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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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15.06.2007
 

Fingernägel
Zur Frage der Substantivgroßschreibung

Gloria von Thurn und Taxis teilt mit, daß sie "Fingernägel kaut" (Süddeutsche Zeitung, Streiflicht, recht lustig zu lesen).

Natürlich nicht beliebige, meine Fingernägel zum Beispiel würde sie nicht kauen. Die artikellose Verbindung deutet darauf hin, daß schon der erste Schritt zur Objektinkorporation getan ist.

In "heute abend" steckt nicht nur ein "nichtprojizierender Nebenkern" und was Gallmann sonst noch an Ad-hoc-Einfällen aufzubieten wußte (auch seine ältere Einsicht zum nichtsubstantivischen Charakter der Tageszeitangabe wäre heranzuziehen), sondern wir kennen auch sonst die allmähliche Degradierung von "Abend" zum Adverb. Zum Beispiel in der Wendung "gegen Abend" würde ich zwar immer noch groß schreiben, aber ich spüre deutlich, daß es sich um einen adverbialen Akkusativ handelt. Der Fall ähnelt für meine Intuition mehr "nach links" als "nach dem Gewitter".

Wenn Thomas Mann schreibt: "Und gerade heute Abend, unter so vielen Abenden, muß dies Schrecknis mich treffen - am Abend des schönen Tages meiner Erhebung ...", dann handelt es sich gerade nicht um eine Stelle, wie Gallmann sie gebrauchen könnte. Vielmehr liegt hier eine ebenfalls schon länger bekannte Deutung nahe, die "heute Abend" parallel zu "diesen Abend" konstruiert, in "heute" also eine Variante des Artikels bzw. Demonstrativs sieht. Das ist an sich nicht absurd (vgl. "ich Esel", "ihr Franzosen", wo man auch schon in den Pronomen eine besondere Form des Artikels gesehen hat), aber es wirbelt natürlich die Wortarten gründlich durcheinander.



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Kommentare zu »Fingernägel«
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Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 13.07.2007 um 14.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=854#9494

Man kann Dinge zeichnen, die man nicht real herstellen kann. Jeder kennt wohl die optische Täuschung einer im Quadrat nach oben führenden Treppe, deren oberste Stufe sich an der vierten Ecke wegen der Perspektive problemlos mit der untersten Stufe verbindet.

In ähnlicher Weise kann man etwas sagen, was man nicht schreiben kann. Mein Großvater wollte mich vor langer Zeit mit folgendem Trick hereinlegen: "Der Maler malt Bilder. Der Müller mahlt Korn." Wie schreibt man nun "Beide [malen/mahlen] auf ihre Art"? Man kann es überhaupt nur falsch schreiben.

Wenn Thomas Mann "heute Abend" analog zu "diesen Abend" konstruiert und somit die Wortarten gründlich durcheinanderwirbelt, dann versucht er eigentlich auch nichts anderes, als etwas zu schreiben, was es gar nicht gibt. Er steht vor dem gleichen Problem wie ich bei diesem "malen/mahlen", nur ist er so mutig, die eine Variante (abend) wegzulassen.

Er hätte ja genauso gut "diesen/an diesem/am heutigen Abend" schreiben können. Warum mußte es unbedingt "heute Abend" sein?
Vielleicht hat er absichtlich, also ganz bewußt, falsch geschrieben, weil es eine richtige, regelgerechte Schreibweise hier nicht gibt. Manns Satz hat den Charakter einer mündlichen Rede, er wollte es eben so ausdrücken, weil es mündlich und besonders in diesem speziellen Zusammenhang, obwohl grammatisch falsch, so sagbar ist.

Ich bin der Meinung, daß dieses Zitat nicht als Beleg für die Diskussion um die Schreibung der Tageszeiten gelten kann, denn es ist eigentlich schon grammatisch falsch. Aber der Schreiber, ob er nun ein berühmter Schriftsteller ist oder nicht, macht nicht unbedingt einen Fehler, wenn er mit Absicht und wohlbegründet falsch schreibt.

 
 

Kommentar von David Weiers, verfaßt am 18.06.2007 um 08.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=854#9136

Vielleicht war es auch nur Gewohnheit. Auch Fontane schrieb gegen Ende des 19. Jh. schließlich noch "heute Abend".
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 17.06.2007 um 23.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=854#9135

Die FAS fragt heute auf Seite 1 wieder in alter Manier:
"Heute morgen verschlafen?"

Was das Beispiel "heute Abend" von Thomas Mann betrifft, so denke ich, neben den verschiedenen möglichen Sinndeutungen und der künstlerischen Freiheit könnte man ihm auch wie jedem ganz normalen Menschen einfach mal einen Tippfehler oder sogar einen Irrtum zugestehen. Vielleicht hat sich wegen der Besonderheit dieses Satzes nur niemand getraut, ihn zu korrigieren.
 
 

Kommentar von Hans-Jürgen Martin, verfaßt am 16.06.2007 um 21.11 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=854#9122

Fälle wie "ich Esel", "ihr Franzosen" etc. fasse ich als Ellipse, als Auslassung von Artikeln auf: "ich, ein/der Esel", "Ihr/ihr, die Franzosen" etc. "Heute Abend" verstehe ich als "heute am Abend" - wissend, daß man auch hört: "Diesen Abend habe ich keine Zeit." Was mich interessiert: Hat man immer schon so gesprochen und geschrieben bzw. konkret: Belegen alte Quellen hier eine Präposition?
 
 

Kommentar von Marconi Emz, verfaßt am 16.06.2007 um 03.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=854#9114

Auch Spiegel Online liefert heute wieder hübsche Beiträge zum Thema "Substantiv"-Großschreibung:

"Wer sich an alten Zeiten hochzieht, ist selber Schuld", sagt Thomas Born." "Tulsa war zu jeder Zeit alles Recht, um die Konkurrenzstadt Oklahoma City auszustechen. (...) Das Ganze wurde Vakuum verpackt in einer spezialangefertigten Plastikhülle, die 1200 Jahre vor Rost schützen sollte."
 
 

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