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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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24.06.2008
 

Verunsicherung
Die Wiederherstellung einer einheitlichen Rechtschreibung kann dauern

Beim Lesen von Zeitungen und Büchern fällt mir immer wieder auf, wieviel „alte Reform“ noch in den Köpfen oder Programmen steckt. Man stößt ständig auf Schreibweisen, die 1996 mit so geballter Macht auf den Markt gestoßen, seither aber revidiert wurden. Das zeigen auch die vielen Beispiele, die hier, z. B. im Diskussionsforum, gesammelt worden sind.

Einst überlegten Kritiker wie Befürworter der Reform (mit unterschiedlicher Wertung), wie lange es wohl dauern werde, bis die „alte Rechtschreibung“ völlig verdrängt sein würde. Heute sehen wir, daß die Verdrängung der „alten Reform“ das Hauptproblem ist. Auch dies geht auf das Konto der Reformer; sie haben eben nicht gut genug gearbeitet.



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Kommentare zu »Verunsicherung«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.04.2018 um 05.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#38506

Auch korrekturlesen usw. bei mir nur optional! Ich gebe damit wieder, was ich in nichtreformierten Texten gefunden habe.

Man kann das nicht übers Knie brechen. Obwohl die Abfassung meines Wörterbuchs nun schon eine Weile zurückliegt, brauche ich nicht darin nachzusehen, wie das mit Korrektur lesen geregelt ist. Insofern führt die Offenhaltung zweier Möglichkeiten auch nicht zur Verwirrung. Ich selbst habe natürlich das Grundprinzip verinnerlicht und kann daher im voraus sagen, wo es Varianten gibt und wo nicht. (Dies noch einmal gegen den alten Vorwurf der Beliebigkeit.)

Eigentlich besteht kein Widerspruch zwischen ich lese Korrektur und ich muß noch korrekturlesen/ich habe korrekturgelesen. Die "Univerbierung" erfaßt nicht alle Konjugationsformen und Stellungsvarianten gleichzeitig, das ist ein schriftunabhängiger Sachverhalt. So gibt es ja auch kein ich hetze Probe; darum entfällt die Frage, wie man es schreibt.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 15.04.2018 um 22.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#38505

Vielleicht noch dieses Beispiel, weil es auch nach Ickler getrennt geschrieben wird:

Schmiere/Wache stehen/gestanden, ich stehe S./W.

Aber nach Ickler auch möglich: wachestehend.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 15.04.2018 um 22.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#38504

Diese Konstruktionen, wo das Substantiv kein Objekt zum Verb ist, verunsichern mich immer, vor allem, weil es schon vor der Reform sehr uneinheitlich zuging:

kopfstehen, kopfgestanden, ich stehe kopf
probefahren, probegefahren, ich fahre Probe
Korrektur lesen, Korrektur gelesen, ich lese Korrektur
maschineschreiben, maschine[n]geschrieben, ich schreibe Maschine

Korrektur lesen steht erst seit der Reform im Duden, also sollten die infiniten Formen vorher laut Duden wohl auch getrennt geschrieben werden.
Im Ickler jedoch korrekturlesen, korrekturgelesen,
was ich auch einleuchtender finde.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.04.2018 um 09.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#38502

Akseners Stellvertreter hat schon mal ein wenig probegehetzt. (FAS 15.4.18)

Seit 1996 ist nur Getrenntschreibung zulässig, also

Akseners Stellvertreter hat schon mal ein wenig Probe gehetzt.

Der Grund für die neue Regel scheint zu sein, daß die Reformer mit einer von den infiniten Formen ausgehenden Univerbierung nichts anzufangen wußten. Grammatisch ist allerdings die Getrenntschreibung ebenso wenig analysierbar. Probe ist ja kein Objekt zum Verb.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.12.2016 um 08.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#34169

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#13187

Die Schreibweise vonnöten wird eigentlich nicht begründet, sie steht wie der ganze Abschnitt 55 (4) und die Einträge im Wörterverzeichnis erratisch in der Landschaft.

Sogar meine Lieblingszeile von Gottfried Benn wird manchmal so zitiert: Eine Wirklichkeit ist nicht von Nöten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.10.2010 um 15.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#16982

Gary S. Schaal: Vertrauen, Verfassung und Demokratie. Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden 2004.
Das Buch ist eigentlich interessant, aber die chaotische Rechtschreibung stört mächtig, ständig wechseln ß und ss, oft in derselben Zeile, dazu noch ausserdem usw.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.02.2010 um 17.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#15751

BILD wirbt mit einer Anzeige, die ein lobendes Wort von Daimlerchef Zetsche über BILD zeigt. Der faksimilierte Text ist in herkömmlicher Rechtschreibung gehalten.
 
 

Kommentar von Robert Roth, verfaßt am 16.01.2010 um 13.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#15554

Eben, die Textilfirma weiß selbst, woran es fehlt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.01.2010 um 05.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#15553

Eine Berliner Textilfirma sucht über Unicum Aktuell eine studentische Hilfskraft:

„(...) Sie sollten natürlich absolute Sicherheit in der deutschen Rechtschreibung besitzen!
Wir bieten
Einen guten und spannenden Job in einem mittelstänischen (!) Familienbetrieb, ausserdem (!) die Möglichkeit in viele kaufmännische Bereiche Einblick zu bekommen.“
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.01.2010 um 09.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#15545

Vor der Reform trennte der Duden: An-ako-luth. Das ist morphologisch richtig. Nach der Reform hieß es zunächst: A-n-a-ko-luth, während der Fremdwörterduden sogar die einzig richtige Trennstelle ausdrücklich beseitigte: A-na-ko-luth. In der 25. Auflage des Rechtschreibdudens ist natürlich die Trennung nach dem Anfangsbuchstaben wieder getilgt, der Rest aber gleich geblieben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.01.2010 um 13.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#15544

Drei reformierte Wörterbücher aus demselben Hause (unmittelbar vor der letzten Revision):

e-k-latant (Rechtschreibduden)
ekla-tant  (DUW)
ek-la-tant (Langenscheidt Großwörterbuch DaF)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.01.2010 um 10.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#15523

Kürzlich berichtete die Süddeutsche Zeitung in ihrer Serie über deutsche Weltmarktführer über die Firma Erfurt, die laut Bericht "Raufasertapeten" herstellt. Auf dem beigefügten Foto waren Packungen mit der Aufschrift "Rauhfaser" zu erkennen, und so steht es auch im Internet:
http://www.erfurt.com/cms/index.php?id=1171
In unserem Nachbarort vertreibt die Firma Rolladen-Böhm, zu deren Kunden wir gehören, weiterhin "Rolladen":
http://www.rolladen-boehm.de/rolladen.html
Der "Schwabachbogen aktuell" kann sich – jedenfalls in der gedruckten Ausgabe – nie entscheiden zwischen "Anzeigenschluss" und "Redaktionsschluß":
http://www.schwabachbogen.de/

Lauter Kleinigkeiten aus der nächsten Umgebung, aber das ist schließlich die Front der Wenigschreiber und kleinen Leute, denen die Reform zu mehr Rechtschreibsicherheit verhelfen wollte. Das offensichtliche Versagen Tag für Tag gerade in diesem Bereich führt zu dem Gesamteindruck, den inzwischen jedermann von der famosen Reform hat.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.10.2008 um 17.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#13187

In einer Rede unseres Außenministers lese ich "Strasse" und "von Nöten". Früher wäre das in offiziellen Texten nicht passiert.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 13.07.2008 um 16.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12582

Gegen die Folgefehler der Reform helfen keine Korrekturprogramme, weil diese bei unterschiedlichen Schreibweisen nicht erkennen können, welche Bedeutung der Schreiber meint. Es sind meist eben keine "Varianten", wie die Reformer behaupten.

Gegen die "Relativpronomen-dass"-Fehler würde nur der völlige Ersatz der Relativpronomen "der, die, das" durch "welcher, welche, welches" helfen. In den slawischen Sprachen gibt es nur diese Formen, wohl weil dort "der, die, das" keine Artikel, sondern Demonstrativpronomen sind.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.07.2008 um 11.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12581

Ob die Reformschreibung nun korrekt angewandt wird oder nicht, das braucht man gar nicht mehr zu untersuchen. Denn das eigentliche Ergebnis ist die Unsicherheit. So bekomme ich kaum noch Seminararbeiten usw., in denen ich nicht alsbald auf so etwas stoße: "ein Kleinkind, dass noch keine zusammenhängenden Sätze spricht".
Die Süddeutsche Zeitung nennt den FOCUS "das mittlerweile sehr Nutzwert orientierte Heft" (11.7.08). Andererseits: "überschwenglich" (13.7.08).
Damit müssen wir nun wohl leben.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 26.06.2008 um 03.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12438

Wem wird eigentlich bei einer Geiselnahme ein größeres Unrecht angetan? Der Geisel selbst oder demjenigen, der mit der Geiselnahme erpreßt wird?
Schüler und Lehrer haben natürlich nicht schuld an der Reform, und ich glaube, selbst das Unrecht, das der einzelnen Geisel zweifellos angetan wird, indem man sie zwingt, etwas Falsches zu lernen bzw. zu lehren, ist noch nicht das größte Unglück.
Nein, der eigentlich Angegriffene und Leidtragende ist weder der Schüler noch der Lehrer, sondern derjenige, der mit sachlichen Argumenten gegen die Reform vorgehen will, und dem dann gesagt wird, egal ob seine Argumente falsch oder richtig sind, sie können sowieso nicht berücksichtigt werden, weil ansonsten Schüler und Lehrer darunter zu leiden hätten.
Die größte Demütigung und das größte Unrecht an dieser Geiselnahme hat also das ganze Volk mit seiner Sprache zu ertragen.
Kann man darüber überhaupt einen sachlichen Disput führen, solange man das Unrecht nicht beim Namen nennen darf?
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 25.06.2008 um 22.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12435

1019#12430 / Manfred Riemer:
Das ist genau der Punkt: wir müssen nicht verstehen, was wir tun, um es tun zu können. Und wenn wir formales Verständnis für etwas erreichen und äußern können, ist das Tun (die Praxis) doch etwas ganz anderes. Wir sind hingegen durchaus handlungsfähig, und das, lange bevor wir verstehen. Und Verständnis folgt dem Tun. Niemals umgekehrt.

Dies begreifen Anhänger der progressiven Pädagogik nicht. Und die sogenannte Rechtschreibreform kam dem weitverbreiteten mechanistischem Denken entgegen, das da meint, alles könne man durch formales Verstehen lernen und gleich auch praktisch anwenden.
 
 

Kommentar von Philip Köster, verfaßt am 25.06.2008 um 19.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12433

Sehr geehrter Herr Riemer,

zur "Geiselnahme" der Schüler, die zwar in der Sache durchaus angebracht ist, aber wohl wenig förderlich sein dürfte, einen sachlichen Disput voranzutreiben, den ich ich mir so wünsche, weil es mir der Dummschreibweisen – auch dies schon ein Wort, welches in einem öffentlichen Diskurs nichts zu verlieren hätte – so langsam wirklich genug ist: Wem wird eigentlich ein größeres Unrecht angetan? Schülern, die gar nicht beurteilen können, was für sie das bessere ist, oder Lehrern und Nachhilfelehrern, die die alte Rechtschreibung weitergegeben haben, ohne sie vielleicht zu glorifizieren und in den Himmel zu heben, die aber immerhin dachten, das richtige zu tun und zu lehren, denen nun implizit wie explizit im nachhinein erklärt wird, daß vieles von dem, was sie gelehrt haben, falsch war?
Wir wissen doch sehr viel besser, worüber wir sprechen, ich spreche mich ja gerade für die Schüler aus, die offenbar in der Kultuspolitik keine Lobby haben. Das Schreibniveau von Abiturienten ist dramatisch schlecht, wie mir von Bewerbungsunterlagen und E-Mails bekannt ist, tief sitzt schon die Verunsicherung, was überhaupt ein Wie- und ein Hauptwort wäre. Was sind das für Kultuspolitiker, die ihren Schülern, deren Interessen sie doch vertreten sollten, lieber "sauschlechtes" Deutsch beibringen, als eine Fehlentscheidung zuzugeben?
 
 

Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 25.06.2008 um 19.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12432

Da gerade die Wikipedia erwähnt wurde: Hier finden sich spitzenmäßige Blüthen der Thorheit. Man diskutiert dort gerade über die Neuschreibung "Zier-rat".
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 25.06.2008 um 18.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12431

Den Ausdruck "amtlich korrektes, sauschlechtes Deutsch" finde ich klasse.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 25.06.2008 um 17.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12430

Lieber Herr Höher, was Sie oder auch LB oder Herr Mahlmann hier über Schulen geschrieben haben, meinte ich eigentlich nicht, das fand ich ja in Ordnung, Sie sind ja nicht "für die einfache Rechtschreibung" eingetreten, sondern haben über deren Auswirkung geschrieben. Tut mir leid, daß ich mich da nicht klar ausgedrückt habe. Was ich meinte, ist, daß so häufig hauptsächlich von Reformbefürwortern, aber manchmal auch sogar von Leuten, die eigentlich gegen die Reform sind, behauptet wird, die Rechtschreibung müsse in erster Linie leicht sein, und auch Schüler müßten unbedingt schon alles richtig schreiben können, oder, daß man Schüler nicht schon wieder ein Umlernen zumuten könne. Wenn man etwas Falsches lernt, dann darf man nicht auf das Richtige umlernen, weil das dann unzumutbar wäre. Diesen ganzen Unsinn, diese Geiselnahme der Schüler meinte ich.
 
 

Kommentar von ppc, verfaßt am 25.06.2008 um 17.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12429

Der Kampf gegen Ignoranz und Blödheit ist ein Kampf gegen Windmühlen.

Schreibt jemand "Ich habe Recht gehabt" und ich korrigiere in "recht", erhalte ich als Kommentar: Laut der Regeln (er/sie meint "laut den Regeln") ist das korrekt.

Entgegne ich "das ist grammatisch unsinnig", ernte ich: "Aber es ist zulässig, also richtig".

Argumentiere ich mit "Sag mal 'wie recht ich doch habe'. Ist 'recht' da ein Hauptwort?" erhalte ich als Antwort: Die Regeln erlauben Groß- und Kleinschrift.

Versuche ich es mit "Großschrift ist falsch, weil es kein Substantiv ist, also widerspricht es den Grundregeln", kriege ich, wenn ich Glück habe, ein "ist doch egal, ich darf so schreiben, und die Hauptsache ist, ich werde verstanden, und niemand außer Dir stört sich dran, also rutsch mir sonstwohin". Wenn ich Pech habe, werde ich als "Hochwohlgeborener" tituliert oder persönlich beleidigt.

Eine gewisse Argumentationshilfe ist der Leitfaden für die Rechtschreibung der Nachrichtenagenturen, welche zumeist die sinnvollere der zulässigen Alternativen propagieren. Manchmal hilft's, manchmal nicht; etwa wie ein bestimmtes Antibiotikum gegen multiresistente Keime.

A propos: Hat schon einmal jemand der anwesenden Herren oder Damen versucht, in wikipedia ein "so genannter" durch "sogenannter" zu ersetzen? Das kann ganz böse enden, bis hin zu persönlichen Angriffen, wobei die Jahre zurückliegende "Korrektur" in der anderen Richtung zwar überflüssig war, aber begeistert begrüßt wurde.

Wie ließe sich das Dilemma lösen? Soll jeder, mit dem ich diskutiere, mir vorab den Unterschied zwischen Haupt- und Eigenschaftswort erklären? Soll ich mit "Dir ist eh nicht zu helfen" reagieren, wenn die Antwort, wenn überhaupt, mangelhaft ist? Wie soll ich mit mangelhaften bzw. bruchstückhaften Rechtschreib- und Interpunktionskünsten der Lehrer und Lehrerinnen meiner Kinder umgehen? Soll ich ihnen sagen, daß sie blöd sind oder daß sie amtlich korrektes, aber sauschlechtes Deutsch schreiben?

Irgendwie finde ich, daß früher alles einfacher gewesen ist.
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 25.06.2008 um 14.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12425

Lieber Herr Riemer, Sie haben eigentlich ganz recht. Aber die Reform wollte sich nun einmal an den "Bedürfnissen der Schüler" orientieren. Sie wurde ursprünglich für Wenigschreiber konzipiert und dann mit diversen Kinderkrankheiten vorschnell 1996 ins Rennen geschickt. Das alles sind Tatsachen, für die hier freilich niemand verantwortlich ist.

Ich wollte keineswegs Lehrer oder Schüler entschuldigen, sondern vielmehr an ein paar Beispielen aufzeigen, warum manches unter dem ausgegebenen Motto "Einfache Rechtschreibung für alle!" so geworden ist, wie wir es täglich vorfinden.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 25.06.2008 um 14.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12423

Es gäbe heute weder ein Internet noch Telephone noch Fernseher, wir wären im Grunde fast noch in der Steinzeit, wenn wir ständig fragen würden, ob die Schüler in der ersten Klasse die Funktionsweise dieser Geräte auch richtig verstehen und sie richtig nachbauen können.

Deshalb finde ich es zum Verrücktwerden, wenn ich der ganzen Rechtschreibdiskussion ständig die angeblichen Nöte von Lehrern und Schülern erwähnt werden. Was wir brauchen, und was wir (vielleicht mit kleinen Abstrichen) schon einmal hatten, ist eine vernünftige Rechtschreibung. Und die ist dann gerade so einfach und so schwierig, wie sie eben ist, und genau so muß sie in den Schulen vermittelt werden.

Nicht umgekehrt. Schüler können vielleicht ein Handy malen, aber dieses gemalte Ding wird niemals einen Klingelton aussenden.
Genausowenig wird es je eine Rechtschreibung geben, die sich an den Bedürfnissen von Schülern orientiert.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 25.06.2008 um 13.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12421

Die Beispiele von Kelkin sind typische Reformfolgen, überall anzutreffende Beispiele für die Verunsicherung, von der Professor Ickler spricht. Wer sich etwa eingehämmert hat, kennen lernen um Gottes willen getrennt zu schreiben, der mißtraut sogar der Zusammenschreibung bei der Substantivierung das Kennenlernen.

Gerade lese ich im Online-SPIEGEL an prominenter Stelle:
Der Organisation Oxfam zufolge ist vor allem die Biosprit-Politik der Industriestaaten Schuld an der Krise.
(www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,561889,00.html)

Das große Schuld ist Rechtschreibreform pur, auch wenn so nicht von den Reformern intendiert. Ein verwirrter grammatischer Sinn der Schreiber ist nicht die Ursache, sondern allenfalls die Folge solcher vermeintlich oder tatsächlich verlangten Neuschreibungen.
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 25.06.2008 um 13.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12420

Zu LB (#12414):

Erschwerend kommt hinzu, daß die Handreichungen von 1995/96 ja gar nicht das damalige amtliche Regelwerk darstellen, sondern vielmehr eine Zusammenstellung daraus sind. Die meisten Lehrer haben sich dann auf der Grundlage dieses Extrakts wiederum verkürzte Merksätze zurechtgelegt (nach Langvokal und Diphthong ß, nach Kurzvokal Doppel-s). Ich glaube daher, daß es sehr schwer ist, in den Schulen von diesem dahinwurschtelnden ("funktionieren" wäre hier zuviel) System wieder wegzukommen.

Die meisten Lehrer haben einfach versucht, etwas Pragmatisches aus den alten 1996er Regeln zu machen. Die immer weiter verkümmernden Grammatikkenntnisse, die hier ebenfalls erwähnt wurden, verstärken das nur noch. Es ist einfacher, den "Abend" immer nur als Substantiv zu erkennen und entsprechend zu erklären. Die jetzt so beliebte "Artikelprobe" macht es auch irgendwie nachvollziehbar. Da wird es schon sehr viel komplizierter, den Schülern auch noch klarzumachen, daß ich auch mal nach einer Zeitadverbiale fragen kann. Man kann die beiden folgenden Sätze eben nicht mit einer einzigen Regel erklären:

"Wir treffen uns am Donnerstag abend vor dem Kino."
"Am Abend geht die Sonne im Osten unter."

Zweimal "am", was man leicht als "an + dem" erklären kann. Alles, was einen Artikel hat, ist ein Substantiv. Und schon ist etwas Falsches in allen Köpfen!

Frau Müncher hat hier einmal sehr schön (963#11479) versucht, die angeblich so einfache Heysesche s-Regel ohne Zuhilfenahme der Adelungschen Regel zu erklären. Das sind nämlich keineswegs diese beiden oben von mir erwähnten Merksätze.

Zu Herrn Mahlmann (#12411):

Die Legitimation der Beliebigkeit werden die Schüler in's Feld führen, denen die Rechtschreibung bis dorthinaus schnuppe ist und die davon genervt sind, daß ihr rechtschreibinteressierter Banknachbar immer wieder auf's neue zornesrot sein Leid beklagt.

Das setzte ja zunächst voraus, daß rechtschreibinteressierte Schüler in ihrer Freizeit viel Literatur in normaler Orthographie lesen. Ich will gar nicht abstreiten, daß es einzelne Schüler gibt, die, etwa von der Schullektüre Hesses angeregt, in ihrer Freizeit auch noch weitere Werke dieses Autors lesen, aber es wird doch eher eine kleine Minderheit sein. Der gewöhnliche (im Sinne von Virginia Woolfs "The Common Reader"), durchaus noch interessierte Schüler wird versuchen, nach einer Kohärenz, oder zumindest nach einer Nachvollziehbarkeit (kein sehr schönes Wort!) zu suchen. (Denn wer versucht, etwas nachzuvollziehen, der ist auch schon sehr interessiert.) Wenn es dann abenteuerlich durch die verschiedenen Reformstufen durcheinandergeht, wird er sehr bald die Lust daran verlieren. Im Normalfall müßte nun ein kundiger Lehrer helfend und steuernd eingreifen. Dazu hatte ich mich eingangs schon geäußert.
 
 

Kommentar von LB, verfaßt am 25.06.2008 um 11.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12414

Viele Grundschullehrer wissen gar nicht, daß es inzwischen mehrere Revisionen der sogenannten Rechtschreibreform gegeben hat. Sie verwenden immer noch die Handreichungen von 1996/97. Dabei handelt es sich in der Regel um die Taschenbücher, die damals die Reformgewinnler herausgegeben haben. Auch mancher Gymnasiallehrer hat nicht mitbekommen, daß sich bei Verben wie 'heiligsprechen' etwas getan hat. Da heißt es immer noch: "Getrennt! Wegen -ig!"
 
 

Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 25.06.2008 um 11.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12413

An Kelkin:

Die von Ihnen zitierten Beispiele lassen mich vermuten, daß die Autoren ihre Texte klassisch verfassen und später am Rechner per "Suchen und Ersetzen" auf Neuschrieb trimmen – mit der Folge, daß das System treudoof übergeneralisiert.
 
 

Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 25.06.2008 um 10.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12411

Ich vermute eher, daß die wenigen Schüler, die sich um gute Orthographie bemühen, durch das Chaos verärgert werden und nach Orientierung suchen, die nicht zu finden ist, so daß sie resignieren.
Die Legitimation der Beliebigkeit werden die Schüler in's Feld führen, denen die Rechtschreibung bis dorthinaus schnuppe ist und die davon genervt sind, daß ihr rechtschreibinteressierter Banknachbar immer wieder auf's neue zornesrot sein Leid beklagt.

Das Festhalten an überkommenen Reformschreibungen ist sehr ärgerlich, zumal es oft einhergeht mit stutenbissiger Rechthaberei und Vorwürfen, man sei ewiggestrig, renitent und weder willens noch in der Lage, die überragende Logik der Neufassung zu verstehen.
 
 

Kommentar von Kelkin, verfaßt am 25.06.2008 um 10.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12410

Nach all den Jahren habe ich den Eindruck, das aktuelle Rechtschreibchaos geht nicht auf eine Verschlechterung der Rechtschreibkenntnisse sondern der Grammatikkenntnisse zurück. Selbst angesehene Tageszeitungen leiten Relativsätze, die sich auf ein Neutrum beziehen, mit "dass" ein oder substantivieren ohne Zusammenschreibung ("für ein besseres Kennen lernen"). Vor unserem Haus gurkt öfter ein Auto mit der Werbeaufschrift "Jetzt Probe fahren" herum. Scheußlich. Das Auto auch.
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 24.06.2008 um 20.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1019#12399

Besonders gravierend scheint mir das Vorherrschen der 1996er Reformregeln bei Schulbüchern und Unterrichtsbüchern für Deutsch als Fremdsprache zu sein. Da findet sich auch in Bänden, die 2007 und 2008 erschienen sind, "so genannt", "kennen lernen", "wieder sehen" und "fantastisch". Wenn man viel Pech hat – und das habe ich in diesem Punkt leider häufig –, haben die zugehörigen Übungshefte, Arbeitsblätter und Glossare "sogenannt", "kennenlernen", "wiedersehen" und auch schon mal "phantastisch".

Und genau dieses Chaos erzeugt die allgemein verbreitete Scheinlegitimierung der Beliebigkeit. "Warum soll ich richtig schreiben können, wenn es doch das Buch auch nicht kann und mein Lehrer eh nicht weiß, was richtig ist?" Das werden sich womöglich die wenigen Schüler denken, die sich über so etwas wie Rechtschreibung überhaupt noch Gedanken machen. Kann man es ihnen verdenken?
 
 

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