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16.02.2009
 

Um der Freiheit willen
Der Althistoriker Christian Meier wird achtzig

Das neue Buch von Christian Meier ("Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfang Europas?") ist selbstverständlich in herkömmlicher Rechtschreibung erschienen. Eine Würdigung von Uwe Justus Wenzel.

Des Menschen Leben, glaubte der Dichter, sei nur insofern etwas wert, als es «eine Folge» habe. Christian Meier, der seinen Goethe noch kennt, zitiert ihn mit diesem Diktum in der Einleitung zu einer Sammlung von Essays über Geschichte und Politik. Sie ist vor acht Jahren erschienen und trägt den sofort einleuchtenden Titel: «Das Verschwinden der Gegenwart». Der Althistoriker, der sich dem Ansinnen der Zeitdiagnostik nicht verschliesst, ist allerdings geneigt, Goethe zu widersprechen. Ihm wolle inzwischen «die Devise einer abfallgeplagten Epoche auch als Lebensdevise mehr einleuchten»: die menschliche Selbstermahnung nämlich, «diesen Ort» doch bitte so zu verlassen, wie man ihn vorgefunden habe.

Es wird Christian Meier, das kann man getrost voraussagen, nicht so schnell gelingen, sein Wirken in der Republik der Gelehrten und der gebildeten Öffentlichkeit ungeschehen zu machen. Pünktlich zu seinem achtzigsten Geburtstag, den er am heutigen Montag begehen kann, hat der aus Pommern Stammende ein neues Buch vorgelegt – eines, das das Verschwinden der Gegenwart ein wenig aufzuhalten vermöchte, indem es deren Vor- und Frühgeschichte zum Thema macht: die «griechischen Anfänge», die zugleich den «Anfang Europas» markieren. Zwar ist der Untertitel, der beide Anfänge zusammenbringt, mit einem Fragezeichen versehen. Doch die Frage, das wird spätestens bei der Lektüre der Studie klar, suggeriert keineswegs ein Nein als Antwort. Es ist lediglich Vorsicht, die der skeptische Wissenschafter von Berufs wegen walten lässt.

Europa, lesen wir gegen Ende des ersten Kapitels, das die Frage nach dem Anfang aufwirft, habe keinerlei Anlass, andere Kulturen geringzuschätzen. Gleichwohl aber sei schwerlich von der Hand zu weisen, dass es so etwas wie einen Sonderweg «eingeschlagen und über weite Strecken zurückgelegt» habe. Der hinwiederum habe sein prägendes Präludium bei den Griechen gehabt – bei jener vergleichsweise überschaubaren Gruppe von Gemeinwesen, die, anders als alle anderen bis dato, eine Kultur nicht um der Herrschaft, sondern – trotz Sklaverei – «um der Freiheit willen» ausgebildet hätten. Kurz: Das antike Griechenland habe weltgeschichtlich einen Neuanfang gemacht. An diesem Urteil, so Meier, vermöge auch die gewachsene Kenntnis von den griechischen «Übernahmen aus dem Orient» nichts Grundsätzliches zu ändern. Diese Kenntnis schlägt sich in dem Buch deutlich nieder. Sie verdankt sich übrigens nicht erst der Debatte, die Raoul Schrotts phantasievolle Thesen zu Herkunft und Identität Homers vor einem guten Jahr auslöste; Christian Meier hat dazu (in dieser Zeitung) mit einem erhellenden Essay Stellung genommen.

Das Geburtstagsgeschenk, das er sich und seinen Lesern gemacht hat, ist in gewisser Weise eine Vorveröffentlichung. Es handelt sich, wie der Autor in einem Nachwort verrät, um die beiden ersten von insgesamt sieben Kapiteln, aus denen der lange schon im Rahmen von Siedlers «Geschichte Europas» angekündigte Band «Die alte Welt» dereinst bestehen soll. Meier knüpft thematisch an die Studien an, die er vor bald dreissig Jahren unter dem Titel «Die Entstehung des Politischen bei den Griechen» hat erscheinen lassen. Von Europa war damals wenig die Rede und von Freiheit expressis verbis auch nicht so viel. Neben «dem Politischen», das in den siebziger Jahren Erde und Luft, Wasser und Feuer als gewissermassen fünftes ontologisches Grundelement ergänzte, war «Demokratie» das Signalwort der Stunde. Im Schibboleth «Europa» schwingt dies alles selbstredend auch noch mit, aber es hat doch einen stärker identitätspolitischen Einschlag. Demokratie und Freiheit haben, obgleich sie ins Universelle zielen, einen Herkunftsort.

Die Lebensform, für die «Europa» stehen mag, hat in Christian Meier einen ebenso besonnenen wie hintersinnigen – der Ironie zugetanen – Verteidiger gefunden. Da er allerdings bezweifelt, dass die Historie noch ohne weiteres die Lehrmeisterin des Lebens sein könne, schlüpft der Althistoriker auch in andere Rollen, um für jene Lebensform eine Lanze zu brechen. So zumindest liesse sich verstehen, dass er sich in seiner Amtszeit als Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vehement gegen die Unsinnigkeiten der (bisher letzten) Rechtschreibreform wandte. Ob dieses Engagement ganz ohne Folgen geblieben sein wird, wie es zunächst erscheinen könnte, wird erst die Zukunft, die Geschichte also, zeigen.


Quelle: NZZ
Link: http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/um_der_freiheit_willen_1.2009384.html


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Kommentare zu »Um der Freiheit willen«
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Kommentar von , verfaßt am 01.08.2023 um 10.11 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#11165

"Personen außerhalb dieses Bereichs sind rechtlich nicht gehalten, die neuen Rechtschreibregeln zu beachten und die reformierte Schreibung zu verwenden. [...].“
Das "Beachten" war spätestens von dem Moment an nicht ernstgemeint, als die ersten Formulare in der "neuen Rechtschreibung" ausgegeben wurden: Wer sie auszufüllen und zu unterschreiben hatte, machte sich jeweils zwangsläufig die "Reform" zu eigen. Es gibt eben nicht nur Passivraucher, sondern auch Passivreformer und Passivgenderer wider Willen.

Apropos Gendern: Zu bezweifeln ist, "dass die Historie noch ohne weiteres die Lehrmeisterin des Lebens sein könne", denn die Historie bzw. Geschichte ist (noch) nicht die - movierte - biologisch weibliche "Lehrmeisterin" ...


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.05.2023 um 17.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#11163

Aus dem Karlsruher Rechtschreiburteil:

„Soweit dieser Regelung rechtliche Verbindlichkeit zukommt, ist diese auf den Bereich der Schulen beschränkt. Personen außerhalb dieses Bereichs sind rechtlich nicht gehalten, die neuen Rechtschreibregeln zu beachten und die reformierte Schreibung zu verwenden. Sie sind vielmehr frei, wie bisher zu schreiben.“

Sie sollten dem Redakteur dankbar sein, weil er klargestellt hat, was unter dieser Freiheit zu verstehen ist: die Freiheit, so zu schreiben, als ob der Duden verbindlich wäre (aber auch wieder nicht gar zu sehr, sondern nur in dem Maße, wie der Herr Redakteur es weiß oder für richtig hält).

Es ist immer wieder erstaunlich, wie irgendein Wicht sich aufspielt, wenn er die Macht der Obrigkeit hinter sich wähnt. Oder mit Tucholsky: hinter dem Schalter zu sitzen.


Kommentar von Frank Daubner, verfaßt am 22.05.2023 um 11.04 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#11162

Noch einmal zur Historischen Zeitschrift: Eine eingereichte Rezension wurde auf Heyse getrimmt - der Rest blieb stehen, wie dudenunkonform er auch war. Auf meine Bitte hin, die Heyse-ss zurückzuverwandeln, bekam ich vom Redakteur die Auskunft: "Ich halte mich bei den Korrekturen an den Duden, und Ihre Schreibweise ist, wie man dort nachsehen kann, nicht mehr optional." So also. (Ich habe dann in einem weiteren Durchgang Vermeidungsschreibung verwendet und werde für dieses Blatt nichts mehr schreiben.)


Kommentar von Frank Daubner, verfaßt am 22.07.2018 um 07.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#10956

Entschuldigung, das bezog sich auf die Einträge zuvor; ich hätte nicht abkürzen sollen (professionelle Deformationen ). HZ ist die Historische Zeitschrift.


Kommentar von Tobias Bluhme, verfaßt am 21.07.2018 um 19.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#10955

Was sind denn "HZ-Richtlinien"?


Kommentar von Frank Daubner, verfaßt am 16.07.2018 um 18.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#10954

In der neuen Fassung der HZ-Richtlinien ist die Rechtschreibung nicht mehr erwähnt. Ist das ein Fortschritt, oder gilt die Reformschreibung nun einfach als selbstverständlich? In Anbetracht der Beiträge fürchte ich, letzteres ist der Fall.


Kommentar von R. M., verfaßt am 01.07.2015 um 20.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#10110

Man kann wohl getrost davon ausgehen, daß alle Herausgeber der HZ wissen, welche Rechtschreibung die bessere ist.


Kommentar von Frank Daubner, verfaßt am 01.07.2015 um 16.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#10109

Die "Historische Zeitschrift", die in ihre Richtlinien schreibt: "In der Historischen Zeitschrift und ihren Beiheften werden die neuen Rechtschreibregeln nach den Richtlinien des „Duden“ verwendet. Wir bitten deshalb darum, die Beiträge in dieser orthographischen Form zu verfassen", hat in ihrem neuesten Heft einen hundertseitigen Artikel Christian Meiers in klassischer Rechtschreibung erscheinen lassen (kommentarlos).


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.08.2012 um 06.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#9051

Auch im Forum Classicum wird lateinischen Zitaten, sogar sehr bekannten, sogleich eine deutsche Übersetzung beigefügt: Tempora mutantur nos et mutamur in illis? Die Zeiten verändern sich und wir verändern uns in ihnen? – Felix, qui potuit rerum cognoscere causas. Glücklich ist der, der die Ursachen der Weltdinge erkennen konnte.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.09.2011 um 11.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#8696

In einem sprachwissenschaftlichen Buch lese ich:
lat. genus ‚Geschlecht‘, aber auch ‚Art‘, ‚Klasse‘1

Und dazu die Fußnote:

1 Pons Globalwörterbuch Lateinisch–Deutsch (1994), 425. Der Hinweis stammt von CORBETT (1991).

Man muß eigentlich überhaupt kein Latein können, um zu wissen, daß Genus auch Art, Klasse bedeutet. Dazu braucht man keinen Hinweis von Corbett.


Kommentar von Karl-Heinz Isleif, verfaßt am 21.02.2009 um 03.07 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#7558

Ich glaube nicht, daß ich eine Abneigung gegen Latein habe. Latein selber hat mir nichts getan, es sind seine Verfechter und deren unbegründetes aber unverholenes Elitedenken, die mich stören. Denn Latein zu lernen mag schwierig sein, aber das gilt für jede Sprache, wenn man seine Ansprüche so stellt, daß man sich in ihr frei bewegen kann. Der Unterschied liegt darin, daß es in den richtigen Sprachen Millionen Muttersprachler gibt, die einem ganz ohne Zeugnisnoten schnell zeigen, ob man es kann, das ‘Können’ bei Latein hingegen von einigen Pfarrern und Gymnasiallehrern bestimmt wird.

Die Geschichte mit Caesar hatte damit nichts zu tun. Mich stört an der Aufmerksamkeit für Caesar, Napoleon und Co. das zutage tretende Rechtsbewußtsein. Schon als Kind habe ich mich gefragt, wieso kann ein Störtebecker Hauptfigur in einem Buch werden? Und, etwas später, was bringt einen Stefan Zweig dazu, die Durchquerung des südamerikanischen Kontinents durch die Eroberer zu einer Sternstunde der Menschheit zu erklären, wo diese Leute doch einzig zum Zweck der Plünderung und der Ausrottung der Bevölkerung dort waren?

Die Reaktionen der geneigten Mitleserschaft haben sich diesmal erstaunlicherweise weniger auf Themaverfehlung konzentriert. Sie haben aber gezeigt, daß entweder meine Ausdrucksfähigkeit nicht hinreichte, meinen Standpunkt am Beispiel der Caesar-Biographie deutlich zu machen, oder daß der Standpunkt nicht gutgeheißen wird. Beides bedaure ich. Weil aber der Teilnahme an einem Forum wie diesem ohnehin immer ein Geschmack von Exhibitionismus und Narzissmus anhaftet, und ich beiden nicht über das bisher zur Schau gestellte Maß frönen will, ist jetzt ein guter Zeitpunkt für reuige Besinnung gekommen. Ich werde mir fürderhin etwas mehr Zurückhaltung auferlegen, aber aufmerksamer Mitleser bleiben. KHI


Kommentar von Germanist, verfaßt am 20.02.2009 um 18.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#7556

Am Latein wird immer gerühmt, daß es im Mittelalter und am Anfang der Neuzeit die Lingua franca der Wissenschaft gewesen sei und an den Universitäten alle Vorlesungen in Latein gehalten worden seien. Ich glaube nicht, daß dazu noch die klassischen Sequenzen und Perioden von Cicero und seinen Zeitgenossen verwendet wurden, sondern das sogenannte "Mittellatein", welches einen "moderneren" Satzbau verwendete, bei dem man den Sinn eines Satzes schon Schritt für Schritt "fließend" während des Hörens und nicht erst am Ende des gehörten Satzes verstehen konnte. Das ähnelte mehr dem Satzbau des sogenannten "Vulgärlateins", in dem sich die römischen Bürger zu Ciceros Zeiten unterhielten und das damals für "profane" Schriften verwendet wurde, die von jedermann verstanden werden sollten.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.02.2009 um 10.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#7554

Das Lateinische ist meinem Eindruck nach keine leicht zu lernende Sprache. Schön, wenn man es kann, aber der Aufwand ist ziemlich groß. Das meinte übrigens auch Benjamin Franklin, der in seiner – vor allem in den USA – viel gelesenen Autobiographie folgendes zu bedenken gibt:

I had began in 1733 to study languages; I soon made myself so much a master of the French as to be able to read the books with ease. I then undertook the Italian. An acquaintance, who was also learning it, used often to tempt me to play chess with him. Finding this took up much of the time I had to spare for study, I at length refused to play any more, unless on this condition, that the victor in every game should have a right to impose a task, either in parts of the grammar to be got by heart, or in translations, etc., which tasks the vanquished was to perform, upon honor, before our next meeting. As we played pretty equally, we thus beat one another into that language. I afterwards, with a little painstaking, acquired as much of the Spanish as to read their books also.

I have already mentioned that I had only one year's instruction in a Latin School, and that when very young, after which I neglected that language entirely. But, when I had attained an acquaintance with the French, Italian, and Spanish, I was surprised to find, on looking over a Latin Testament, that I understood so much more of that language than I had imagined, which encouraged me to apply myself again to the study of it, and I met with more success, as those preceding languages had greatly smoothed my way.

From these circumstances, I have thought that there is some inconsistency in our common mode of teaching languages. We are told that it is proper to begin first with the Latin, and, having acquired that, it will be more easy to attain those modern languages which are derived from it; and yet we do not begin with the Greek, in order more easy to acquire the Latin. It is true that, if you can clamber and get to the top of a staircase without using the steps, you will more easily gain them in descending; but certainly, if you begin with the lowest you will with more ease ascend to the top; and I would therefore offer it to the consideration of those who superintend the education of our youth, whether, since many of those who begin with Latin quite the same after spending some years without having made any great proficiency, and what they have learnt becomes almost useless, so that their time has been lost, it would not have been better to have begun with the French, proceeding to the Italian, etc. ; for, tho', after spending the same time, they should quite the study of languages, and never arrive at the Latin, they would, however, have acquired another tongue or two, that, being in modern use, might be serviceable to them in common life.

Einer meiner Favoriten, der Latinist Jules Marouzeau, hat schön dargestellt, wie leicht man sich beim Übersetzen aus dem Lateinischen verrennen kann. Ich bin gerade auf ein weiteres hübsches Beispiel gestoßen:

Walther Ludwig erwähnt die groteske Fehlübersetzung einer Bildinschrift zu einer Zeichnung Bruegels (offenbar einer Vorstudie zum Sturz des Ikarus), eines Halbverses von Ovid (bei diesem auf Phaeton gemünzt), in einem Ausstellungskatalog: MEDIO TUTISSIMUS IBIS als „höchst geschützter Ibis“. („Latein im Leben: Funktionen der lateinischen Sprache in der frühen Neuzeit“. In: Eckhard Keßler/Heinrich C. Kuhn hg.: Germania latina – Latinitas teutonica. München 2003:73-106, hier 73). Unser herzliches Lachen über solche Schnitzer ist – geben wir es zu! – nicht ganz frei von einer gewissen Beklommenheit, als ob wir selbst gerade mit Glück über den zugefrorenen Bodensee geritten wären. Also schnell noch ein Stückchen weitergetrabt, nach St. Gallen, zur Auffrischung!

Ludwig bestreitet übrigens Eduard Nordens Behauptung, die Humanisten hätten dem im Mittelalter noch lebendigen Latein den Todesstoß versetzt (ebd.). Erst im 18. und 19. Jahrhundert habe sich ein extremer Ciceronianismus erschwerend auf das Lateinlernen ausgewirkt. Mit der Ansicht Nordens, die wohl auch nicht ganz falsch sein dürfte, deckt sich, was Hermann Paul und andere Autoren für erwiesen hielten.

Das Lateinlernen wurde jahrhundertelang durch die ungünstige Darstellung der lateinischen Grammatik nicht gerade erleichtert. Hierauf hat besonders Manfred Fuhrmann verschiedentlich hingewiesen, mit besonderer Hervorhebung des versifizierten Standardlehrwerks (Doctrinale) von Alexander de Villa Dei. Das machen wir heute besser, aber auf der anderen Seite ist die Stundenzahl für Latein so gesunken, daß die Ergebnisse oft nicht mehr die Mühe lohnen.


Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 19.02.2009 um 17.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#7552

Immerhin verstehe ich jetzt Herrn Isleifs Abneigung gegen Latein etwas besser. Als Sekundaner hatte ich eine ähnlich heftige Aversion gegen Cicero. Besonders verwerflich schien mir die Hinrichtung der Catilinarier. Das hat sich erst nach der Bekanntschaft mit Ovid wieder etwas gelegt. Mit dem hatte ich nämlich noch größere Probleme.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.02.2009 um 17.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#7551

Am besten, man liest nur Heiligenlegenden, da kann nicht viel schiefgehen.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 19.02.2009 um 16.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#7550

Die Cäsar-Diskussion erinnert mich fatal an ähnliche Bescheuertheiten, wie gender mainstreaming und Verbot von Wörtern wie Student, Neger und Zigeuner.


Kommentar von Karl-Heinz Isleif, verfaßt am 19.02.2009 um 15.51 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#7549

Da unterscheiden wir uns eben. Mich interessieren die Geburtstage und die Bücher von Mördern auch dann nicht, wenn sie berühmt sind. Und Verfasser von Büchern über diese Figuren mag ich nicht.


Kommentar von R. M., verfaßt am 19.02.2009 um 14.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#7548

Wer nicht einmal weiß, wann Caesar gelebt hat, sollte sich nicht damit hervortun, sein Wirken bewerten zu wollen. Entsprechendes gilt für das Urteil über Bücher, die man nicht gelesen hat.


Kommentar von Karl-Heinz Isleif, verfaßt am 19.02.2009 um 13.17 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#7547

Klar, 400 Jahre sind der Abweichung etwas zuviel, zugegeben...

aber es bleibt doch bemerkenswert, daß manche Leute merken, wenn sie einem Mörder huldigen, während andere auf dem Auge blind mit großem Eifer einen Helden aus ihm schnitzen:

"Caesar's works were studiously avoided because there is a growing opinion that Caesar's military tyranny over the first two years is infelicitous, intolerable, and deleterious to the cause, and that more desirable reading matter can be found."

Wheelock's Latin Grammar, 4th edition, 1992, S. xiii

(Wheelock's spielt eine ziemliche Rolle in Amerika; von der Bedeutung mit unserem 'Stowasser' vergleichbar.)


Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 19.02.2009 um 12.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#7546

Caesar, obwohl seine Schandtaten noch längst keine zweieinhalb tausend Jahre zurückliegen, wird heute sogar von den Nachfahren seiner Opfer mit – manchmal freilich etwas spöttischem – Respekt behandelt (vgl. die einschlägigen Arbeiten von Goscinny und Uderzo).


Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 18.02.2009 um 15.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#7545

*Tagesspiegel* (#7543 hier), reformiert, doch um der Kinder willen, aber dabei eben unsicher: "heisst", "leichtfüßig".


Kommentar von Karl-Heinz Isleif, verfaßt am 17.02.2009 um 22.15 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#7544

Obschon auch dieser Kommentar wieder kaum was mit Rechtschreibung zu tun hat, liegt er liegt mir doch aufdringlich auf der Zunge:

Ich bin nicht so sicher, ob Meiers Widerstand gegen die Rechtschreibreform automatisch ein Hinweis auf bemerkenswerte (menschliche, intellektuelle usw.) Größe ist.

Historiker setzen sich zwar ohnehin gerne über störende Kleinigkeiten hinweg, wenn aber tatsächlich 'Kultur, um der Freiheit willen' betrieben wird, dann ist Meiers 'Cäsar-Biografie von 1982' nicht bemerkenswert, sondern verdächtig. Seit Karl Popper in 'The Open Society and its Enemies' (für die Puristen: das Original ist leider englisch) am Glanz eines Riesen wie Plato kratzte, ist es erlaubt, daß man sich bei Biographien fragt, ob deren Objekt die Aufmerksamkeit wert ist. Kritische Kommentare zu Meiers Werk finden sich im Zeitalter des Internet ja leicht und zuhauf, nicht nur der von Helmut Kohl, dem Caesars Bürgerkrieg dem Vernehmen nach überhaupt nicht gefiel.

Was aber war mit Caesars anderen Kriegen? Was suchte und erreichte er außerhalb seines Landes anderes als Tote, verbrannte Erde, Krüppel und Waisen? Ist so einer, wenn er seine Aktionen fein säuberlich aufschreibt, ein Literat? Sind seine Schriften darum richtigerweise Pflicht im Lateinunterricht zweieinhalb tausend Jahre später? Ist so einer eine (wohlwollende) Biographie (in klassischer Rechtschreibung) wert?

Man könnte natürlich argumentieren, Aquaedukte und Arenen seien ohne Caesars Feldzüge nie nach Frankreich und in noch weiter entfernte Gegenden gekommen – aber damit begäbe man sich in die geistige Nähe derer, die einem anderen bekannten Kriegsherrn den Autobahnbau als positives Gegengewicht zu einigen geringfügigen Fehltritten anrechnen – und das kann man ja nicht wollen, oder?

KHI


Kommentar von Der Tagesspiegel vom 15.02.2009, verfaßt am 17.02.2009 um 16.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=611#7543

Tauchen in den Tiefen der Antike
Denken zwischen Auschwitz und Athen: Der Historiker Christian Meier feiert seinen 80. Geburtstag

An diesem Montag ereignet sich im Berliner Wissenschaftskolleg eine Koinzidenz, die ihren eigenen Charme hat. Die Vorstellung eines neuen Buches fällt auf den achtzigsten Geburtstags des Autors, des Historikers Christian Meier. Überdies zeigt das Werk ihn ganz bei sich selbst, bei den Gedanken und Themen, mit denen er das geistige Leben der Bundesrepublik über die Jahrzehnte hinweg inspiriert und bereichert hat. „Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfang Europas“ ist der Titel, und es beweist aufs Schönste seine Gabe, mit Gelehrsamkeit und essayistischer Brillanz Geschichte zu schreiben, die eine weit entrückte Vergangenheit für unsere Gegenwart aufzuschließen vermag.

Es ist ja auch diese Fähigkeit, die Meiers Ruf begründet hat. Der Althistoriker hat wie ein Tiefseetaucher aus der uns fremd gewordenen antiken Welt faszinierende Funde ans Licht gebracht. Mit seinem 1980 erschienenen Aufsatzband „Die Entstehung des Politischen bei den Griechen“ hat er eben diese These belegt und einen nachhaltigen, inspirierende Gedanken gezündet. Seine Cäsar-Biografie von 1982 und sein elf Jahre später erschienenes „Athen“ haben ein breites Publikum gefunden, nicht zuletzt wegen seiner dort bewiesenen Fähigkeit als Erzähler. Doch Ausgangspunkt seiner Beschäftigung mit der Geschichte war immer – wie er bekannt hat – das Interesse an der Gegenwart. „Von Athen bis Auschwitz“ heisst der Titel der Vorlesungen, in denen er seine Auseinandersetzungen mit Geschichte und Erinnerung in der Epoche des „Davonlaufens der Zeit“ formuliert hat. Es ist die Chiffre für die Spannweite seines Denkens und Schreibens.

Dabei hat sich Meier merkwürdig wenig berühren lassen von den Kontroversen, die seine Historikerkollegen umtrieben – obwohl er acht Jahre lang Vorsitzender des Historiker-Verbandes war, auch in den Jahren des Historiker-Streits. Aber bei ihm hat sich der erbitterte Waffengang, der so wenig Ergebnisse gebracht hat, niedergeschlagen im Ringen um die deutsche Geschichtserinnerung. Das Protokoll davon, erschienen unter dem Titel „40 Jahre nach Auschwitz“, ist noch immer einer der überzeugendsten Beiträge zu dem unerschöpflichen Thema. Natürlich gehört auch Meier qua Generation zu den „45ern“, die inzwischen als Träger der intellektuellen Modernisierung der Bundesrepublik entdeckt worden sind. Aber er verkörpert eine Spielart, die nicht leugnet, sich auch an den Debatten der fünfziger Jahre gebildet zu haben, die im Banne älterer Traditionsbestände standen. Sofern man in ihm, leichtfüßig im Auftreten, intensiv in der Gedankenführung, nicht überhaupt einen Kopf sui generis sehen muss.

Denn ein publizistisches Temperament ist Meier auch. Immer wieder meldet er sich in Zeitungen zu Wort. Zur Zeit der Wiedervereinigung wuchs diese Leidenschaft zu kleinen Büchern heran: „Deutsche Einheit als Herausforderung. Welche Fundamente für welche Republik“ und „Die Nation, die keine sein will“ hießen diese Streitschriften, die schon in ihren Titeln ihre Botschaften verrieten. Als Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung“ (von 1996 bis 2002) focht er heftig gegen die Rechtschreibreform (auch für das neue Buch hat er auf der alten Rechtschreibung bestanden). Aber trug nicht schon die Antrittsvorlesung des jungen Professors den Titel: „Die Wissenschaft des Historikers und die Verantwortung des Zeitgenossen“? Das war 1968, in Basel – der Beginn einer erfolgreichen Laufbahn, die über Köln, wieder Basel und Bochum nach München führte.

Nun also, mit dem neuen Buch, die Rückwendung sozusagen zum Kerngeschäft, den Griechen. Ihre Einzigartigkeit, so Meier, bestand darin, eine Kultur auszubilden, in deren Mittelpunkt die Freiheit stand. Das war das Präludium Europas – und verdiente neben „den bekannten langgestreckten Revolutionen der Weltgeschichte, der Neolithischen und der Industriellen“ als die politische Revolution zu gelten. Eine These mit Trommelwirbel, angemessen für den runden Geburtstag.

Christian Meier: Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfang Europas. Siedler Verlag, München 2009. 368 Seiten, 22, 95 €.

http://www.tagesspiegel.de/kultur/art772,2730807



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