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07.01.2016
Grammatische Exerzitien 13
Substantivvalenz
(Quantitative und qualitative Analyse sowie Anmerkungen)
Quantitativ
Konkreta sind entweder absolut (Baum) oder relativ (Vater, Ecke). Absolute Substantive sind nicht ergänzungsbedürftig, können aber zu anderen Gegenstandsbezeichnungen in eine unbegrenzte Zahl von attributiven Beziehungen treten; meist ergeben sich Genitivattribute der Zugehörigkeit (im weiteren Sinne). Relative Substantive haben eine Leerstelle, die fakultativ durch eine weitere Gegenstandsbezeichnung ausgefüllt wird. Meistens geht es um Teil-Ganzes (Rand, Farbe) oder um funktionale Zuordnung (Eltern, Nachbar, Hälfte, Straße).
Abstrakta sind substantivierte Prädikate. Sie „erben“ gewöhnlich die Wertigkeit des gegebenenfalls zugrunde liegenden Verbs bzw. des prädikativen Adjektivs. Es ist umstritten, ob es eine obligatorische Substantivvalenz gibt. Am ehesten scheint sie bei substantivierten Infinitiven vorzukommen: Das Meiden des Alkohols war für ihn nötig. Das Erblicken des Löschzuges löste sofort eine Reaktion aus. Das Erzielen des Vorteils war jetzt möglich. Selbst in diesen Fällen muß der sinngemäß notwendige Aktant jedoch nicht als Attribut realisiert werden, sondern kann außerhalb der Konstruktion im Kontext vorkommen oder in Wortbildungen verbaut sein („Fernobligatorium“):
Motor nach dem Anlassen etwa drei bis fünf Sekunden laufen lassen.
Beim Alkoholentzug hilft nur eins: vollständiges Meiden.
beim muttersprachlichen Erwerb
das christlich-jüdische Verhältnis
Qualitativ
Verbalabstrakta oder ihre Äquivalente erben den spezifischen Anschluß der zugrunde liegenden Verben oder prädikativen Adjektive:
Hoffnung auf ... (< hoffen auf ...)
Abhängigkeit von Schlafmitteln (< abhängig von ... < abhängen von ...)
Nicht alle Anschlüsse lassen sich so erklären, der Bezug zum Verb kann sich lockern:
Liebe zu Gott (früher: Liebe Gottes mit Genitivus objektivus), Haß auf Politiker usw.
Im Dativ und Akkusativ können Ergänzungen des Substantivs nicht vorkommen, man weicht aus:
Hilfe für ..., Treue zu ...
Manchmal werden die Substantivierungen dativregierender Verben mit Behelfskonstruktionen erweitert, oft unter dem Einfluß von Synonymen:
Beobachter sehen in der Nominierung Wagners ein weiteres Entgegenkommen des Papstes auf die ultrakonservativen Kräfte der katholischen Kirche. (SZ 2.2.09)
Der Begriff Anthropomorphismus bezeichnet das Zusprechen menschlicher Eigenschaften auf Tiere, Götter, Naturgewalten und Ähnliches (Vermenschlichung). (Wikipedia)
Funktionale Konkreta werden oft wie Abstrakta behandelt, die ihre Funktion definieren:
die Straße nach Rom (< die Reise/sich bewegen nach ...)
Die Rakete zu den Planetenräumen (< zu den Planetenräumen fliegen)
Schlüssel zum Keller (finale Beziehungen überhaupt)
Buch über Grammatik (< sprechen über ...)
Sogar: die Passagiere nach Paris
Einen Ergänzungssatz (daß-Satz) regieren Substantive, die
a) auf ein ebenso konstruiertes Verb zurückgehen:
das Eingeständnis, daß ...; die Hoffnung, daß ...
b) sinngemäß ein Verbum dicendi oder sentiendi vertreten:
die Ansicht, daß ...; die These, daß ...; die Angst, daß ...
c) einen Sachverhalt klassifizieren:
die Tatsache, daß ...; die Möglichkeit, daß ...
Anmerkungen:
1. Daß Genitivattribute unspezifisch an jedes Substantiv treten können, läßt sich nicht mit dem Argument widerlegen, daß nicht jedes Genitivattribut zu jedem Substantiv paßt. Matthias Hölzners Gegenbeispiel *die Ewigkeit/die Vielzahl/der Blitz des alten Mannes ist daher irrelevant.
2. Die Genitivattribute sind auch inhaltlich so vielfältig, daß eine semantische Klassifizierung (G. possessivus, partitivus usw.) wenig Sinn hat (so schon Sütterlin 1910:322).
3. Während bei reinen Substantivierungen die Übernahme der Verbvalenz ohne weiteres möglich ist
(die Übersetzung ins Deutsche), scheint die Ableitung manchmal unter demselben Mangel zu leiden wie die Zusammensetzung (s. „schiefes Attribut“):
?der Übersetzer ins Deutsche
Das Nomen agentis ist gewissermaßen zerlegbar in die Tätigkeitsbezeichnung und das Trägersuffix (-er), der spezifische Anschluß des Attributs wird vom verbalen ersten Teil bestimmt, während grammatisch nur die Beziehung auf das Suffix möglich ist. Ebenso der Wanderer zwischen den Welten. Während die Abhängigkeit von Schlafmitteln problemlos möglich ist, scheint eine Überschrift wie Zahl der Abhängigen von Schlafmitteln steigt (SZ 23.2.09) nicht ganz in Ordnung zu sein.
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Kommentare zu »Grammatische Exerzitien 13« |
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Kommentar von JMW, verfaßt am 03.07.2016 um 21.40 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1650#32768
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Test – ja, es geht wieder weiter!
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.07.2016 um 09.10 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1650#32769
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Vielen Dank an Herrn Wagner und die Webmeisterei!
Wenn ich nur die Zeit und Kraft hätte, alle Belege und Überlegungen, die wir hier gemeinsam zusammengetragen haben, zusammenzustellen! Mal sehen. Jedenfalls hoffe ich nun wieder auf rege Beteiligung.
Gerade sehe ich, daß eine Struktur, die angeblich nicht möglich ist (wie z. B. Rosemarie Lühr meint), doch belegt ist:
Ich hab mal eben bei dem Shop (den ich vermute, daß du meinst) geschaut ... (www.aquariumforum.de/threads/197589-garnelen-sind-alle-tot)
Manchmal wird sicherheitshalber noch ein Pronomen eingebaut:
Ich versuche, die Geschichte meiner Pubertät zu erzählen, um darin aber Fragen zu stellen, die ich glaube, dass sie für alle Menschen existenziell und relevant sind. (www.deutschlandradiokultur.de/auf-der-suche-nach-der-eigenen-sexualitaet.954.de.html?dram:article_id=147119)
Dafür gibt es keine rekonstruierbare "Normalform", es sind Konstruktionsmischungen, aber keine einmaligen Ausreißer, sondern ihrerseits regelhafte Kandidaten einer Randgrammatik.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.06.2017 um 05.17 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1650#35327
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„Monikas Buch
kann entweder in
Das Buch gehört Monika
oder in
Monika schrieb/verfaßte ein Buch
umgeformt werden.“ (Norbert Richard Wolf in Hans-Werner Eroms u.a., Hg.: Studia Linguistica et Philologica. Heidelberg 1984:414)
So will Wolf die attributive Fügung „disambiguieren“. Aber das sind keine „Umformungen“ in irgendeinem nicht-willkürlichen Sinn. Und disambiguieren muß man schon vorher, um solche Paraphrasen bilden zu können.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.08.2017 um 15.50 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1650#35888
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Die Skepsis des Präsidenten an der Strategie verzögert den Insidern zufolge bereits jetzt die von Mattis geplante Aufstockung der US-Truppen in Afghanistan. (welt.de 3.8.17)
Erster Schritt ist die Ersetzung von Zweifel durch das (prestigehaltigere) Fremdwort Skepsis. Die Konstruktion wird jedoch beibehalten, obwohl die Präposition nicht zu Skepsis paßt. Dadurch ist der Leser jedoch gezwungen, das Wort im Sinne von Zweifel zu verstehen. Geschieht dies öfter, nimmt es usuell die Bedeutung von Zweifel an.
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