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06.11.2006
Berliner Rechtschreibung
Was Senator Böger an den Berliner Schulen verteilen ließ
Peter Eisenberg: Deutsche Orthografie 2006 – Was in Zukunft gilt.
Handreichung zur Rechtschreibung. Hg. von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport, Berlin, August 2006. Redaktion: Fritz Tangermann. (Aufl. 30.000)
Vorbemerkung von Schulsenator Böger. Übrigens legt Böger auf die Feststellung Wert, daß die Handreichung nicht von der Benutzung der Wörterbücher entbinde, während Eisenberg auf der nächsten Seite das Ziel der Revision verkündet, die „Benutzung des Rechtschreibwörterbuchs weitgehend überflüssig zu machen“.
Bögers Mitarbeiter Tangermann sitzt als Vertreter des Germanistenverbandes im Rat für deutsche Rechtschreibung; als Senatsbeamter setzt er an den Berliner Schulen die Rechtschreibreform durch und begutachtet die Regeln, die er als Ratsmitglied selbst mitverfaßt hat.
Eisenberg schreibt: „Nach 10 Jahren Rechtschreibturbulenzen wurde mit dem 1. August 2006 das Ende des Übergangs zur neuen Rechtschreibung erreicht. Das betrifft sowohl die Schreibungen selbst als auch ihre Geltung: Wir haben wieder eine Orthographie, die in ganz Deutschland und darüber hinaus im ganzen deutschen Sprachgebiet gilt. Und wir haben auch wieder eine Orthografie, die sich allmählich und kontinuierlich entwickeln kann. Man muss nicht mehr damit rechnen, dass alle paar Monate ein Medienkrieg mit Forderungen nach radikalen Veränderungen ausbricht.“ (S. 4) Damit beschönigt Eisenberg die Tatsache, daß die Reparatur der Neuregelung auf halbem Wege abgebrochen wurde.
„Gut formulierte Regeln bilden eine Rechtschreibnorm ab, sie stellen die Norm nicht erst her.“ (S. 4) Gerade diese amtlichen Regeln schaffen aber neue Schreibweisen und sollen sie zur Norm machen. Sie sind nicht empirisch aus dem Gebrauch abgeleitet, sondern aus theoretischen Erwägungen. Daß sie stellenweise dem Usus wieder näher kommen als die Neuschreibungen von 1996, ändert nichts am Grundsätzlichen. Auch die vom Rat nicht mehr bearbeiteten Reformschreibweisen wie Stängel, schnäuzen hatten keinerlei Rückhalt im Schreibbrauch, rau statt rauh war in keiner Weise angebahnt. Die Einführung der Heyseschen s-Schreibung kam völlig überraschend.
„Von Schreibvarianten sollte man nur dann sprechen, wenn zwei Schreibweisen tatsächlich dasselbe bedeuten und in allen Kontexten gegeneinander austauschbar sind.“ Eisenberg führt aber später zahlreiche vermeintliche Varianten an, ohne auf die Beschränkungen der Austauschbarkeit hinzuweisen. Das gilt z. B. für Aufsehen erregend/aufsehenerregend S. 12 oder Recht haben/recht haben S. 14.
Die Erklärungen zur Schreibung von Resultativbildungen usw. S. 8 sind sachlich und logisch fehlerhaft: „Wenn man jemanden krankschreibt, dann ist er krankgeschrieben, aber krank wird er dadurch nicht.“ Hier wird erstens die Zusammenschreibung des Partizips schon vorausgesetzt und dann die des Verbs daraus abgeleitet. Man könnte ja ebensogut sagen: dann ist er krank geschrieben ... Zweitens wird aber der Patient tatsächlich erst durch den performativen Akt des Krankschreibens „krank“ im Sinne des Gesetzes. Dasselbe gilt für heiligsprechen usw. Die Begründung der (obligatorischen!) Zusammenschreibung ist also falsch, und damit stimmt auch die Schlußfolgerung nicht mehr. Vor der Reform war Getrenntschreibung vorgeschrieben, der tatsächliche Schreibbrauch schwankte wie bei fast allen Resultativzusätzen. Eisenbergs nachgeschobene Erklärung soll offenbar die Bestimmung § 34 (2.2) explizieren: „Es wird zusammengeschrieben, wenn der adjektivische Bestandteil zusammen mit dem verbalen Bestandteil eine neue, idiomatisierte Gesamtbedeutung bildet, die nicht auf der Basis der Bedeutungen der einzelnen Teile bestimmt werden kann.“ An die Stelle der „idiomatisierten Gesamtbedeutung“ setzt Eisenberg die Einsetzungsprobe mit krank vs. krankgeschrieben usw. In seinem Entwurf für die DASD hatte Eisenberg noch das Argument herangezogen, daß jemand, der einen Teller leer ißt, nicht den Teller ißt – auch dies war ein Versuch, die Schreibweise auf operationalisierbare Weise zu entscheiden, doch ist das Argument inzwischen wohl aufgegeben worden. Wohin all diese Versuche führen, sei noch an zwei Beispielen erläutert:
Schreibt man glattrühren zusammen? Die Revision hat die bisherige Zusammenschreibung fakultativ wieder eingeführt. Eisenberg würde wahrscheinlich sagen, daß Zusammenschreibung möglich sei, weil der Kakao sowohl glatt als auch glattgerührt werde. Allerdings sagt man nicht glatter Kakao. Trotzdem handelt es sich um eine Resultativkonstruktion, mit idiomatischer Komponente (glatt = nicht verklumpt). Bei bekanntmachen und bekanntgeben müßte, wenn es sich auf den formellen Akt der Bekanntgabe bezieht, nach Eisenberg nur Zusammenschreibung zulässig sein, denn durch den Akt wird ein Gesetz nur zu einem bekanntgemachten, aber nicht unbedingt zu einem bekannten. Die Revision sieht vor: Gesetze bekanntmachen oder (neu) bekannt machen; sich mit jemandem bekannt machen oder (neu) bekannt machen. Die bisherige Unterscheidung ist also aufgehoben, die in § 34 (2.2.) angebenene Bedeutungsdifferenzierung wird nicht anerkannt. (Auf die neuen Komplikationen der GZS hatte ich in meinem Sondervotum hingewiesen. Sie sind eine schwere Bürde, deren sich der Duden durch mechanische Empfehlung der Getrenntschreibung entledigt, also im Sinne der ursprünglichen Reform von 1996.)
Zu den Verbpartikeln: „Sind sie (bei vokalisch anlautender Präposition) nicht mit da, sondern mit dar gebildet, dann wird bei der entsprechenden Verbpartikel das a weggelassen, z. B. drinbleiben.“ (S. 7)
Im amtlichen Regelwerk heißt es hingegen unter § 36: „E2: Eine Reihe von Pronominaladverbien mit dem Bestandteil dar- wirft besonders bei der Verwendung als Verbpartikel das a ab, zum Beispiel: darin sitzen – drinsitzen, ähnlich dran- (dranbleiben), drauf- (draufhauen), drauflos- (drauflosreden).“ Das amtliche Wörterverzeichnis ist noch eindeutiger: d[a]rin^sitzen. Eisenbergs Darstellung ist also falsch, die Synkopierung ist fakultativ und hat nichts mit dem Status als Verbpartikel zu tun.
Die Getrenntschreibung sämtlicher Verbindungen mit sein wird als „Vereinheitlichung“ bezeichnet, weil auch früher schon Schreibweisen wie daist unzulässig waren. Wie ist es dann zu erklären, daß die amtliche Neuregelung ausdrücklich dagewesen vorsieht? (Der neue Duden enthält noch mehr dieser Art.)
Eisenberg erklärt ausführlich, warum es heißen müsse eislaufen, aber Auto fahren, daher auch ich laufe eis, aber ich fahre Auto. Zu den Gründen zählt er, daß die freie Ergänzung erweitert werden könne: ein altes Auto fahren, aber nicht *ein kaltes Eis laufen. Nun könnte man allerdings bezweifeln, daß es sich bei Auto fahren und ein Auto fahren überhaupt um dieselbe Verbindung handelt. Die Erweiterbarkeit der selbständigen und daher getrennt geschriebenen Ergänzungen ist auch nicht immer über jeden Zweifel erhaben, z. B. bei Probe singen, Probe turnen (er hat eine strenge Probe geturnt?). Die ganze Regel entgleist aber – wie schon die amtliche Revision und die neuen Wörterbücher zeigten – bei den Fällen, die angeblich beide Schreibweisen zulassen: brustschwimmen/Brust schwimmen, danksagen/Dank sagen, delphinschwimmen/Delphin schwimmen (auch hier weicht Eisenberg übrigens von der Dudenempfehlung Delfin ab!), gewährleisten/Gewähr leisten, marathonlaufen/Marathon laufen, staubsaugen/Staub saugen. Im Zusammenhang würde daraus nämlich folgen, daß möglich sind: er schwimmt brust/Brust, er leistet gewähr/Gewähr, er saugt staub/Staub usw. Die Wörterbücher sind (selbstverständlich) anderer Meinung. In Wirklichkeit geht es beim Hauptteil der Fälle um die völlig unvergleichbaren Konstruktionen er gewährleistet und er leistet Gewähr, er staubsaugt und er saugt Staub usw. Diese Dinge sind bereits in der amtlichen Regelung heillos vermengt, und Eisenberg trägt auch nichts zur Klärung bei.
„Eine größere Zahl von Wörtern, die formgleich mit Substantiven sind, tritt in prädikativer Verwendung mit dem Verb sein (zum Teil auch mit bleiben und werden) auf. Diese Wörter werden analog zu Adjektiven behandelt und kleingeschrieben.“ (S. 13) Nun, es sind Adjektive, zum Teil sogar genuine, und die zufällige Formgleichheit mit Substantiven wäre gar nicht erwähnenswert, wenn die Reformer nicht manches dieser Art mißverstanden hätten. Eine Firma ist pleite und selbstverständlich nicht Pleite. Eisenberg hätte aber erwähnen sollen, daß die Firma auch pleite geht (neuerdings pleitegeht) und nicht etwa Pleite geht, wie der Unverstand der Reformer und ihrer Auftraggeber es seit 1996 durchsetzen wollte.
Eisenberg zeigt zwar, daß kennenlernen und lieben lernen sich z. B. hinsichtlich der Einfügbarkeit von zu verschieden verhalten, aber daß „deshalb“ das eine auch zusammengeschrieben zulässig sein müsse, das andere aber nicht, wird nicht gezeigt. Im Rechtschreibrat wurde einfach mehrheitlich festgelegt, daß es so sein soll – ein sachlich unbegründeter Kompromiß zwischen traditioneller und reformierter Rechtschreibung.
Zu den archaisierenden Großschreibungen im Allgemeinen, des Öfteren usw. schreibt Eisenberg sehr zurückhaltend: „In der Regelung von 1996 ist man an dieser Stelle sehr weit in Richtung Großschreibung gegangen und hat festgelegt, dass beim Vorhandensein eines Artikels oder eines Artikelrestes häufig großgeschrieben wird. (...) Alle Großschreibungen dieses Art gelten weiter, es wurde hier nichts verändert.“ Tatsächlich war der Rechtschreibrat nicht willens, dieses Kapitel noch einmal anzufassen, aber was Eisenberg, der sich an dieser Stelle jede Kritik versagt, wirklich davon hält, hat er in seinem Kompromißvorschlag für die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung erklärt: Die neuen Großschreibungen im Allgemeinen, im Folgenden und im Wesentlichen seien „nicht akzeptabel“ (was ihn freilich nicht hinderte, sie in seiner eigenen Wörterliste dennoch anzubieten).
Das Neue Jahr darf auch nach der Neuregelung keinesfalls groß geschrieben werden. (S. 14)
Die Nominationsstereotype wie Schwarzer Holunder zählt Eisenberg jetzt zu den Eigennamen und begründet damit ihre Großschreibung.
Bei der recht oberflächlichen Darstellung der neuen Kommaregeln wird der ebenso häufige wie problematische Fall übergangen, daß der erweiterte Infinitiv von einer substantivhaltigen Wendung wie in der Lage sein, (neuschreiblich) im Stande sein usw. abhängt.
Im Abschnitt über die Silbentrennung erwähnt Eisenberg die von Zehetmair so oft herausgehobenen Fälle *Urin-stinkt und *Anal-phabet. Ungeachtet des heimlichen Spottes über den Ratsvorsitzenden versieht er die so getrennten Wörter mit Asterisken, was laut Einleitung ihre Unzulässigkeit kennzeichnen soll. Das entspricht aber keineswegs der amtlichen Regelung, die an dieser Stelle ausdrücklich nur einen unverbindlichen Rat gibt, solche Trennungen zu vermeiden (s. a. Protokoll der Ratssitzung vom November 2005). Das ganze Problem der Fremdworttrennung (Diag-nose usw.) bleibt ausgeklammert, es gibt dazu nicht einmal einen Ratschlag.
Eisenberg schreibt so genannt, während der neue Duden das von der Revision 2004 wiederhergestellte sogenannt empfiehlt; die Getrenntschreibung ist ein weiteres Beispiel für eine willkürliche, entgegen dem allgemeinen Schreibbrauch eingeführte Regel.
Rechtschreibfehler: S. 4: so weit das möglich ist (richtig wäre: soweit)
Druckfehler: Eigenname (S. 14 statt Eigennamen).
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Kommentar von Alexander Glück, verfaßt am 10.11.2006 um 10.23 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=704#6694
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Johannes Arends: Volkstümliche Namen der Drogen, Heilkräuter, Arzneimittel und Chemikalien, 18. A., Heidelberg: Springer 2005, erschien in traditioneller Rechtschreibung (Brennessel, Stendelwurz, sogar das doch schweizerische Pumpernußli mit -ß-).
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Kommentar von J. Hohenembs, verfaßt am 10.11.2006 um 09.37 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=704#6691
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"Die Nominationsstereotype wie Schwarzer Holunder zählt Eisenberg jetzt zu den Eigennamen und begründet damit ihre Großschreibung."
Warum muß immer "schwarzer Holunder" oder immer "Schwarzer Holunder" geschrieben werden?
Ich schreibe "schwarzer Holunder" klein, wenn ein Vertreter dieser Pflanze und nicht die Pflanze als botanische Art selbst gemeint ist, und im umgekehrten Falle groß.
"Der Jüngling sah den s(!)chwarzen Holunder und schlug in seinem Biologiebuch nach, worin geschrieben stand, man solle die Früchte des S(!)chwarzen Holunder niemals roh verzehren."
Wozu also unbedingt eine einheitliche Groß- oder Kleinschreibung festlegen, wenn das Abzubildende unter Umständen Alternativen verlangt?
Gleiches gilt im übrigen für die Getrennt-/Zusammenschreibung. Es ist vom Einzelfalle des Gebrauchs abhängig, welche der Möglichkeiten angewandt werden soll.
Auch die krampfhafte Suche nach unterschiedlichen Bedeutungen von Getrennt- bzw. Zusammenschreibung ist müßig. Der Schreiber ist dafür verantwortlich, dem Leser nichts Mißverständliches zu übergeben. Ergeben sich allein schon aus dem Zusammenhang keine Zweideutigkeiten, dann soll der Schreiber wählen, wie er lustig ist. Der Grundsatz, wonach Wörter mit wenigen Silben gegenüber jenen mit mehr zu bevorzugen sind, sollte als Regel ausreichen.
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Kommentar von B. Eversberg, verfaßt am 07.11.2006 um 13.23 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=704#6668
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Ist denn in diesem Forum keiner, der ein Kind in einer Berliner Schule hat? Der könnte dieses Papier an den Senator schicken mit der Bitte um Prüfung und Nachbesserung.
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Kommentar von Muck Lamberty, verfaßt am 07.11.2006 um 08.42 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=704#6664
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Nein, damit ist Siegfried Lowitz gemeint.
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 06.11.2006 um 23.14 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=704#6663
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"glatt" kann auch "tatsächlich" bedeuten.
Übrigens: Weiß man beiläufig, wer dieser "Alte" ist, bei dem immer alles gelassen wird oder bleibt? Der muß schon stinkreich sein. Es ist doch wohl nicht "der Alte vom Berge", der Begründer der "Assassinen".
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Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 06.11.2006 um 19.54 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=704#6662
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Resultate wo?
Sie sind halt verschieden (unterschiedlich?), die Resultate menschlichen Tuns, Erlebens oder Erleidens. Im ersten Falle werden sie gegebenfalls nur im Mentalen manifest (er ist ab morgen krankgeschrieben und nicht er ist ab morgen krank geschrieben), ohne daß sich damit an den physischen Gegebenheiten etwas ändert.
Die Reformer wollen das gleich setzen mit er hat sich seit gestern krank gefühlt. Solche sich in Sprach- und Schreibdaten offenbarende ontologische Diffizilitäten sind den Deformern der Graphie des Deutschen freilich fremd. Sie wandeln oder tapsen im Maximalabstand von (Sozial)empirischem vor sich hin und finden auf diesem Wege Regeln, die sie dem Rest der Schreibgemeinschaft, ihrer Tradition und Kultur aufnageln.
Die nicht erdachte, sondern gegebene Dichotomie von Physischem und Mentalem verhindert glücklicherweise bis heute, daß sprachliches Handeln auf die physische Welt irgendwelchen direkten Einfluß hat. Das Fehlen dieses Limes hätte schon am Anfang der Sprache das Ende ihrer Sprecher bedeutet.
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