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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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07.04.2012
 

Platon und die Piraten
Wie aus Feinden Freunde wurden

Platon wurde bekanntlich auf der Rückfahrt von Sizilien nach Athen von Piraten gefangen und dann auf dem Sklavenmarkt feilgeboten. Ein begüterter Freund erwarb ihn und brachte ihn in die Heimat zurück.
Man kann es als ausgleichende Gerechtigkeit betrachten, daß unsere heutigen Piraten allesamt Platoniker sind. Sie behaupten nämlich, daß Algorithmen ein Teil der Mathematik sind, und mit den meisten gegenwärtigen Mathematikern meinen sie, daß mathematische Wahrheiten entdeckt und nicht erfunden werden. Deshalb seien sie auch nicht patentierbar. Das ist reiner Platonismus.



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Kommentare zu »Platon und die Piraten«
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Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 08.04.2012 um 23.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20388

Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand auf irgendeine Wahrheit (nicht nur mathematische) ein Patent besitzt. Wie sollte das praktisch gehen? Die Patentierung eines Algorithmus schon, wenn er genügend kompliziert ist. Computerprogramme gehören ja auch dazu.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 11.04.2012 um 18.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20395

Ganz so einfach ist es nicht. Alle aus einem Axiomensystem ableitbaren Sätze sind ja implizit in ihm schon enthalten. Insofern kann nur das Axiomensystem kreativ erfunden werden, die daraus folgenden Sätze müssen dann "nur" noch ausgegraben, also entdeckt werden. Allerdings sollten die metamathematisch-philosophische Ebene und die praktische, urheberrechtlich relevante, auseinandergehalten werden. Natürlich gehören Algorithmen zur Mathematik wie Zahlen, Dreiecke oder Kreise. Wenn aber jemand mit Zahlen und mathematischen Methoden etwa die Statik einer Brücke berechnet, ist das unbestritten eine Arbeitsleistung, für die er eine Entlohnung erwarten darf. Nicht anders ist es, wenn jemand aus einfachen algorithmischen Schritten ein (nichttriviales) Programm erstellt.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 11.04.2012 um 23.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20397

Sprachen sind weder Entdeckungen noch Erfindungen, sondern Vereinbarungen. Alphabete sind Erfindungen, ebenso Zahlensysteme. Rechtschreibungen sind ebenfalls Vereinbarungen, das sollte nie vergessen werden, besonders nicht von sogenannten Sprachreformern.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 12.04.2012 um 00.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20398

Ein Axiomensystem würde ich nicht als Erfindung bezeichnen.
Wenn ich sage, in jedem Dreieck beträgt die Winkelsumme 180°, dann ist nicht das Dreieck die Erfindung und die 180° die Entdeckung, sondern beide, Bedingung und Ableitung, bilden zusammen eine mathematische Wahrheit. Genauso ist es mit Axiomensystemen. Sie werden nicht erfunden, sondern sind Teile der Wahrheiten.

Eine Berechnung ist kein Algorithmus, sondern dessen Anwendung. Es geht hier nicht um die Entlohnung der Rechenarbeit, sondern um die Entlohnung für die Erfindung des Algorithmus (dafür das Patent).
Ein Algorithmus ist meiner Ansicht nach nicht bloß eine Verkettung mehrerer Wahrheiten zu einer neuen Wahrheit, sondern darin steckt schon (trotz 1476#20385 sage ich jetzt mal) etwas Schöpferisches, das die Erfindung ausmacht.
Aber schwer finde ich es, allgemein zu sagen, ab welchem Grad von Kompliziertheit und Originalität ein Algorithmus patentierbar ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.04.2012 um 04.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20399

Sprachen sind keine Vereinbarungen. Solche kommen nur ganz selten vor (in Fachsprachen vor allem). Alphabete sind im allgemeinen auch keine Erfindungen, sondern haben sich wie Sprachen und andere Verhaltensweisen entwickelt. Im Sinne Rousseaus (Gesellschaftsvertrag) kann man solche sozialen Tatsachen natürlich "rekonstruieren", aber das sind ja nur Denkmodelle. Man darf sich vom Wort "Konvention" nicht zu der Annahme verführen lassen, hier habe jemals jemand etwas vereinbart.
Als Pythagoras entdeckte, daß in allen Dingen Zahlen stecken, formulierte er das Grundproblem. Man hat ja auch mal gesagt, das Wesen der Zahl sei eigentlich eine "Hantierung", und Kroneckers Wort über die ganzen Zahlen und den popeligen Rest ist ja auch sprichwörtlich.
 
 

Kommentar von B.Troffen, verfaßt am 12.04.2012 um 15.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20402

Hätte nicht "hantieren" zu "handieren" reformiert werden müssen?
Zumindest Sachsen und wohl auch Hessen sprechen's doch auch so aus...
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 12.04.2012 um 21.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20404

Mit mathematischen Wahrheiten ist das so eine Sache, die Winkelsumme im Dreieck ist ein gutes Beispiel. Der Satz, daß die Winkelsumme stets gleich zwei rechten Winkeln ist, ist eine logische Folgerung aus dem Euklidschen Axiomensystem (oder äquivalenten Systemen, etwa von Hilbert). Er fügt diesem Axiomensystem logisch nichts hinzu. Mit der Setzung des Axiomensystems steht die Gültigkeit des Satzes bereits fest, auch wenn wir uns seiner noch nicht bewußt sind (Wir müssen erst herausfinden, was in so einem Axiomensystem "drinsteckt"). Diese Wahrheit gilt aber nur im Rahmen dieses Axiomensystems. Es handelt sich wohlgemerkt nicht um Aussagen über die physikalische Wirklichkeit (anders als noch Kant meinte). Ausschlaggebend für die Gültigkeit dieser Wahrheit ist das berüchtigte Parallelenaxiom. Ohne dieses kann man überhaupt keine allgemeinen Aussagen über Winkelsummen machen (absolute Geometrie). Bei alternativen Axiomen beträgt die Winkelsumme im Dreieck mehr als 180° (elliptische Geometrie) oder weniger (hyperbolische Geometrie). Bolyai, Gauß und Lobatschewskij haben solche Geometrien erfunden, oder sagen wir neutral, ausgearbeitet. Bei der noch allgemeineren Riemannschen Geometrie kann die Winkelsumme sogar nahezu beliebige Werte annehmen.
Auf die Gefahr hin, zu weitschweifig zu werden, noch ein vielleicht einfacheres Beispiel aus der Arithmetik. Nehmen wir die zwei ersten Peano-Axiome (von Giuseppe Peano erfunden oder, neutral gesagt, zuerst formuliert):
A0 (Nullaxiom): Null ist eine Zahl.
An (Nachfolgeaxiom): Zu jeder Zahl gibt es eine andere Zahl, die deren Nachfolger ist.
Als logische Konsequenz daraus erhalten wir den Satz
S1: Die Zahl Null hat einen Nachfolger.
und schieben gleich als Definition hinterher:
D1: Der Nachfolger der Null heiße Eins.
Erneute Anwendung des Nachfolgeaxioms ergibt den nächsten Satz, die nächste Wahrheit
S2: Die Zahl Eins hat einen Nachfolger.
Vor zu eiligen Schnellschüssen, den Namen "Zwei" zu vergeben, formulieren wir nun aber etwas, was wir die "Zykelhypothese" nennen können:
ZH: Der Nachfolger der Eins ist die Null.
Dieser Satz ist in unserem Axiomensystem formulierbar, aber nicht entscheidbar. Es ist also ein sinnvoller Satz, der nur wohldefinierte Begrifflichkeiten verwendet, aber wir haben keine Möglichkeit, ihn zu beweisen oder zu widerlegen. Für beide Varianten gibt es Modelle, Zahlenuniversen, die widerspruchsfrei funktionieren. Wir brauchen ein weiteres Axiom:
Aa (Anfangsaxiom): Null ist nicht Nachfolger einer Zahl.
Erst dann können wir die Zykelhypothese entscheiden mit dem Satz
S2: Der Nachfolger der Eins ist von der Null verschieden.
Das eigentlich erfinderische, schöpferische, kreative (oder welche bösen Wörter wir auch immer verwenden wollen) ist also das Spiel mit den Axiomen. Die eigentlichen Sätze sind "nur" Ausbreitung des mit den Axiomen gegebenen logischen Systems. Dort gibt es nichts zu "erfinden", außer den Beweiswegen, den Beweisführungen. Es kann viele Wege geben, die zum gleichen Satz führen, welcher aber a priori feststeht, "nur" "gefunden" werden muß.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 12.04.2012 um 23.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20405

Ich vermisse den Hinweis "ebene Trigonometrie". Die gilt nur auf dem Küchentisch. Bei der Erdvermessung gilt die sphärische Trigonometrie oder Kugelgeometrie mit anderen Dreiecks-Winkelsummen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.04.2012 um 06.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20406

Interessant wird es erst, wenn man den metaphorischen Charakter solcher Aussagen erkennt: Sätze, die in anderen Sätzen "enthalten" sind usw. Was ist denn das logische Ableiten, als menschliches Verhalten betrachtet? Wieso kann man von bestimmten Sätzen zu anderen übergehen, und was heißt das eigentlich?

Mir schwebt so etwas vor: Wenn ich einen Ball werfe oder Brot schneide, mache ich mir praktisch die mechanischen Gesetze (Hebelgesetz) zunutze; das ist eine Art der Anpassung an die Umwelt. Wenn ich die Planetenbahnen berechne und zum Beispiel einen Planetenstand vorhersage (wie demnächst den Venusdurchgang), passe ich mich ebenfalls an die Umwelt an. Die sprachlichen Hantierung mit mathematischen Formeln ist nichts grundsätzlich Verschiedenes.
Sprache lernen ist wie Zielwerfen lernen, Sprechen ist wie Sägen oder Klavierspielen ... eine Geschicklichkeitsübung.
Ich bin natürlich an einer vollständigen Naturalisierung der Sprache interessiert, auch der mathematischen.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 13.04.2012 um 20.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20412

Jetzt könnten wir natürlich diskutieren, ob physikalische Gesetze (Hebelgesetz, Impulserhaltungssatz, ...) erfunden oder entdeckt werden. Entdeckt, weil es um objektive Naturvorgänge geht; erfunden, weil wir uns ein Bild der Welt konstruieren. Aber unabhängig davon haben wir noch den Unterschied zwischen Induktion und Deduktion. Was wir als Naturgesetze bezeichnen, sind ja nur Erfahrungssätze. Wir vermuten ja nur, daß der Ball, den wir werfen, sich so bewegen wird, wie er das vorher auch immer getan hat (wenn nicht der Wind wäre, der Auftrieb des Wurfgeschosses, Unregelmäßigkeiten des Schwerefeldes, pp.). Wenn wir dagegen den mathematischen Ausdruck y = c(x–a)(x–b) haben, weiß ich genau, daß er eine Parabel beschreibt, wo diese ihren Scheitelpunkt und ihre Nullpunkte hat.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 14.04.2012 um 00.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20415

Mathematische Sätze sind Folgerungen aus als gegeben vorausgesetzten Axiomen. Auch die logischen Schlußregeln ergeben sich aus logischen Axiomen. Daher werden die mathematischen Sätze häufig als "Tautologien" bezeichnet.

Etwas anderes ist, ob diese Axiome unseren Wahrnehmungen der Welt entsprechen. Das ist, wie jeder weiß, der Fall, sonst wären diese Axiome nicht so formuliert worden. Man kann sich eine Welt vorstellen, in der die euklidische Geometrie nicht gilt. Wesentlich schwieriger ist es, sich eine Welt vorzustellen, in der die Gesetze der Logik oder der natürlichen Zahlen nicht gelten. Ob es in einer solchen Welt überhaupt eine Logik und eine empirische Wissenschaft gäbe, erscheint jedenfalls zweifelhaft. Glücklicherweise ist unsere Welt von einer großen Regelmäßigkeit. Dinge verschwinden nicht einfach von selbst, wir sind nicht jeden Tag jemand anders usw.

Insofern unterscheiden sich Mathematik und Physik nicht grundlegend – beide beruhen letztlich auf Empirie. Aus den Maxwell-Gleichungen können die Gesetze der klassischen Elektrodynamik in gleicher Weise abgeleitet werden wie die Gesetze der natürlichen Zahlen aus den Peano-Axiomen.

Ich sehe keinen Grund, hier einen "Platonismus" zu erkennen.
 
 

Kommentar von rjb, verfaßt am 17.04.2012 um 07.05 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20452

"Etwas anderes ist, ob diese Axiome unseren Wahrnehmungen der Welt entsprechen. Das ist, wie jeder weiß, der Fall, sonst wären diese Axiome nicht so formuliert worden."

Welchen Wahrnehmungen entsprechen z.B. die Axiome von ZFC (siehe etwa http://de.wikipedia.org/wiki/Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre), insbesondere das Unendlichkeits- und das Auswahlaxiom?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.04.2012 um 08.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20453

Wenn jemand das Geräusch macht Alle Menschen sind sterblich und das Geräusch Sokrates ist ein Mensch, dann kann oder muß ich mich so verhalten, als habe er das Geräusch gemacht Sokrates ist sterblich.
Wenn a größer als b ist und b größer als c, ist a auch größer als c. Das wird ratifiziert, wenn ein Kind den Becher c in den Becher b steckt und diesen in den Becher a; dann stellt sich heraus, daß c auch in a steckt.

Wir brauchen eine Sprachtheorie, die die sogenannten Zeichen derart mit den davon angeblich bezeichneten Gegenständen verzahnt, daß sich aus dem Hantieren mit den Zeichen eine Einsicht in die Gegenstände gewinnen läßt. Der Naturalismus behauptet, daß das Hantieren mit Zeichen und das Hantieren mit (anderen) Gegenständen von grundsätzlich gleicher Art sind. Die sprachlichen Gebilde sind eine Art Modellwelt, und man kann von ihr auf das Modelloriginal schließen. Damit erklärt sich die Anwendbarkeit von Logik und Mathematik (zweier besonders disziplinierter Sprachen) auf die Welt.

Die Disziplinierung schließt aus, daß Unmögliches gefolgert werden kann. Ich kann kein großes Perpetuum mobile bauen, indem ich erst einmal ein kleines Modell davon konstruiere. Das Modell ist so unmöglich wie das angestrebte Original. Aristoteles hat die gültigen von den ungültigen logischen Schlußformen unterschieden. Die gültigen sind gerade darum gültig, weil sie sich auf die Wirklichkeit anwenden lassen, etwas anderes bedeutet Gültigkeit überhaupt nicht.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 17.04.2012 um 11.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20454

Sind es die sprachlichen Zeichen, die den Gegenpol zur realen Welt darstellen? Ich denke, wir bauen uns ein Abbild der realen Welt in unseren Gedanken auf, die Ideen bilden die Modellwelt, von denen auf das Original geschlossen wird. Logik und Determiniertheit sind direkte Eigenschaften der realen Welt wie auch des Denkens, darum lassen sich gedankliche Schlüsse auf die Realität übertragen.

Die Sprache, das Hantieren mit Zeichen, sehe ich eher als ein Mittel, die Gedankenwelt auszudrücken, zu kommunizieren. So würde ich sagen, Logik und Mathematik haben eine Sprache, aber sie sind keine Sprachen.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 22.04.2012 um 12.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20509

Ich frage mich, ob die Rechtschreibreform eine Chance gehabt hätte, wenn es die Piraten (in ihrer jetzigen Stärke) schon 1996 ff. gegeben hätte. Das mag ein chaotischer Haufen mit diversen Schwächen sein, aber ich traue ihrem Prinzip des "Liquid Feedback" zu, daß sich die auf Propaganda und zynischem Durchsetzungswillen aufgebaute Schwachsinnsreform in kurzer Zeit erledigt hätte. Eine Information wie beispielsweise der Protest von fast 600 Universitätsprofessoren hätte, in das System des Liquid Feedback eingespeist, jedenfalls deutlich bessere Chancen gehabt, das Bewußtsein der Öffentlichkeit zu erreichen und die Politik in gebührender Weise zu beeinflussen. Ich wünsche den Piraten viel Erfolg bei den kommenden Wahlen.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 22.04.2012 um 18.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20511

Die Piraten sind in der Tat etwas Neues – die erste sozialistische Partei, die Opium fürs Volk fordert.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 23.04.2012 um 05.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20519

Noch einmal derselbe Gedanke, ins Jahr 2012 übertragen. Nehmen wir an, der ganze Schlamassel mit der Rechtschreibreform hätte nicht vor gut 15 Jahren angefangen, sondern er würde jetzt beginnen.

Wenn sich nun die sogenannten etablierten Parteien genauso arrogant und feige verhalten würden, wie es 1996 ff. tatsächlich der Fall war, würden doch jetzt die Gegner der Reform alles tun, um ihrem Anliegen mit Hilfe der Piraten Gehör zu verschaffen. Die Piraten sind genau deshalb so stark, weil das Volk immer wieder mitbekommt, daß die Bürger von den etablierten Parteien schamlos mißachtet werden. Warten wir mal ab, ob es den Piraten gelingt, in dieser Hinsicht als Korrektiv zu wirken. Dann werden wir sie so schnell nicht wieder los, und das wäre dann auch gut so.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.04.2012 um 07.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20521

Von den Piraten weiß ich praktisch überhaupt nichts, vielleicht werde ich mich eines Tages für sie interessieren. Aber sie scheinen schon jetzt eine günstige Wirkung auf die anderen Parteien zu haben. Wenn man bedenkt, daß die FDP die Benzinpreise regulierenwill und jeden Ansatz zur Trennung von Kirche und Staat im Keim erstickt, also die zwei Alleinstellungsmerkmale des Liberalismus aufgegeben hat! In der heutigen Zeitung polemisiert ein SPD-Medienpolitiker Böhning gegen die Piraten, und ein kurzer Blick auf den Text, dem man schon aus der Ferne seine Langweiligkeit ansieht, verdirbt mir die Lust aufs Lesen: "Deshalb kämpfe ich für einen Sozialstaat, der die Bürgerinnen und Bürger ermächtigt, teilzuhaben." Usw. - Der Mann sieht auf dem Foto noch jung aus, aber der Text zeigt, daß er längst das Sprechblasenstadium altgedienter Funktionäre erreicht hat. Lassen wir ihn in Ruhe "kämpfen"!
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 23.04.2012 um 11.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20525

Auch Wissenschaftler werden großes Interesse für die Piraten entwickeln, wenn diese die Chance bekommen sollten, ihre Urheberrechtsvorstellungen durchzusetzen. Ihre Partei ist immerhin die erste seit der NSDAP, die das Volksempfinden über Menschenrechte stellt.
 
 

Kommentar von Pt, verfaßt am 23.04.2012 um 13.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20527

#20525, Erich Virch:

''Ihre Partei ist immerhin die erste seit der NSDAP, die das Volksempfinden über Menschenrechte stellt.''

Gab es denn damals die Menschenrechte schon? Hat die NSDAP auf das Volksempfinden gehört? Sollte es nicht eher so sein, daß sich aus dem Volksempfinden die Gesetze entwickeln, anderenfalls hätten wir eine Willkürherrschaft der ''Gutmenschen''.

Auch die sog. Menschenrechte sind nicht ganz unproblematisch: Es werden Rechte definiert, deren Einforderung oftmals nicht möglich oder unrealistisch ist, weil viel zu teuer oder politisch, ideologisch oder religiös nicht gewünscht, und die letztlich doch wieder verwässert werden.
Ob die Menschenrechte auch inhaltlich akzeptabel sind, steht nochmal auf einem anderen Blatt. Hat es eine weltweite Volksabstimmung über die Annahme der Menschenrechte gegeben?

#20509, Wolfgang Wrase:

''Eine Information wie beispielsweise der Protest von fast 600 Universitätsprofessoren hätte, in das System des Liquid Feedback eingespeist, jedenfalls deutlich bessere Chancen gehabt, das Bewußtsein der Öffentlichkeit zu erreichen und die Politik in gebührender Weise zu beeinflussen.''

Vielleicht sollte der Protest gegen die RSR ja gar keinen Erfolg haben, egal wer ihn vorbringt und mit welchem Argumenten er untermauert wird.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 23.04.2012 um 14.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20531

Sie erwarten von mir jetzt nicht einen Überblick über die Entwicklung des Menschenrechtsgedankens, PT, oder? Bemerkenswert ist, daß die Piratenpartei die massenhaften illegalen Übergriffe auf geistiges Eigentum anderer mit dem Argument rechtfertigt, sie seien „sozial akzeptiert“. Die tatsächliche Beschaffenheit des Volksempfindens dürfte im übrigen den Piraten heute ebenso schnurz sein wie seinerzeit der NSDAP.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 23.04.2012 um 14.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20532

Es ist richtig, daß Universitätsprofessoren sonst nicht dazu neigen, sich mit politischen Positionen zu exponieren, insbesondere wenn ein solches Engamenent bedeutet, den eigenen Arbeitgeber (das Kultusministerium) zu beschämen. Um so mehr muß man aber aus dieser ungewöhnlichen Resolution schließen, daß die Herrschaften wirklich ihre Meinung bekanntgeben wollten, die Rechtschreibreform dürfe keinesfalls an den Schulen eingeführt werden.

Dasselbe gilt für die kühle Feststellung am Anfang des Textes, daß das Reformwerk nicht dem Stand der Forschung entspreche. Damit wurden die Urheber – immerhin Fachkollegen – als Deppen hingestellt, die sich in der eigenen Wissenschaft nicht auskennen. Ein solch schroffes Urteil entspricht nicht den akademischen Umgangsformen und verdeutlicht nochmals, daß es den Unterzeichnern ernst gewesen sein muß.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.04.2012 um 07.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20542

Wie gesagt, ich möchte keineswegs für die Piraten werben, aber das aufgeregte Gezappel anderer Parteien macht mir doch ziemlich viel Spaß. Noch etwas zur Politischen Korrektheit: Ein führender Pirat hat gesagt: „Der Aufstieg der Piratenpartei verläuft so rasant wie der der NSDAP zwischen 1928 und 1933.“ Dafür mußte er zurücktreten usw.,und die Empörung war groß. Damit sind wir wieder beim alten Thema des Vergleichens. Nun, ich nehme an, daß hier ziemlich unerfahrene junge Leute munter drauflosreden, und glaube nicht, daß der betreffende Herr sagen wollte: "Wir sind die neuen Nazis, unser Vorbild ist die NSDAP." Wahrscheinlich wollte er bloß auf die Möglichkeit eines raschen Aufstiegs aus dem Nichts hinweisen oder so ähnlich. Und wörtlich mag er ja recht haben. Nur daß eben keiner genau wissen will, wo der Vergleichspunkt liegt, sondern das bloße Erwähnen der Nazis schon die bekannten Reflexe auslöst. Ich kenne Abhandlungen über "Charisma", in denen Martin Luther King, Elvis Presley und Hitler unter demselben Gesichtspunkt besprochen werden. Warum nicht? Die Tübinger Rhetoriker um Jens haben gute und schlechte Redner nach ihrem moralischen Charakter und nicht nach dem Erfolg ihrer Redekunst unterschieden, so daß, wie schon anderswo erwähnt, Hitler und Goebbels als Redner überhaupt nicht mehr in Betracht kamen, sie seien gar keine wirklichen Redner gewesen! Nach der klassischen Rhetorik waren sie die allerbesten, wenn sie auch nicht durchweg die Mittel der Schulrhetorik verwendeten, in die die Tübinger verliebt sind.

Wir kennen die Bilder vom Obersalzberg: Frauen, die sich die Hände nicht mehr waschen wollten, die der Führer berührt hatte. Das war bei Elvis nicht anders. Was folgt daraus?
Wenn die Piraten Rechtsradikale anlocken (was ja auch der Rechtschreibreformkritik passiert ist), werden sie das bereinigen müssen, aber der Vergleich des überraschenden Aufstiegs hier wie dort ist nichts, worüber sich ein vernünftiger Mensch aufregen müßte. Die Piraten müssen eben erst noch lernen, mit der Sprache so übervorsichtig umzugehen, wie es in unserem politischen Milieu ungeschriebenes Gesetz ist.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 24.04.2012 um 15.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20546

"Wir kennen die Bilder vom Obersalzberg: Frauen, die sich die Hände nicht mehr waschen wollten, die der Führer berührt hatte. Das war bei Elvis nicht anders."

Ich wüßte nicht, wo Elvis große Reden gehalten hätte, aber ansonsten stimmts: Fans sind hysterisch. Übrigens ähneln sich auch die Shows: der Lichterdom, das einsame Mikrophon, die pathetischen Posen, die exaltierte Schmirgelstimme und das einstimmige Gebrüll der Massen aus dem Saal – all das wird auch heute zelebriert, selbst von unverdächtigen Sängern wie Herbert Grönemeyer.

Über die Piraten sagt das freilich nichts. Auch, daß in ihrem via Internet zusammengewürfeltem Haufen hier und da Nazis auftauchen, weist die Partei noch längst nicht als rechtsextrem aus. Ihr Gundsatzprogramm gibt schon eher zu denken, und eins ist sicher: im Phrasendreschen stehen sie den gewohnten Schwaflern in nichts nach:

Die derzeitigen gesetzlichen Rahmenbedingungen im Bereich des Urheberrechts beschränken jedoch das Potential der aktuellen Entwicklung, da sie auf einem veralteten Verständnis von so genanntem "geistigem Eigentum" basieren, welches der angestrebten Wissens- oder Informationsgesellschaft entgegen steht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.04.2012 um 17.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#20547

Es ging um "Charisma".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.11.2013 um 15.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#24332

Zu Platons "Parmenides" vermeldet Wikipedia:

"Als literarische Figuren treten darin neben Sokrates und dem Oligarchen Aristoteles zwei Philosophen der Eleatischen Schule auf: Parmenides und Zenon von Elea."

Nun, der Aristoteles dieses Dialogs (nicht mit dem Philosophen identisch) war damals ein junger Spund und noch fast 40 Jahre von der Oligarchenherrschaft entfernt. Das müßte man anders ausdrücken.

Friedrich Paulsen hat den "Parmenides" auch gelesen und findet ihn mit Recht "ungenießbar".

(Ich habe den Text durch eine Konjektur bereichert, meine einzige Großtat als Altphilologe ...)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.07.2017 um 10.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#35710

Platon: Werke. Übersetzung und Kommentar. Bd. I 1: Euthyphron. (Maximilian Forschner)
(in fehlerhafter Reformschreibung: das beste, der Leser erfährt Manches)
Druckfehler: ein Sicherverstehen, ein Sicherstehen (beides S. 28) statt Sichverstehen; Ungereim-theiten

Stilfrage: Sollte man in der Übersetzung solcher Texte Wörter wie banal, kompetent, dilettieren verwenden? Kann man eine moderne Sprache für unmoderne Themen finden? „Götter“, „Zeus“ sind für uns fossile Fundstücke ohne Funktion im heutigen Leben; daran ändert keine Übersetzung etwas.

Theologisch und moralisch deutet sich an, daß die Götter nur das Gute wollen können, das also anderweitig definiert sein muß, nicht als das, was die Götter wollen. Im Grunde also wie Kants Religionskritik. (Wozu braucht man dann überhaupt noch Götter?) Platon demonstriert dies an einem intellektuellen Leichtgewicht wie Euthyphron. Die dialektische Übung tritt stark in den Vordergrund, wie in den meisten anderen Frühdialogen. Daß ernsthafte Fragen, an denen Platon inhaltlich gelegen war, in dieser teilweise geradezu frivolen Form abgehandelt sein sollten, leuchtet kaum ein.
Ich neige daher zu R. E. Allens Ansicht, daß der Euthyphron wie die anderen aporetischen Frühdialoge hauptsächlich eine dialektische Übung ist und nicht wirklich der Erforschung der „Frömmigkeit“ oder besser „Pietät“ dient, die innerhalb der Schule bereits anderweitig diskutiert worden sein dürfte. Dafür spricht auch der formelhafte und oberflächliche Schluß (Euthyphron hat keine Zeit mehr und macht sich davon).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.12.2017 um 05.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#37222

"Er (der Geist der Dialektik) verwandelt die Logik in ein Gespräch. Daher hat Plato die Logik dialektisiert, in ein Gespräch verwandelt." (Rudolf Steiner)

Umgekehrt. Aristoteles hat die Logik entdialogisiert. Er hat aus der Übung der Akademie ein Lehrbuch destilliert.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.02.2018 um 18.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#37702

Ich wage mal eine ganz laeinhafte Bemerkung.
Hilbert hat bekanntlich die Axiomatisierung völlig frei von empirischem Gehalt halten wollen:

In seinem fundamentalen, 1899 zur Feier der Enthüllung des Gauß-Weber-Denkmals in Göttingen veröffentlichten Werk Grundlagen der Geometrie entwarf er für die euklidische Geometrie ein vollständiges Axiomensystem und entwickelte darauf aufbauend eine streng axiomatisch begründete Geometrie. Die von Hilbert verwendeten Begriffe „Punkt“, „Gerade“, „Ebene“ etc. haben keinen Bezug zur Anschauung mehr, wie es noch Euklid versucht hatte (z. B. „Ein Punkt ist, was keine Teile hat.“), sondern sind rein axiomatisch definiert. Hilbert wird der Ausspruch zugeschrieben, man könne statt „Punkte, Geraden und Ebenen“ jederzeit auch „Tische, Stühle und Bierseidel“ sagen; es komme nur darauf an, dass die Axiome erfüllt sind. (Wikipedia Hilbert)

Aber Hilberts Tätigkeit selbst fand in dieser Welt statt, wie sie nun einmal ist. Wäre sie unvorstellbar anders, hätte er vielleicht keinen Schritt weit gehen und auch seine Theorie nicht entwickeln können. So kommt ein empirischer Gehalt hinein, gewissermaßen "transzendental" ("die Bedingung der Möglichkeit betreffend"). Axiomensysteme handeln indirekt doch von der Welt, indem sie in ihr aufgestellt werden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.06.2018 um 08.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#38918

Zum letzten Eintrag (Intuitionismus vs. Formalismus) vgl. jetzt https://kw.uni-paderborn.de/fileadmin/fakultaet/.../Peckhaus/.../becker_hilbert.pdf (von einem früheren Erlanger Kollegen).

Zu meinem Gedanken einer "transzendentallogischen" Begründung, der mir vor 50 Jahren gekommen war, als ich H. A. Schmidt über formale Logik hörte, habe ich bisher nichts gefunden, allerdings auch nicht systematisch gesucht. Es gibt auch eine sprachliche Version: Man kann nichts sagen, was die Bedingung der Möglichkeit des Sprechens aufheben würde.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.01.2019 um 17.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#40471

Norbert Bischof kritisiert, daß in den heutigen standardisierten Aufsätzen bzw. Kongreßbeiträgen verlangt wird, die Hypothese zu formulieren, die mit dem zu referierenden Experiment geprüft werden soll: „Beginnt kreative Forschung aber wirklich mit einer Hypothese?“ Usw. (Norbert Bischof: Psychologie – Ein Grundkurs für Anspruchsvolle. Stuttgart 2008:28)

Das ist ein Mißverständnis. Von Aufsätzen wird nicht erwartet, daß sie die Forschungsgeschichte nacherzählen oder gar ein Stück Forscherautobiographie bieten. Das wäre manchmal didaktisch geschickt, aber es ist nicht die westliche und doch wohl erfolgreiche Art der Darstellung von Forschungsergebnissen.
Die abendländische Wissenschaft ist immer auf Beweise aus, rechnet folglich, wenn auch nur formal, mit einem Gegner. Sie ist inhärent dialogisch, nicht erzählend. (Ich habe das in meinem Buch „Disziplinierung der Sprache“ ausgeführt.) Euklid ist das Muster, das aber auf ältere Wegbereiter wie Platon zurückgeht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.01.2019 um 17.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#40534

Die Logiker sagen, ein logisch wahrer Satz sei im Unterschied zu einem empirisch wahren „in allen möglichen Welten“ wahr. Ich bin kein Logiker und will nicht dreinreden, aber wahrscheinlich bedeuten weder „Welt“ noch „möglich“ hier dasselbe wie in der Allgemeinsprache, sondern werden axiomatisch eingeführt und könnten auch durch willkürliche Symbole ersetzt werden. Vielleicht aber auch nicht, denn irgendeinen Unterschied zu „empirisch“ muß es doch geben.
Wie dem auch sei – ich überlege, wie eine mögliche Welt beschaffen sein muß, damit darin ein Satz wahr oder falsch sein kein. Es muß eine Welt sein, in der es überhaupt Sätze, also Sprache geben kann. Es muß Sprecher geben, die eine Sprache entwickelt haben. Warum sollten sie das? Sie müssen Bedürfnisse haben, die durch Kommunikation befriedigt werden. Nur sterbliche Lebewesen haben Bedürfnisse, denn Bedürfnisse treten nur auf, wo der Tod hinausgeschoben werden soll. Aber sterben müssen sie, sonst hätten sie keine Evolution durchmachen können. Und auch reproduzieren müssen sie sich und dabei Mutationen an die nächste Generation weitergeben. Und es muß möglich sein, Zeichen hervorzubringen und zu wiederholen, sonst gäbe es keine Sprache und kein Lernen. So könnte man immer weiter spekulieren, aber es ist schon klar, was es mit der möglichen Welt auf sich hat: Es ist genau unsere Welt, die wirkliche und einzig mögliche.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 10.01.2019 um 22.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#40536

Daß ein logisch wahrer Satz „in allen möglichen Welten“ wahr ist, halte ich nicht für eine sinnvolle neue Erkenntnis, sondern eher für eine Tautologie.

Ob ein Satz logisch "wahr" ist, hängt ja in keiner Weise von den objektiven Gegebenheiten der "Welt" ab, in der er gesagt wird.

Logiker definieren nach ihrem Gutdünken alle Begriffe, mit denen sie arbeiten ("wahr", "falsch"[, ...]; "und", "oder", Negation", ...), (Daß es in Wirklichkeit nicht nur nach ihrem Geschmack geht, sondern alle definierten Begriffe eine sinnvolle praktische Anwendungsmöglichkeit haben sollten, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.) Logiker einer zweiten Welt könnten sich natürlich nur dann zu Sätzen der ersten Welt äußern, wenn sie dabei die Begrifflichkeiten der ersten Welt beachteten, sonst ergäbe es keinen Sinn, sie sprächen schlichtweg von etwas anderem. Letztlich liefe ein Widerspruch der zweiten zur Logik der ersten Welt darauf hinaus, daß eine der beiden Logiken widersprüchlich wäre, also den Namen Logik nicht verdiente.

Was die verschiedenen "Welten" betrifft: Man kann auch als Angehöriger dieser Welt zumindest gedanklich beliebige Welten, also mit beliebigen Logiken, konstruieren. Für manche gibt es sinnvolle Anwendungen (z. B. in der Quantenphysik).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.09.2019 um 11.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#42185

Zu Ihrem letzten Satz:

Kann man in dieser Welt "gedanklich" (was immer das heißt) eine Welt konstruieren, in der man keine Welten konstruieren kann, weil z. B. ein Zeichen seine Bedeutung nicht behält, wenn es wiederholt wird? Dann wäre "A = A" unmöglich, und das soll eine mögliche Welt sein? Oder es gäbe keine synonymen Ausdrücke, so daß Gleichungen nicht möglich wären (wenn man einfachheitshalber annimmt, daß auf beiden Seiten der Gleichung gleichbedeutende, also austauschbare Ausdrücke stehen). Usw.
Kann man das auch nur "gedanklich" konstruieren?

„There certainly is a possible world in which Cicero did not denounce Catiline.“ (Pierre Jacob) – Was soll das heißen? Nur wenn man nicht genug von der wirklichen Welt weiß, kann man es für möglich halten. Denkt man genauer nach und erfährt man mehr von den Voraussetzungen, dann gerät man auf buchstäblich unendlich vieles, was anders hätte sein müssen. Dann hätte es aber auch Cicero und Catilina höchstwahrscheinlich nicht gegeben. Was soll der Unsinn?

Durch solche Überlegungen ist man darauf gekommen, daß alles Mögliche auch wirklich und alles Wirkliche auch notwendig ist – was nur heißt, daß man diese Ausdrücke der Modalität in ihren menschlich-alltäglichen Bereich zurückschieben sollte, in dem sie einen wohlvertrauten Sinn haben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.02.2020 um 06.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#42855

Ich habe jahrelang über "Charisma" nachgedacht, wie man an meinen tiefsinnigen Bemerkungen in diesem Strang sehen kann. Heute neige ich zu der Definition: Charisma ist, wenn man sich alles erlauben kann.

Mitzuverstehen ist: ohne daß es die Begeisterung der Verehrer mindert. Ein Tyrann kann sich auch viel erlauben, aber es wird mißbilligt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.03.2020 um 05.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#43229

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#40534

Ein Beispiel findet man in Ernst Tugendhat/Ursula Wolf: Logisch-semantische Propädeutik. Stuttgart 1983.

Wenn ich den Stein loslasse, muß er fallen. Hier verweise das müssen auf eine Naturgesetzlichkeit; es sei denkbar, daß der Stein nicht fällt. Dagegen sei die logische Notwendigkeit etwas Stärkeres:

"Hier meinen wir, daß es undenkbar ist, daß – wie auch immer die Welt konstituiert ist – der entsprechende Satz nicht wahr ist."

Ich halte das für Unsinn. Daß der Stein nicht fällt, daß es also keine Schwerkraft gibt, ist NICHT denkbar. In einer Welt ohne Schwerkraft gibt es wahrscheinlich keinen Menschen, der Steine loslassen oder sich etwas denken kann.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.03.2020 um 05.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#43230

Die Logik soll von Begriffen, Aussagen und Schlüssen handeln. Das sieht verdächtig aus wie Wörter, Sätze und Texte. Und daher stammt es auch. "Text" bedeutet hier den Übergang von einer Aussage zur nächsten, mit Rücksicht auf die Kohärenz. Es geht durchweg um bewährte sprachliche Verhaltensweisen, und man grenzt sich gegen weniger bewährte ab. Damit kämpfte Platon, und damit beschäftigt sich Aristoteles mit seinem weitläufigen Organon.

Daß die Logik vom "Denken" handele, war eine folgenreiche Verirrung, wie überhaupt die Rede vom "Denken".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.04.2021 um 06.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#45745

„Es ist möglich, daß p“ ist nicht dasselbe wie „Es gibt eine mögliche Welt, in der p“. Die Existenzaussage in der zweiten Fassung ist erschlichen.
Hier sind möglich und Welt offenbar nicht im alltagssprachlichen Sinn gemeint. Welt in diesem Sinn ist ein Aussagensystem, kein reales Bestandssystem. Wenn die Logiker glauben, von möglichen Welten sprechen zu müssen, ist ihnen das unbenommen; man sollte nur die Äquivokation nicht durchgehen lassen.
"5 ist größer als 4" impliziert nicht "Es gibt eine Zahl, die größer ist als 4" – außer im mathematischen Sinn von es gibt oder existieren, der nicht der allgemeinsprachliche ist (vgl. im Jargon: „Sei x eine Zahl > 4“ – schon „gibt es“ sie.) Auch wenn die Zahlen im allgemeinsprachlichen Sinn nicht existieren, ist 5 größer als 4. Die Frage der Existenz (in Raum und Zeit) stellt sich nicht, und es fügt nichts hinzu, wenn man außer den Größenverhältnissen noch Existenz aussagt. „Existenz ist keine Gattung“ (Aristoteles). Und an Kant angelehnt: Ich kann sagen, welcher von zwei Haufen Geld mehr wert ist, auch wenn niemand das Geld hat.
Die Philosophie der Mathematik ändert nichts an der Mathematik selbst. Die Religion der Physiker ändert nichts an der Physik. Darum können die Mathematiker und Physiker der ganzen Welt zusammenarbeiten und in denselben Zeitschriften veröffentlichen; die Techniker bauen Module für die ISS usw.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 24.04.2021 um 12.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#45749

"Es ist möglich, daß p“ ist dasselbe wie "p ist möglich".

„Es gibt eine mögliche Welt, in der p“ enthält eine Redundanz. Wenn es diese Welt gibt, dann ist sie selbstverständlich möglich. Das Wort "möglich" ist hier überflüssig, also ohne Sinnänderung weglaßbar.

So bleiben also die beiden Aussagen "p ist möglich" und "Es gibt eine Welt, in der p".
Hier ist aber m. E. der zweite Satz gerade die Definition des ersten, d.h. beide sind doch dasselbe.

Wenn ein Mathematiker sagt, "Sei x eine Zahl > 4", dann "gibt es" diese Zahl noch lange nicht. Entweder hat er die Existenz solcher Zahlen schon vorher bewiesen und geht nun von dem bekannten Fakt aus, oder er trifft damit die Annahme(!), daß es diese Zahl gibt, und versucht, durch logische Schlüsse einen Widerspruch zu erzeugen, womit er dann gerade die Nichtexistenz einer Zahl x > 4 bewiesen hat.

In der Mathematik bedeutet "Existenz" nur logische Widerspruchsfreiheit.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 24.04.2021 um 23.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#45752

Ich denke, in meiner modallogischen Argumentation steckt ein Fehler:
"p ist möglich" wird nicht definiert durch "Es gibt eine Welt, in der p", sondern durch "Eine Welt, in der p, ist möglich".

Es muß also nicht unbedingt eine "Welt, in der p" geben, trotzdem könnte eine solche Welt und damit auch p "möglich" sein. So sehe ich nun auch den Unterschied zwischen den ursprünglichen Sätzen. Es ist der gleiche wie der zwischen diesen beiden:

"Es gibt eine [mögliche] Welt, in der p"
und
"Eine Welt, in der p, ist möglich" = "p ist möglich".

Eine Existenz ("es gibt") ist nicht zwingend für eine Möglichkeit, und die Existenz möglicher Welten ließe sich ja auch kaum jemals nachprüfen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.04.2021 um 05.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#45753

In unserer Alltagswelt und auch in den empirischen Wissenschaften bedeutet "Existenz" eben nicht "logische Widerspruchsfreiheit", und daran wollte ich bloß erinnern. Es wäre nicht wichtig, wenn nicht so viel Philosophie auf die Äquivokation aufgebaut worden wäre.

Ein Insekt mit acht Beinen ist logisch widerspruchsfrei, es gibt aber keins.

Ein Elefant mit 20 m Schulterhöhe ist logisch widerspruchsfrei, es gibt aber keinen und kann auch keinen geben.

Allgemeiner: Modallogik hat mit der Modalität unserer Modalverben und der Intentionalitätsdebatte nichts zu tun.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 25.04.2021 um 13.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#45759

Gehen wir doch in die Alltagswelt und fragen beliebige Passanten auf der Straße, ob es eine Zahl gibt, die größer als 5 ist. Jeder wird ja sagen.
Fragen wir dieselben, ob es Elefanten mit 20m Schulterhöhe gibt, so ist die Antwort immer nein.

Im ersten Fall hat der Mann auf der Straße ganz selbstverständlich den mathematischen Existenzbegriff übernommen (sonst hätte er nein sagen müssen), um dann bei der nächsten Frage wie automatisch auf die physische Existenz umzuschalten.

Die Äquivokation betrifft also bereits die Umgangssprache, nicht nur Fachsprachen von Logikern, Physikern und Philosophen. Und sie betrifft m. E. in diesem Zusammenhang vor allem den Ausdruck der "Existenz" bzw. das synonym gebrauchte "es gibt".

"Ein Elefant mit 20 m Schulterhöhe ist logisch widerspruchsfrei, es gibt aber keinen und kann auch keinen geben."
Was heißt, "es gibt" keinen?
Sie vermischen hier die beiden Sichtweisen. Ein reales Tier mit diesen Eigenschaften "gibt es" nicht, ebenso wie es die Zahl 5 als reales Objekt nicht "gibt", aber wenn Sie gleichzeitig von logischer Widerspruchsfreiheit sprechen, dann "gibt es" einen Elefanten mit 20 m Schulterhöhe sehr wohl, ebenso wie es die Zahl 5 im mathematisch-logischen Sinne selbstverständlich "gibt"!

Ihre beiden Ausgangssätze lassen sich ja wohl nur auf der Ebene der Modallogik behandeln und erklären. Die Begriffe "möglich" und "Welt" sind darin eigentlich klar, stimmen m. E. sogar mit dem umgangssprachlichen Verständnis weitgehend überein, aber auch hier kommt wieder die doppeldeutige Existenzfrage ins Spiel. Wahrscheinlich meinen Sie mit "erschlichen" dasselbe. Ich bin auch zunächst darauf hereingefallen, daß "Es gibt eine mögliche Welt, in der p" im physischen Sinn gemeint sei. Aber nun glaube ich eher, daß dieses "es gibt" nur im logischen Sinn gemeint ist, man sollte es also besser weglassen und nur von der "möglichen Welt, in der p" sprechen, bzw. sagen, "eine Welt, in der p, ist möglich". So gesehen wären die beiden Ausgangssätze dann doch wieder identisch.

Um meinen Punkt, um den es mir hauptsächlich geht, zusammenzufassen:
Ich glaube, daß die hier genannten Probleme und Irritationen weniger mit Differenzen von Umgangssprache zu Fachsprachen zu tun haben, sondern daß hier einzig und allein die beiden Sprechweisen gemeinsame Doppeldeutigkeit des Existenzbegriffs (sowohl umgangssprachlich wie auch sehr oft fachsprachlich) zu Mißverständnissen führt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.05.2021 um 08.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#45885

Einerseits bemühen wir uns, die Weltmeere von Piraten zu befreien, wenn auch nicht so erfolgreich wie Caesar, der sie alle hinrichten ließ. Andererseits erlauben wir unseren Kindern, die Seeräuberei durch das machohafte Lied zu verherrlichen:

Alle die mit uns auf Kaperfahrt fahren,
das müssen Männer mit Bärten sein
usw.

– eine klare Anstiftung zu einer Straftat, außerdem sexistisch, denn Frauen werden ausgeschlossen.

Es soll zwar scherzhaft gemeint sein (Ernst Kausen), aber wer versteht heute solche Späße?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.10.2021 um 06.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#47452

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#45759

Wenn der Mann auf der Straße bestätigt, daß es eine Zahl gibt, die größer ist als 5, dann hat er weder den mathematischen Existenzbegriff übernommen, noch übernimmt der Mathematiker den alltagssprachlichen von "es gibt". Vielmehr handelt es sich um ein frei gewähltes Beispiel, an dem sich der Unterschied nicht zeigen läßt, so daß Alltagsmensch und Mathematik einen Augenblick den Eindruck haben könnten, sie meinten das gleiche.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.10.2021 um 06.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#47453

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510
http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1240#44252

„Mathematics (from Greek: μάθημα, máthēma, ´knowledge, study, learning´) includes the study of such topics as quantity (number theory), structure (algebra), space (geometry), and change (analysis). It has no generally accepted definition.“ (Wikipedia)

„Für Mathematik gibt es keine allgemein anerkannte Definition.“ (Wikipedia)

Das ist schade. Ich nehme an, daß Mathematik auf jeden Fall mit der Manipulation von „Symbolen“ zu tun hat, die tatsächlich überall erwähnt werden. Damit wäre sie eine besondere Sprachtätigkeit, wie auch Skinner annimmt. Eine Linguistik der Mathematik läge nahe. Aber wenn es keine allgemein akzeptierte Definition gibt, kann auch das angefochten werden.

Ich sinne immer noch über die (im Kantschen Sinn) „transzendentale“ Frage nach: Wie ist Mathematik möglich? Damit meine ich aber nicht die klassische Frage nach dem Grund der Anwendbarkeit der Mathematik auf die Welt, sondern eben: Wie muß eine Welt beschaffen sein, in der Mathematik möglich ist – ob anwendbar oder nicht? Die Voraussetzungen, die Mathematik HAT, können nicht durch Vorausetzungen bestritten werden, die Mathematik MACHT. Also nicht so: Gegeben sei eine Welt, in der Mathematik nicht möglich ist... (z. B. weil Symbole nicht in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet werden oder nicht wiederholt auftreten können). Weitere Spekulationen hier: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#40534 ff.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 29.10.2021 um 12.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#47455

Mathematik ist meiner Meinung nach letztlich das gleiche wie Logik, oder eine Weiterentwicklung der Logik. Die gesamte Mathematik besteht darin, Begriffe zu definieren und miteinander in logische Beziehungen zu setzen. Der Mathematiker sagt, "es gibt ein" oder "es existiert ein", wenn er meint, daß ein Begriff logisch widerspruchsfrei zu anderen Begriffen paßt.
Mathematik arbeitet wohl mit Symbolen, aber diese sind austauschbar, nicht wesentlich, dienen nur der Aufzeichnung und Zusammenfassung (Verkürzung, vereinfachte Darstellung) komplexerer Aussagen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 29.10.2021 um 12.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#47456

zu 1510#45759:

Wir philosophieren ja nicht jeden Augenblick im Alltag. Der Mann auf der Straße ist sich natürlich nicht bewußt, welchen Existenzbegriff er gerade verwendet oder daß es überhaupt verschiedene gibt. Trotzdem glaube ich, wird er durchaus, spätestens auf Nachfrage, einen gewissen Unterschied darin erkennen, ob es den Berliner Dom gibt oder ob es die Zahl 5 gibt. Die meisten Passanten werden aber diesen Unterschied nicht gut erklären können. Ein Philosoph, der über diesen Unterschied nachdenkt, wird aber m. E. sehr wohl sagen können, daß der Mann auf der Straße intuitiv, ohne es selbst zu bemerken, weil es ihm unwichtig ist, zwischen mathematischem und physikalischem Existenzbegriff wechselt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.11.2021 um 07.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#47735

Ist Mathematik sprachlich? Welche Rolle spielt die gelernte Zahlenreihe?

Jemand sammelt die Eier ein, die seine Hühner gelegt haben, und legt sie in einen Korb. Er kann nicht zählen, muß es aber auch gar nicht. Der Korb steht auf einer Waage, die sich senkt, wenn 10 Eier zusammengekommen sind. So verfahren viele Organismen, die mit Schwellenwerten arbeiten: Botenstoffe oder elektrische Ladungen sammeln sich an, und bei einer bestimmten Konzentration passiert etwas. Wir deuten den Output manchmal als Zählen, aber der Organismus hat nicht gezählt.

(Das ist ein weiteres Beispiel zum Planimeter-Trugschluß und Homunkulus-Denken. Weiteres unter "Needlearbeit".)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.11.2023 um 05.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#52144

Bei "Piraten" denken wir heute ans Horn von Afrika, aber die Evakuierung von Grindavík wegen eines bevorstehenden Vulkanausbruchs bringt eine Weltgegend in Erinnerung, die vor nicht allzu langer Zeit von maghrebinischen Piraten heimgesucht wurde "Türkenüberfall"). Davon wußte ich gar nichts, nur umgekehrt von den Raubzügen der Wikinger an den Küsten Europas entlang.
Insgesamt hat die Rechtssicherheit wohl doch zugenommen. Das lehrt auch die Lokalgeschichte beliebiger Orte. Als Gegenargument (auch gegen Pinker usw.) werden die Vernichtungsorgien der modernen Kriege angeführt, aber das muß man wohl auseinanderhalten.
Wir besichtigen die gewaltigen Festungsmauern einstiger Kleinstädte (z. B. die eindrucksvollen Reste hier im benachbarten Forchheim), ohne uns klarzumachen, was das einmal bedeutete: den verzweifelten Versuch, in Frieden zu leben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.05.2024 um 08.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#53204

Platon widmet nicht nur die „Politeia“, sondern auch die „Nomoi“, also insgesamt fast die Hälfte seines Werks der Ausarbeitung von Staatsutopien. Genretypisch geht er sehr ins Detail. Medizinhistoriker haben z. B. seine eugenischen Pläne herausgegriffen und genauer untersucht. Die Verurteilung inhumaner Ideen bleibt uns im Hals stecken, wenn wir uns daran erinnern, was bis ins 20. Jahrhundert in den fortgeschrittensten Staaten praktiziert wurde. Knappe Übersicht bei David J. Galton: „Greek theories on eugenics“. Journal of medical ethics 24/1998:263-267. (Der Verfasser arbeitet am Galton-Institut, aber die Namensgleichheit mit dem Gründungsvater Galton ist zufällig.)
Etwas überraschend: In der gesamten Antike scheint man keine Einsicht in den Zusammenhang von Inzest und Erbschäden gehabt zu haben, daher keine grundsätzlichen Bedenken gegen die Geschwisterehe. Andererseits (dort nicht behandelt) gab es überall Bräuche, die auf Exogamie als Normalfall angelegt waren. Meist wird das auf die Praxis zurückgeführt, die Frauen als Handelsware zu betrachten, deren Wert sich natürlich nur beim Brautkauf durch Fremde realisieren läßt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.10.2024 um 08.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#54092

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#43229

Man sagt gelegentlich, wenn ein Mensch proportional die Sprungkraft eines Flohs hätte, müßte er 300 m weit springen können. „Rein logisch“ scheint das untadelig zu sein. Daß auch dieses Gedankenexperiment unzulässig ist, weiß der Physiker. Nur wenn man wesentliche Beschränkungen nicht berücksichtigt, kann man solche falschen Vorstellungen für logisch möglich halten. Die Illusion, man könne aus der Natur eine der Grundkräfte streichen und alles übrige so lassen, wie es ist, beruht nur auf mangelhafter Übersicht. Wäre sie nicht mangelhaft, würden wir ohne weiteres einsehen, daß ein Perpetuum mobile nicht nur „logisch denkbar, aber empirisch unmöglich“, sondern tatsächlich undenkbar ist. Ein weiteres Beispiel ist die Geschwindigkeit von Körpern, die sich relativ zueinander bewegen. „Rein logisch“ scheint es nicht nur möglich, sondern sogar notwendig zu sein, daß sich ihre Geschwindigkeiten addieren bzw. subtrahieren. Daß dies nicht Fall ist, will dem „Verstand“ nicht einleuchten, ist aber trotzdem die Wahrheit, die Einstein in eine berechenbare Form gebracht hat.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 19.10.2024 um 12.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#54093

Der Kubaner, der den Hochsprungweltrekord von 2,45m hält, ist über das Einundeinviertelfache seiner Körpergröße (1,90m) gesprungen. Ein Floh, seien wir mal großzügig, schafft bei 1mm Körpergröße und 50cm Sprunghöhe höchstens das 500fache, also einen Faktor von höchstens 400 mehr als der Mensch.

Dabei bewegt der Floh, wiederum großzügig gemessen, etwa 1mg Körpermasse, wohingegen der Kubaner mit 80kg etwa das 80millionenfache des Flohs über die Latte katapultierte. Durch obige 400 geteilt, ergibt das die 200000fache Sprungkraft des Menschen gegenüber dem Floh.

(Diese Rechnung unter Einbeziehung der Masse ist sicherlich auch noch nicht hinreichend objektiv, aber sie kann die Absurdität und den wesentlichen Fehler solcher Vergleiche belegen.)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 20.10.2024 um 09.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#54096

Ergänzend zum vorigen:
Man kann die Masse, von der die Sprungkraft abhängt, vor allem deswegen nicht einfach weglassen, weil sie nicht linear wie die Größe und Sprunghöhe steigt, sondern wie das Volumen mit der dritten Potenz.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.10.2024 um 16.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1510#54099

Das war immer mein Punkt, wenn ich daran erinnerte, daß eine Spinne nicht so groß werden kann wie Aragog in "Harry Potter" und ein Elefant nicht 20 m hoch. Der eine würde durch sein eigenes Gewicht zerdrückt werden, die andere könte nicht durch Tracheen atmen – alles wegen der dritten Potenz. Aber es eben nicht "logisch möglich und nur empirisch unmöglich"!
 
 

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