Nachrichten rund um die Rechtschreibreform
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02.05.2011
Lehrer kämpfen mit neuer Rechtschreibung
"Die neue Rechtschreibung kommt nicht in der Schule an"
"Leerer prauchen wier nicht!" So steht es ironisch auf einer Wortliste, die ein Deutschlehrer vor kurzem in der 7. Klasse eines Gymnasiums in Baden-Württemberg ausgeteilt hat. Was er nicht bemerkt hat: Die Liste strotzt auch sonst vor Fehlern. Ein Einzelfall?
Wer 36 Rechtschreibfehler auf 2 Seiten macht, bekommt im Diktat eine Sechs. Doch was, wenn nicht ein Schüler, sondern ein Lehrer so viel falsch schreibt? Noch dazu ein Deutschlehrer, der seine Schüler mit einer Wortliste auf ein Diktat vorbereitet? Führende Experten wie der Potsdamer Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg und der Deutschdidaktiker Jakob Ossner kennen solche Fälle und sie schlagen Alarm.
"Es ist kein Geheimnis, dass die neue Rechtschreibung und erst recht die seit 2006 gültige nicht in der Schule ankommt und der Rechtschreibunterricht noch immer an vielen Orten vernachlässigt wird", beklagt Eisenberg. "Wir brauchen dringend eine Diskussion um eine Reform der Lehreraus- und -weiterbildung", fordert Ossner. Auch die Leiterin der Wörterbuch-Redaktion Wahrig, Sabine Krome, sieht in der fehlerhaften Wortliste "keinen Einzelfall".
Die missglückte Reform von 1996
Schuld an der Misere ist die Rechtschreibreform von 1996. Sie missglückte und musste zum Teil wieder zurückgenommen werden. Die Kultusministerkonferenz setzte daher den Rat für deutsche Rechtschreibung in Mannheim ein. Dieser sorgte dafür, dass 2006 eine Reform der Reform in Kraft trat. Ein Anliegen war es, bei der Getrennt- und Zusammenschreibung je nach Bedeutung unterscheiden zu können: "Sitzen bleiben" schreibt man auseinander, wenn jemand im wörtlichen Sinne auf einem Stuhl sitzen bleibt. Bei übertragener Bedeutung ("in der Schule sitzenbleiben") ist dagegen Zusammenschreibung möglich.
Bei manchen Lehrern scheinen diese Feinheiten nicht angekommen zu sein. Ossner fordert daher: "In der Lehrerausbildung muss sprachliche Bildung - insbesondere in den Bereichen Grammatik und Orthografie - dringend verstärkt werden." Bei Pisa-Studien und Vergleichsarbeiten werde fast nur über Schülerleistungen und Schulsysteme diskutiert, "so als würden die Lehrkräfte für die Ergebnisse ganz unbedeutend sein. (...) Dabei haben viele Untersuchungen bestätigt, dass auch in der Schule Organisationsfragen nachrangig und die Kriterien für guten Unterricht bei den Lehrern zu suchen sind."
Ossner war Rektor der Pädagogischen Hochschule Weingarten und lehrt jetzt an der PH Rorschach am Bodensee (Schweiz). Er fordert: Wer auf Lehramt studieren will, muss auf seine Eignung getestet werden. "Lehrer, die sich in ihrer Hilflosigkeit nur noch selbst karikieren können ("Leerer prauchen wier nicht!" steht am rechten oberen Seitenrand der Wortliste) brauchen wir nicht."
(Von Bernward Loheide, dpa)
Quelle: inFranken.de
Link: http://www.infranken.de/nachrichten/panorama/sprache-Rechtschreibung-Duden-Deutschland-Lehrer-kaempfen-mit-neuer-Rechtschreibung;art183,157587
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Kommentare zu »Lehrer kämpfen mit neuer Rechtschreibung « |
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.05.2011 um 06.44 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8598
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Loheide ist Mitglied des Rates für deutsche Rechtschreibung. Die Geschichte des Rates und der Reform ist sehr verkürzt wiedergegeben.
Kraß ungerecht ist es, nun den Lehrern die Schuld in die Schuhe zu schieben. Die Arbeit des Rates ist vorzeitig abgebrochen worden, seine bisherigen Ergebnisse sind inkonsistent und eigentlich indiskutabel, ganz abgesehen von der jüngsten Unklarheit über die vorgeschlagenen, aber noch nicht amtlich verkündeten Änderungen. Die Lehrer haben Besseres zu tun, als sich um die jeweils neuesten Kapriolen der Reformer zu kümmern.
Die Agenturen, die Loheide im Rat vertritt, und in ihrem Gefolge die anderen Medien, haben mehr als jeder andere dazu beigetragen, die "missglückte" Reform von 1996 flächendeckend durchzusetzen. Auf diesen "Erfolg" haben die Reformer mit berechtigtem Stolz immer wieder hingewiesen. Gerade der dpa steht es nicht zu, mit dem Finger auf andere zu zeigen.
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Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 03.05.2011 um 11.12 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8599
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Der Leser erfährt nicht, um welche 36 Fehler es sich handelt. Ohne diese Information kann man nicht einschätzen, worauf sie beruhen. Als Ursachen kommen vor allem in Frage: die Regelung von 1996, die nachfolgenden Revisionen, Faulheit oder intellektuelle Überforderung der Lehrkraft.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.05.2011 um 12.27 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8600
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Ich kann mir nur allzu gut vorstellen, wie im Rechtschreibrat nun über die Lehrer und die Schulen gelästert wird. Die Verfehltheit der ganzen Reform, die Unzumutbarkeit insbesondere der ursprünglichen Gestalt von 1996, ist ein Tabuthema; darüber wird im Rat nicht gesprochen, es gilt als unfein. Während meines ganzen Jahres im Rat wurden Augst und Genossen niemals erwähnt; als ich in einer Arbeitsgruppe mal auf 1996 zu sprechen kam, bat Eichinger mich dringend, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Zu schade, daß die Sitzungen nicht öffentlich sind. Gerade jetzt, wo es keine wirklichen Reformkritiker mehr im Rat gibt, wäre das sehr zu wünschen.
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Kommentar von R. M., verfaßt am 03.05.2011 um 13.35 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8601
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Es ist bezeichnend für die laxen journalistischen Standards in Deutschland, daß Loheide die Tatsache unterschlägt, daß er selbst und alle (!) im Artikel vorkommenden »Experten« Mitglieder im Rechtschreibrat sind.
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Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 03.05.2011 um 16.12 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8603
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Die Suche nach einem Sündenbock setzt immerhin die Anerkenntnis voraus, daß etwas schiefgelaufen ist und daß die Erklärung der Mißlichkeiten als Übergangserscheinungen nicht mehr trägt. Die Erklärung nach dem Muster "Die Idee ist gut, nur die Ausführung war schlecht" ist wohl ein unvermeidliches weiteres Durchgangsstadium auf dem Weg zu der Erkenntnis, daß schon die Idee schlecht war.
Übrigens finde ich es nicht überraschend, daß Deutschlehrer zu Rechtschreibzynikern werden. Es dürften sogar die intelligenteren sein.
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 03.05.2011 um 23.22 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8605
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Die wichtigste Eigenschft eines Lehrers ist seine Glaubwürdigkeit. Ich bin mir sicher, daß die meisten Gymnasiasten von Sokrates und seinem Schüler Platon soviel wissen, daß diese die Sophisten verachteten, die "der schlechteren Sache zum Sieg verhelfen" wollten (ton hätto logon kreitto poiein). Ich glaube, Lehrer wollen nicht mit diesem Urteil belegt werden, auch wenn die Politik ihnen die Sophisten-Rolle zuweist.
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Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 04.05.2011 um 13.08 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8606
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Für ungerecht halte ich in diesem Fall, daß ein Lehrer repräsentativ für alle stehen soll und daß die Fehler nicht genannt werden, so daß sie niemand bewerten kann.
Die Deutschlehrer in meiner Umgebung sind die Rechtschreibreform durch die Bank leid. Ihr Hauptproblem ist jedoch, daß in der Schule Lehr-Experimente angestellt werden. Zum Beispiel lernen Erstkläßler im ersten Halbjahr Schreiben und im zweiten Lesen. Das Chaos mit G8 ist unbewältigt. Die Diskussion um das dreigliedrige Schulsystem zeigt religiösen Eifer.
Positiv zu sehen (von Hoffnung dennoch keine Spur) ist aber, daß sich die Haltung zeigt, daß die Reform gescheitert ist. Dadurch wird der nächste Denkschritt zumindest möglich, daß die Reform selbst untauglich ist und nicht die Art ihrer Durchsetzung. Die muß nun wirklich als gelungen gelten: alle Schulen und fast alle Medien wenden sie an.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.05.2011 um 17.17 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8607
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Noch mal Eisenberg:
"Unsicherheit über deutsche Rechtschreibung auch bei LehrerInnen
zwd Berlin (mhh/ticker). Deutschlehrerinnen und -lehrer beherrschen die Rechtschreibung nach Ansicht des Sprachwissenschaftlers Peter Eisenberg nur unzureichend. Das Thema Rechtschreibung habe einen viel niedrigeren Status als noch vor der Rechtschreibreform, sagte der emeritierte Professor von der Universität Potsdam in einem Interview mit dem Deutschlandradio am 9. Mai. Grund dafür sei vor allem der Rückbau der ersten Reform des Jahres 1996 im Jahr 2006.
Weder die Medien noch die Kultusministerkonferenz (KMK) hätten die Neuregelung ausreichend kommuniziert und für eine öffentliche Diskussion gesorgt, wie es noch bei der ersten Rechtschreibreform zehn Jahre zuvor der Fall gewesen sei, kritisierte Eisenberg in dem Interview. Politisch sei die teilweise Rückkehr zur alten Rechtschreibung durchgeführt worden, um die öffentliche Debatte über die Reform von 1996 loszuwerden. Das inhaltliche Interesse an der Reform der Reform war jedoch sehr gering, sagte Eisenberg. Von der KMK sei kaum etwas unternommen worden, um die neue Schreibweise unter die Leute zu bringen.
Nach Ansicht des Wissenschaftlers spielt Orthografie in der Lehramtsausbildung traditionell eine zu geringe Rolle. Mit den Rechtschreibreformen sei die Aufmerksamkeit jedoch noch weiter gesunken. Die daraus resultierende Unsicherheit der DeutschlehrerInnen hat laut Eisenberg dazu geführt, dass auch in der Schule weniger Rechtschreibung gelehrt wird."
(10.05.2011)
Das Interview mag verkürzt wiedergegeben sein. Nicht erwähnt ist die Revision von 2004. Eisenberg weiß sehr genau, daß die gegenwärtige Fassung völlig unbeherrschbar ist (u. a. wegen der durch ihn selbst verkorksten GZS). Man braucht sich nur den neuen Brockhaus-Wahrig anzusehen, um zu erkennen, daß es Wahnsinn wäre, einen weitere Generation von Schülern mehr als nötig mit diesem Unsinn zu behelligen.
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Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 12.05.2011 um 07.42 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8608
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Warum genau hat Eisenberg eigentlich die Getrennt-/Zusammenschreibung (GZS) verkorkst? Ausgehend von der vorher schon sehr mißlungenen Neuregelung der GZS, steckt der Fehler nun vor allem in § 34 (2.2), oder? Also in der Vorschrift, Adjektiv + Verb bei "idiomatisierter Gesamtbedeutung" zusammenzuschreiben. Danach folgt übrigens gleich die liberale Klausel E5, die den Ausweg zeigt. Man müßte nur (2.2) und E5 miteinander verschmelzen, heraus käme: "Bei idiomatisierter Gesamtbedeutung kann zusammen- wie auch getrennt geschrieben werden." Oder: "Bei idiomatisierter Gesamtbedeutung wird oft zusammengeschrieben." Also dieselbe Regelung wie für Verb + lassen/bleiben in E7. Somit wäre eine Reparatur ohne viel Aufhebens möglich. Oder was hat Peter Eisenberg sonst noch falsch gemacht?
Ich finde diese bekloppte Regel "Idiomatisiert erzwingt Zusammenschreibung" zwar auch sehr ärgerlich. Aber es hat auch sein Gutes, wenn die Neuregelung immer noch so offensichtlich mißlungen ist. Ohne permanente Stolperfallen nähme die Unzufriedenheit mit der Neuregelung bald ab. Dann wäre die Gefahr größer, daß sich niemand mehr um die weniger auffälligen Zumutungen der Rechtschreibreform kümmern wird.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.05.2011 um 09.31 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8609
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Hinzu kommen noch die Ausführungen über Objektsprädikative (wozu man den Bericht samt Empfehlungen und Handreichungen von 2006 nachlesen sollte) und die Liste zu "Rad fahren" usw.
Wer sich ein Bild vom unhaltbaren Zustand der Reform machen will, sollte die Strecke wieder- in einem der beiden Wörterbücher nachschlagen (sie stimmen hier weitgehend überein, was aber nicht für die Neuregelung spricht).
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Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 12.05.2011 um 12.27 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8610
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Irre ich mich, oder entfernt sich die Rechtschreibreform mit der GZS im neuen Brockhaus-Wahrig von ihrem ursprünglichen Ziel, den Wenigschreibern Erleichterung zu bieten? Welcher ABC-Schütze, Zweitsprachlerner oder sonstige Wenigschreiber soll denn zukünftig bitte "idiomatisierte Gesamtbedeutung" erkennen? Zugleich mutet Eisenberg damit den Lehrern noch mehr zu. Womöglich hat er dann in ein paar Jahren wieder einen Grund auf sie draufzuschlagen, weil sie es nicht schaffen, in teilweise nur noch 12 Schuljahren auch noch die idiomatischen Bedeutungen von Phrasen zu vermitteln.
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Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 19.05.2011 um 02.32 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8617
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Zur Frage von Herrn Wrase, warum Eisenberg die GZS so "verkorkst" habe:
Ich möchte Eisenberg unterstellen, daß er in gutem Willen gehandelt hat, und zwar mit dem Ziel, die reformierte Schreibung stärker der herkömmlichen, intuitiven Schreibung anzupassen. Es läßt sich ja nicht leugnen, daß die völlige Freigabe der GZS bei Resultativzusätzen seit 2006 insofern nicht der herkömmlichen Schreibung entspricht, als es in dieser Fälle gab, wo die Zusammenschreibung völlig unzweifelhaft war, z.B. volltanken, totschlagen oder fertigstellen.
Mir scheint, daß in der Regel zur "idiomatisierten Gesamtbedeutung" ja durchaus ein Körnchen Wahrheit steckt. Nehmen wir das Beispiel fertigstellen: das Verb stellen hat ja in seiner Grundbedeutung eine räumliche Bedeutung. Man stellt etwas irgendwo hin. Bei fertigstellen entfällt die räumliche Bedeutung völlig. Aus seinen Bestandteilen läßt sich die Bedeutung von fertigstellen also nicht in gleicher Weise erschließen wie bei der Wendung das Essen fertig auf den Tisch stellen. Sowohl die Bedeutung als auch die syntaktische Rolle von stellen haben sich bei fertigstellen völlig verändert. Das ist überhaupt charakteristisch für viele Verbzusätze: so entstehen aus dem intransitiven Verb arbeiten die transitiven Verben abarbeiten, ausarbeiten usw.
Daß diese Regel dennoch nicht zum Ziel führt, hat zunächst drei Gründe:
1. Sie erfaßt viele Fälle eindeutiger Zusammenschreibung nicht, wie etwa totschlagen oder volltanken. Hier handelt es sich um schlichte Resultativzusätze, die kaum als "idiomatisierte Gesamtbedeutung" verstanden werden können. Deshalb wurde wohl in den "Erläuterungen" des Rates die entsprechende Ad-hoc-Regel eingeführt, die aber zahlreiche andere Fälle nicht erfaßt.
2. Der Begriff "idiomatisierte Gesamtbedeutung" ist in den Regeln von 2006 nicht hinreichend klar definiert. Das hat dazu geführt, daß die Wörterbücher ihn im Sinne des alten Duden als Unterscheidung zwischen "wörtlicher" und "übertragener" Bedeutung interpretiert haben. Dabei ist diese Unterscheidung nicht minder unklar, worauf Prof. Ickler ja immer wieder hingewiesen hat. Es wäre interessant zu wissen, wie sich Eisenberg zu dieser Praxis der Wörterbücher stellt.
Die amtlichen Regeln von 2006 verwenden den Begriff "übertragene Bedeutung" nur in § 34 E7 bei Verbindungen von bleiben und lassen und bei kennenlernen. Hinzu kommt, aber in ganz anderem Zusammenhang, ein Erwähnung in § 94 (4). Die Definition von "übertragener Bedeutung" bleibt aber genauso unklar wie das Verhältnis zu "idiomatisierter Gesamtbedeutung".
3. Die Anwendung der Regel stößt in der Praxis auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Nehmen wir das Verb gehen. Versteht man das Verb in seiner Grundbedeutung nur als Fortbewegung auf zwei, vier, sechs, acht oder "tausend" Beinen, dann handelt es sich bei "pleitegehen" in der Tat um um eine "übertragene Bedeutung" oder um eine "idiomatisierte Gesamtbedeutung". Tatsächlich wird das Verb aber auch im Sinne jeder Ortsveränderung (Er geht in die Stadt, Er ist nach Amerika gegangen) oder Zustandsveränderung (kaputt gehen, entzwei gehen) verwandt.
Selbst wenn man diese Verwendungen des Verbs als "übertragene Bedeutung" auffaßt, so folgt daraus nicht, daß ihre Zusammensetzungen mit einem Verbzusatz "nicht auf der Basis der Bedeutungen der einzelnen Teile bestimmt werden" könnten.
Der Hauptgrund für das Scheitern Eisenbergs scheint mir aber in folgendem zu liegen:
Bisher ist es niemandem, auch Eisenberg nicht, gelungen, anwendbare Regelungen für die Zusammenschreibung mit Verbzusätzen aufzustellen. Infolgedessen war der Eisenbersche Versuch, der herkömmlichen Schreibung durch Anpassung der amtlichen (oder irgendwelcher anderer) Regeln entgegenzukommen, von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Für die Wörterbücher ergeben sich aus dem Gesagten zwei Möglichkeiten: entweder die Zusammenschreibung freizugeben (Ickler), oder die wichtigsten Fälle lexikalisch zu erfassen (Duden). Natürlich ist eine solche lexikalische Erfassung auch nicht annähernd vollständig möglich. Ebensowenig ist aber auch eine vollständige Erfassung aller möglichen Verbzusätze durch den "Icklerbogen" möglich.
Persönlich glaube ich, daß die Zusammenschreibung mit Verbzusätzen gewissen intuitiven Regeln folgt, die aber bisher nicht vollständig erkannt sind. Daher neige ich eher dem lexikalischem Ansatz zu, sofern sich dieser wirklich nur an dem Schreib-Usus ausrichtet. Daß die Praxis des alten Duden diesen Anforderungen häufig nicht entsprach, steht auf einem anderen Blatt.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.05.2011 um 07.36 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8618
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Ganz so "frei", lieber Herr Achenbach, ist die GZS bei mir auch nicht. Ich bilde mir vielmehr ein, das Gegebene ziemlich richtig beschrieben zu haben. Es gibt den unbezweifelten Kernbereich der Zusammenschreibung, den Bereich der selbstverständlichen Getrenntschreibung und dazwischen einen Bereich mit gewissen Tendenzen, den ich mit Worten beschrieben und mit dem Bogen auch vorgeführt habe. Ich sage das auch deshalb, weil ich mich anfangs gegen den – von befreundeter Seite vorgebrachten – Einwand der "Beliebigkeit" wehren mußte.
Wie gesagt, der Bogen kommt rund tausendmal vor, verteilt auf rund 300 Gruppen, was durchaus überschaubar und bei einiger Beschäftigung auch fast immer vorhersagbar ist. Wenn es eine Intuition der Schreibenden gibt, muß sie auch beschreibbar sein. 1901 hat man darauf weitgehend verzichtet, der Duden hat's versucht – mit mäßigem Erfolg, die Reformer haben es versucht und sind gescheitert (wegen der Absicht, der Tendenz der Schreibgemeinschaft "entgegenzuwirken"), ich habe es versucht und stehe auch jetzt noch zu meinem Ergebnis.
Eisenberg war schon auf dem richtigen Weg, dem er versuchte, die auch im alten Duden unternommene Unterscheidungsschreibung zu rekonstruieren. Dann ist er aber durch sachfremde Überlegungen in einigen Teilen auf Abwege geraten, die auch mit der von ihm grundsätzlich hochgehaltenen Orientierung an der Schreibwirklichkeit nichts mehr zu tun hatten. In den Protokollen und im Entwurf für die Akademie ist das noch deutlicher als im Endergebnis, dem Bericht von 2006 nebst Handreichung.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.08.2011 um 16.42 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8692
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In der Torgauer Zeitung hat eine Volontärin, die wir nicht zu streng beurteilen wollen, einen Artikel über die Rechtschreibreform geschrieben. Ich zitiere daraus:
"Prof. Dr. Roland Wöller, sächsischer Staatsminister für Kultus und Sport, benutzt die momentan gültige Rechtschreibung und schreibt nicht „nach Gefühl“. Auch Susann Mende weiß als stellvertredende Pressesprecherin im sächsischen Ministerium für Kultus und Sport nur Positives über die Rechtschreibreform zu berichten. „In den sächsischen Schulen wurde die neue deutsche Rechtschreibung positiv umgesetzt. Natürlich liegt das auch an der umfangreichen Weiterbildung der sächsischen Lehrer“, erklärt sie."
(Die Äußerungen der Lehrer klingen dann weniger begeistert.)
Der Minister wird nicht viel selbst schreiben, allenfalls seinen Namen. Minister lassen schreiben, der Duden steht nicht auf ihrem Schreibtisch, sondern auf dem der Sekretärin.
Was die Pressesprecherin sagt, ist dieselbe trübe Brühe, die seit nunmehr 15 Jahren aus den Kultusministerien auf die Bürger heruntertröpfelt.
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Kommentar von MG, verfaßt am 22.08.2011 um 23.06 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8693
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Zum Selbernachlesen:
www.torgauerzeitung.com/Default.aspx?t=NewsDetailModus(58915)
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Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 23.08.2011 um 13.44 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8694
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Noch ein Satz aus diesem Artikel:
"Für Korrekturleserin Brigitte Herzog hingegen bedeutete die erste Reform der deutschen Rechtschreibung nicht nur eine plötzliche Umstellung, sondern war auch mit viel Arbeit verbunden."
Von dem Argument, die Reform verursache viel Arbeit, halte ich nichts. Für etwas Vernünftiges arbeitet man doch gern, das lernt man auch gern, auch wenn es mühevoll ist, weil man eben später davon profitiert. Deshalb sollte man nicht zuerst sagen, daß die Reform Arbeit macht, sondern daß sie nichts taugt. Wer dann immer noch meint, er müsse sogar für diesen Mist viel Arbeit aufwenden, ist selbst schuld oder hat zuwenig Selbstbewußtsein.
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Kommentar von B.Janas, verfaßt am 31.08.2011 um 08.53 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=672#8695
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So mancher Schnitzer, der vor 1996 wohl kaum passiert wäre, findet sich im Wikipedia-Artikel über des Aristoteles Metaphysik:
de.wikipedia.org/wiki/Metaphysik_(Aristoteles)
Auf fällt der mehrmalige Wechsel zwischen "selbständig" und "selbstständig", und bezeichnend ein falsches "das" in der abgeschriebenen Sentenz
"Wir erstreben aber etwas vielmehr, weil wir es für gut halten, als das wir es für gut hielten, weil wir es erstreben."
Zitate (nun ja, aus Übersetzungen) sind ansonsten orthographisch angepaßt.
Ein ähnlicher Gedanke wäre
"Wir tun etwas viel mehr deswegen, weil wir es richtig finden, als daß wir es richtig fänden, weil andere es uns so vorschreiben."
In Bezug auf die deutsche Orthographie, so müssen wir heute ernüchtert konstatieren, gilt dies weithin mit "weniger" statt "mehr".
Vielen ist es, denke ich, bewußt, auf Humbug reingefallen zu sein, aber es zugeben? Lieber abwarten, bis Gras drüber wächst. Einstweilen schreiben, wie es die Software durchläßt – so machen's doch alle.
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