonetische Prinzip zum „Leitsinn“ erhebt – (Unterscheidung zwischen kurzem/scharfen und langem/gedehnten Selbstlaut) –, war das Sinnestraining früher breiter gefächert, so daß ein solides und stützendes Fundament entstand.
Genutzt wurden:
– Visuelle Lernhilfen (Geisterschrift, Wortrahmen, ...)
– Akustische Lernhilfen (Wortstafetten mit wechselnder Dehnung und Schärfung, ...)
– Sensorische Lernhilfen (Erproben und Erfühlen der Sprechwerkzeuge des Mund-, Rachen- und Kehlkopfbereichs, ...)
– Analogiebildungen (Bildung von Wortfamilien, Reimwörtern, ...)
– Erkenntnisse zum Sonderbuchstaben ß (in der Schreibschrift hat das „ß“ eine signifikante Überlänge; ist nur im Wortinneren möglich; verbindet als geniale Buchstabenneuerfindung das ursprüngliche Lang- mit dem Rund-S; schafft deutlich sichtbare Silbenfugen, ...)
– Grammatische Unterscheidungen (Bindewörter, Begleiter, Fürwörter, ...)
– Regelerkenntnis (ss am Schluß bringt Verdruß, ...)
– Mathematische Erkenntnis (am Silben- und Wortschluß können nur „s“ oder „ß“ stehen)
– Ausnahmeregeln (Fremdwörter: wellness, ...)
– ...

Es ist absolut logisch, wenn laut Kultusministerium das Unterrichten der Rechtschreibung erleichtert worden ist, denn die erkenntnisfördernden Maßnahmen geraten ja heutzutage zu kurz. Logisch auch, daß sich die Fehlerzahl erhöht hat, denn: „Gut Ding will Weile haben!“
Nach kultusministerieller Einschätzung ist die Rechtschreibung aber kein gutes Ding. Sie ist vielmehr Herrschaftsinstrument und Rohrstockersatz. Eine derart ideologisch eingefärbte Definition („grenzen“-loser Leichtsinn!) führt zur Vernachlässigung einer großartigen Bildungschance und verringert die Möglichkeiten im Bereich des präzisen zwischenmenschlichen Gedankenaustauschs.

 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 01.04.2006 um 13.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3614

"... wie konnten dann früher Schreiber zwischen Maßen und Massen, zwischen Wiesen und Wissen, zwischen Wesen und wessen unterscheiden?" tk (#3612)
Auch da hilft/half zum Erfolg das gelehrte Wissen, das Schreiber des Englischen anwenden: Wenn "piece" gemeint ist, schreibt man "piece", wenn "peace" gemeint ist, schreibt man "peace". Kein unsinniges Gerede davon, daß "man" es doch so ausspricht. Auch im Englischen wird das "i" in "creek" in einigen Gegenden lang, in anderen kurz ausgesprochen, und alle schreiben "creek". Denn "man schreibt" bedeutet im englischen Sprachraum, daß wenn man Bücher aufschlägt, wo diese Wörter verwendet werden, diese da eben so gedruckt stehen. Nur bei den Deutschen bedeutet "man schreibt" für Fernsehunterhalter und andere beflissene Journalisten und alle, die halt ohne eigenes Denken mitlaufen: Wir machen das vorbildlich so, weil's die Regierung so vorschreibt und wir's deshalb doch alle deutschtreu so mitmachen wollen. Bücherlesen, das stört doch nur; Einigkeit macht stark.

 
 

Kommentar von tk, verfaßt am 01.04.2006 um 12.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3612

Ich weiß, daß ich mich mit meiner halbrhetorischen Frage auf Glatteis begebe, aber: Wenn es so schwierig wäre/ist, zwischen langen und kurzen Vokalen zu unterscheiden, wie konnten dann früher Schreiber zwischen Maßen und Massen, zwischen Wiesen und Wissen, zwischen Wesen und wessen unterscheiden?
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 01.04.2006 um 09.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3611

Rechtschreibung ist leicht

Viel zu selten meldet sich hier einmal ein Lehrer wie Herr Stodtmeister zu Wort. Ihm gebührt Dank, lenkt er unseren Blick doch dorthin, wo Rechtschreibung nicht nur vermittelt, sondern ihre Beherrschung auch bewertet wird.
Faßt man seine Erfahrungen zusammen, so läßt sich vielleicht folgendes sagen:

1. Selbst die perfekte Beherrschung von Rechtschreibregeln befähigt nicht automatisch zum richtigen Schreiben. Wissen führt nicht zu Können.

2. Richtig schreiben nach Gehör funktioniert nicht zuverlässig, weil die Verschriftung des Deutschen nicht strikt dem Lautprinzip folgt. (Selbst wenn es so wäre, kämen doch noch unterschiedliche Aussprachegewohnheiten ins Spiel.)

3. Der Weg von Grammatik und Syntax zur Rechtschreibung ist gangbarer als der über ein davon losgelöstes Regelwerk. Er führt auch zur Entwicklung des Sprachgefühls als notwendiger und meistens auch hinreichender Bedingung des richtigen Schreibens.

4. Das Problem der Bewertung von Rechtschreibleistungen ist durch die Reform nicht kleiner geworden. Die Lösung könnte in einer Beschränkung auf eine Elementarorthographie bestehen, die dem Schulabgänger eine entwicklungsfähige Grundlage bieten könnte.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.04.2006 um 09.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3610

Ich habe noch einmal in der Zusammenfassung des Ministeriums nachgelesen, und dort steht tatsächlich:
"78% der Lehrer/innen stellen fest, dass die neue Rechtschreibung den Unterricht einfacher gemacht hat."
Also der Unterricht ist leichter geworden, nicht das Schreiben selbst (das ist vielmehr schwerer geworden, wie wir alle wissen).
 
 

Kommentar von Walther Stodtmeister, verfaßt am 01.04.2006 um 01.51 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3608

Für mich gab es einen guten Grund, die Reformschreibung zu übernehmen: Ich sah als Deutschlehrer das Ende aller Mühen mit Fluß-Flüsse-Übungen gekommen. Und war doch nur in die Falle meines naiven Lehrerglaubens getappt, daß etwas Logisches leicht lernbar sei. Dem ist nicht so.

Die Reformerfahrung an der Schule in meinen letzten Dienstjahren von 1996 bis 2002 bereitete meinen Hoffnungen auf eine Vereinfachung der s-Schreibung eine gründliche Enttäuschung. Die Probleme entfielen nicht, sondern es zeigte sich, daß ein verhältnismäßig großer Teil der Bevölkerung auch mit den neuen Regeln nichts anfangen kann, selbst wenn sie brav gelernt werden. Für mich als Lehrer sah das zunächst sehr einfach aus: Die Regel für das Silbenende bleibt mir erspart, und ich lehre jetzt nur noch: nach langem Vokal ß, nach kurzem Vokal ss. Für einen großen Teil meiner Belehrten war diese Regel zwar memorierbar, aber nutzlos, denn sie ist nur dann brauchbar, wenn man kurze und lange Vokale unterscheiden kann. Viele Schüler, die diese Laute richtig aussprechen, schaffen es jedoch nicht, den Unterschied zu benennen, geschweige denn diesen Unterschied für ihre Rechtschreibtechnik zu nutzen.

Auch Dutzende von Arbeitsblättern mit Lückentexten helfen darüber nicht hinweg, denn bei der Unterscheidung von kurzen und langen Vokalen hat jeder die statistische Chance auf eine Trefferquote von 50 %; und wenn ihm noch ein paar vertraute Schriftbilder zu Hilfe kommen, bringt er es leicht auf 65 %. Solche Übungen sind kontraproduktiv, weil sie die Illusion vermitteln, gar nicht so unfähig zu sein und etwas für die Orthographie getan zu haben. Vielleicht helfen sie dabei, sich Schriftbilder visuell einzuprägen, vielleicht helfen sie beim Bau individueller Eselsbrücken, doch die Fähigkeit, lange und kurze Vokale in der gesprochenen Sprache zu erkennen und zu benennen, fördern sie kaum. Dazu sind andere Trainingsformen notwendig. Fazit: Wer die Schwierigkeit der langen und kurzen Vokale meistert, kann auch ein ß ans Ende der Silbe setzen, selbst wenn der Vokal davor kurz ist. Die Lernerleichterung durch Wegfall dieser Regel ist minimal. Und die Probleme mit dem s, besonders in Süddeutschland, wo das stimmhafte s exotisch ist, bleiben ohnehin bestehen.

Den Artikel „das“ schreibt kaum jemand falsch. Darüberhinaus ist es leider notwendig, Relativsätze, eingeleitet mit „das“, von Konjunktionalsätzen mit „daß/dass“ zu unterscheiden. Obwohl ich so viel Satzlehre nach Lehrplan erst von mindestens Zwölfjährigen zu verlangen hatte, war ein beträchtlicher Teil der Schüler nicht willens oder in der Lage, diese Unterscheidung dauerhaft als Denkinstrument zu akzeptieren. Die ersatzweise notwendige Sturheit, jedesmal die Probe mit „dieses“ und „welches“ zu machen, bringen nur wenige auf. Genügend Zeit zum Einpauken der Syntax gibt es in den Lehrplänen nicht, und wer es trotzdem tut, stellt sich abseits des pädagogischen Empfindens von Kollegen, Schülern und Elternschaft. Ob „daß“ oder „dass“: dieses Hindernis bleibt gleich hoch.

Mein lieber, geschätzter, verständiger Leser, das ist es, was ich Dir sagen will: Der Kern dieser Reform besteht lediglich darin, daß am Silbenende auch nach kurzem Vokal nicht mehr ß, sondern mit messerscharfer Konsequenz das Doppel-s, ss, geschrieben werden soll. Alles andere – Spagetti inclusive – ist törichtes Beiwerk und – im großen und ganzen – eitle Beckmesserei, inclusive einiger bedauernswerter Verirrungen im Bereich der Kommasetzung.

Es gibt kein gesichertes Wissen darüber, wie der Mensch schreiben lernt und was ihn eventuell dabei behindert. Die einen können es mit zehn Jahren und ein paar Grundschulregeln nahezu perfekt, andere lernen es nur teilweise. Erklärungen für diesen Sachverhalt mit der marxistischen Lehre vom Klassenkampf taugen nicht für die Entwicklung einer Rechtschreibdidaktik. In den letzten Jahren wurden aber einige interessante Beobachtungen gemacht, die von Laut-Zeichen-Verknüpfungen und ihrer Wahrnehmung ausgingen. Die Fähigkeit, Sprache zu hören, wurde genauer untersucht, und es stellte sich heraus, daß mancher „Legastheniker“ Sprache nicht exakt genug hört, wobei es sich nicht allein um physische Schwerhörigkeit handelt. Schon vorher war bekannt, daß es visuelle Lerntypen gibt. Ich beobachtete, daß Schüler Wörter im Dialekt dachten, derweil sie sie hochdeutsch schreiben wollten, was gerade bei genau arbeitenden Schülern zu Fehlern führte. Exaktes phonetisches Schreiben trügt aber auch den hochdeutsch denkenden Schüler. Dazu kommt der Geschlechterunterschied: Viele begabte Schüler männlichen Geschlechts lehnen es ab, sich auf die Rechtschreibung einzulassen, und suchen andere Betätigungsfelder für ihre Intelligenz. Verbreitet von besorgten Müttern und unter Teenagern weiblichen Geschlechts sind andererseits Rechtschreibphobien, die sich zu Diktathysterien steigern können. Zudem reichen sechs Wochen Sommerferien aus, um aus einem gut trainierten Grundschüler wieder einen Anfänger werden zu lassen. Den Volksetymologien ähnlich sind volkstümliche Rechtschreibregeln, die richtiges Schreiben blockieren: „Nach Komma schreibt man „das“ mit Doppel-s bzw. ß.“

Angesichts dieser realen Rechtschreibprobleme hätten die für die Schulen zuständigen Minister besser daran getan, die Grundlagenforschung und die Didaktik der Rechtschreibung zu fördern, als um das goldene Kalb der „Reform“ mit den unsinnigen Spitzfindigkeiten zur Groß- und Kleinschreibung, den Ukassen zur Getrennt- und Zusammenschreibung und einem viel zu komplizierten Regelwerk zu tanzen. Damit haben sie Rechtschreibung zur Spezialistensache gemacht, die in der Schule nicht mehr vermittelbar ist. Stattdessen hätten sie eine praktikable Rechtschreibung vorschlagen sollen, die mit Schulnoten bewertbar ist und deren Feinheiten außerhalb der Schulen gepflegt werden.

Mit der Rückkehr zu den früheren Schreibgewohnheiten können die Probleme des Schrifterwerbs im Schulunterricht allerdings auch nicht gelöst werden. Die Einpauk- und Regeldidaktik vergangener Jahrzehnte war zwar erstaunlich erfolgreich, aber zu ihr gibt es kein unbedingtes Zurück. Es wären die Instrumente individualisierender Diagnostik und individueller Förderung weiter zu entwickeln und zu verbreiten. Ein Institut wäre damit zu beauftragen, fortlaufend statistisch gut abgesicherte Normdiktate zu entwickeln, sodaß kontrollierbare Anforderungs- und Bewertungsniveaus (mit den zugehörigen Wortschatzlisten) zuverlässige Aussagen über Rechtschreibleistungen ermöglichen. Denn Deutschnoten sagen darüber nichts aus. Und jeder kann von katastrophalen Rechtschreibleistungen faseln, ohne sein Urteil begründen zu müssen. Doch davon sprechen die Kultusminister nicht. Es geht ihnen nämlich nicht um die Verbesserung der Rechtschreibleistungen der „armen Schüler“, denen jetzt auch noch der Anblick von Publikationen mit herkömmlicher Orthographie erspart werden soll, sondern nur um einen möglichst gloriosen Abschluß der verkorksten PR-Kampagne „Rechtschreibreform“.


 
 

Kommentar von rrbth, verfaßt am 31.03.2006 um 12.26 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3583

Wo kann man diese Untersuchung nachlesen?
 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 31.03.2006 um 12.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3581

Die Frageformulierung der Umfrage ist leider nicht bekannt. Aus dem Bericht Herrn Icklers geht auch nicht klar hervor, ob die Umfrage auf die s-Schreibung beschränkt war. Dies wäre jedoch aus Sicht des Ministeriums ziemlich klug gewesen.
 
 

Kommentar von Kai Lindner, verfaßt am 31.03.2006 um 10.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3578

@ Fleischhauer

Einfache Antwort: Es kommt auf die Fragestellung an.

"Finden Sie, daß die neuen Regeln für Ihre Schüler leichter sind?"

"Finden Sie, daß Ihre Schüler durch die neuen und leichteren Regeln (sic!) weniger Fehler machen?"

"Finden Sie, daß Ihre Schüler weniger Fehler machen?"

Welcher Lehrer macht schon eine Statistik über die von ihm entdeckten Fehler? Dazu muß man ein Sprachforscher/Sprachliebhaber sein... beides trifft doch auf die Mehrzahl der Deutschlehrer nicht zu.

Ich denke, die meisten Deutschlehrer wollen einfach glauben, daß die neuen Regeln leichter und damit besser sind... und wenn man nur fest genug an etwas glaubt, dann sieht man es auch und wird blind für die Realität.

Dieser Selbstbetrug ist notwendig, damit man als Lehrer erhobenen Hauptes seinen Beruf ausüben kann.

 
 

Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 30.03.2006 um 20.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3569

Back to topic! Es ging um die Frage, wie die Einschätzung der Lehrer zustande kommt.
 
 

Kommentar von tk, verfaßt am 30.03.2006 um 19.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3567

Zum Thema ß siehe den Beitrag von Herbert Brekle (Gutenberg-Jahrbuch 2001).
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 30.03.2006 um 19.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3566

Die 1927 von Paul Renner erfundene berühmte Linear-Antiqua "Futura" hat Buchstaben für Lang-s und Kurz-s und ß und Ligaturen für ff, fi, fl, ft, Doppel-Lang-s, Lang-s-i, Lang-s-t. Abgebildet in der Südd. Zeitg. v. 18./19.3.06, Historie, "Die Avantgarde der Buchstaben".
 
 

Kommentar von Klaus Malorny, verfaßt am 30.03.2006 um 18.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3565

Nun, es gibt Leute, die betrachten das ß gerade als diese Ligatur. Ich als Laie halte das für einleuchtend..

 
 

Kommentar von Schriftfreund, verfaßt am 30.03.2006 um 18.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3564

Man kann die Heyse-Regel zwar auch in gebrochener Schrift umsetzen, aber eine langs-s-kurz-s-Ligatur habe ich in noch keiner elektronischen Schrift gesehen. Auch in Unicode wird sie nicht vorgesehen sein.

Es gibt auf der Seite http://flitternikel.onlinehome.de/heyse-s.html Beispiele für eine solche Ligatur in Bleisatz.

Man wird wohl anstelle einer solchen Ligatur im digitalen Satz auf das ß zurückgreifen müssen.
 
 

Kommentar von j.k., verfaßt am 30.03.2006 um 14.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3557

@ Herr Salzburg:
Ich gebe Ihnen völlig recht mit Ausnahme bezüglich der Frakturschrift: Es mag zwar greulich aussehen, jedoch ist es auch möglich, Fraktur in Heysescher s-Schreibung zu schreiben. Anstelle des Schluß-ß wird dann lang-s-kurz-s gesetzt, was als Ligatur sogar einigermaßen ansehnlich ist!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.03.2006 um 13.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3555

Da ich beruflich ständig mit Ausländern zu tun habe, die Deutsch als Fremdsprache gelernt haben oder noch lernen, kann ich versichern, daß die genauere Bezeichnung der Vokallänge bei der reformierten s-Schreibung nicht ins Gewicht fällt. Ich weiß, daß mein überaus geschätzter französischer Kollege Zemb diesen kleinen Vorteil zugunsten der ss-Regelung ins Feld geführt hat, aber ich kann ihm da nicht folgen. Mir hat jedenfalls noch keiner der vielen ausländischen Studenten etwas Entsprechendes berichtet. Wie Herr Salzburg richtig sagt, lernt der Ausländer die Länge einfach mit - oder auch nicht. Und hier liegt das eigentliche Problem: In sehr vielen Fremdsprachen ist die Vokallänge nicht distinktiv, und deshalb sprechen unsere ausländischen Freunde aus der slavischen oder der romanischen Welt jene halblangen Vokale, die in unseren Ohren den untrüglichen "Akzent" ausmachen. Das ist ganz unabhängig von unserer Schreibweise. Ab und zu kommen ausländische Gäste zu mir, die eine ungewöhnlich gründliche phonetische Schulung hinter sich haben und die Vokallänge perfekt beherrschen; das sind kometenhafte Erscheinungen, denen ich dann jedesmal ein Kompliment mache, denn es ist wirklich eine außerordentliche Leistung.
 
 

Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 30.03.2006 um 12.52 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3552

Ich habe hier einmal eine Stoffsammlung gemacht:

30 Gründe
gegen das reformerische „Umfunktionieren“ des traditionellen „ß“
1. Eine sechshundertjährige Schreibtradition im Deutschen wird vernichtet.
2. Der Existenzgrund des „ß“, die Ästhetik und Lesefreundlichkeit, wird mißachtet.
3. Die Vertrautheit mit älteren Schriftzeugnissen wird erheblich gestört.
4. Die deutsche Fraktur, ein altes Kulturgut, wird endgültig ausgegrenzt und stilistisch unmöglich.
5. Das bisherige rein graphische Endzeichen „ß“ wird „umfunktioniert“ zu einem notwendigen, aber nicht gleichwertigen Sonderbuchstaben.
6. Das neue ß wird ein Buchstabe minderen Rechts, der noch nicht einmal eine Stellung im Alphabet hat. Er ist am Wortanfang nicht zugelassen und kann nicht verdoppelt werden.
7. Die neue Verwendung des „ß“ als Großbuchstabe ist eine ästhetische Katastrophe.
8. Das neue „ß“ paßt in keine Systematik: Es dient nun nur zur Darstellung mancher scharfer „s“ nach vorhergehendem langen Vokal.
9. Die Zahl der Ausnahmen von der „neuen“ Verwendungsregel ist unübersehbar groß.
10. Das neue „ß“ ist bei Diphthongen und längenmarkierten „i“ (d.h. „ie“) eigentlich überflüssig, sondern könnte durch „ss“ vertreten werden – ein Anreiz zur Nichtbeachtung der Heyseregel.
11. Das neue „ß“ unterdrückt durch strenge Längendefinition regionale Sprachunterschiede ( „Geschoss“ – südd. „Geschoß“).
12. Mit dem Fortfall der ß-Silbenschlußfunktion entfällt auch der Hinweis auf den möglichen Stimmeinsatz des folgenden Anfangsvokals als Lesehilfe: „Schlosserhaltung“, „Messerwartung“
13. Die falsche Aussprache unreformierbarer Eigennamen wird vorprogrammiert: „Litfaßsäule“, „Langeneß“, „Mißfeldt“.
14. Das neue ß-System stiftet als Zwitterform sowohl neben der Traditionsschreibung, als auch neben der Schweizer Schreibung Verwirrung unter Lesern und Schreibern.
15. Die neuen ss gefährden die Aussprache und Sinnerfassung: „bißchen“ > „bis-schen“.
16. Die neue ss/ß-Regel ist der Geßlerhut der „Reform“ und verletzt den Datenschutz. Sie macht die Unterwerfung unter die Reform leicht kontrollierbar.
17. Die „neuen“ ß erzwingen die Neubearbeitung aller bisher gedruckten Literatur und lassen ältere Literatur „alt“ aussehen.
18. Die unvermeidlichen „sss“ werden die bei weitem häufigsten Dreifachbuchstaben, sind störend, häßlich und schlechter leserlich.
19. Die „neuen“ ß und „ss“ sind die Hauptursache für die Kosten der „Reform“ in Milliardenhöhe.
20. Die neuen ss und die neuen Lücken verlängern die Texte und erhöhen den Papierverbrauch.
21. Die „neue“ ss/ß-Regelung führt nachweislich zu mehr Fehlern (lt. Prof. H. Marx bis 22%, s. BILD v. 6.9.04)
22. Das Nebeneinander von mehreren Schriftsystemen mit ihren falschen Anwendungen hat die in der Neuzeit einmalige Mißachtung von Sprache und Rechtschreibung verstärkt.
23. Niemand hatte die alte Heyse-Regel von 1830 gekannt und verlangt – außer wenigen Schreibhistorikern.
24. Das Volk hat die neue ss/ß-Schreibung am 27.9.1998 in einer repräsentativen Volksabstimmung abgelehnt.
(Die Wähler hatten sie zuvor in „reformierten“ Zeitungsausgaben vom 20.8.1998 „bewundern“ können.)
26. Die Schweizer bleiben bei der ß-losen Schreibung und lehnen es auch ab, die „neuen“ ß einzuführen.
28. Die „neue“ ss/ß-Regel erleichtert dem Staat die orthographische Machtergreifung über Schulen und Ämter und geht weit über die vom Bundesverfassungsgericht für zulässig erachteten „regulierenden Eingriffe, die Widersprüche im Schreibusus und Zweifel an der richtigen Schreibung beseitigen“ hinaus.
27. Die ss/ß-Schreibung ist das Trojanische Pferd der „Reform“: Durch die Bresche, die für sie in die bewährte Rechtschreibung geschlagen wird, zieht auch der übrige Unfug der Reform ein, besonders bei Bearbeitungen und Übersetzungen.
29. Die Einmauerung und Isolierung der Elite unserer Schriftsteller mit ihrer „veralteten“ Rechtschreibung gegenüber der heranwachsenden Generation und die Erpressung der Jugendbuchautoren ist eine Schande für ganz Deutschland.
30. Die „neue“ ss/ß-Regel hat das deutschsprachige Volk zu einem Volk von Schreibstümpern gemacht.

Die genauere Bezeichnung der Vokallängen soll der große Vorteil der Heyse-Regel sein, aber: Muttersprachler benötigen dies nicht. Ausländer, die akzentfrei lesen wollen, könnten sich schnell merken:
Alle einfach geschriebenen Vokale vor einem Schluß-ß sind kurz –
außer in folgenden Wortstämmen: aß; Fraß, fraß; Maß, maß, gemäß; Gefäß; saß, Gesäß; vergaß; (Spaß); bloß; Floß; groß; Kloß; Schoß; Stoß; Fuß; Gruß; Ruß; süß
 
 

Kommentar von Anita Schühly, verfaßt am 30.03.2006 um 10.17 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=474#3547

Ein s-Laut an Satz- oder Silbenende klingt immer "scharf", d.h. stimmlos. Früher konnte er nur auf zwei Weisen dargestellt werden, als s oder ß. Heute gilt es aus drei Möglichkeiten zu wählen. s (Mus), ss (Guss), ß (Fuß).
Schon diese Verminderung der Chancen, das Richtige zu treffen, dürfte die vielen ss/ß Fehler hinreichend erklären.
 
 

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